Es ist dies der Herbst der Electronica. Nicht allein in der schieren Menge der Veröffentlichungen, mehr noch metaphorisch: die großen Neuerungen sind bereits passiert, die Ideen ausformuliert und neue Stücke sind von einer ausgereiften, satten Qualität, ob sie nun von jugendlichen Newcomer*innen oder schon seit mehreren Dekaden aktiven Musikern wie Robin Saville und Antony Ryan alias ISAN gemacht werden. Lamenting Machine (Morr), das neunte Album des seit Mitte der neunziger Jahre zusammen produzierenden Duos, wirft ein ziemlich kontrastreiches Schlaglicht auf die erreichten Grenzen und verbliebenen Möglichkeiten des Genres. Wobei ISAN sich eher auf die bereits erreichten Tugenden konzentrieren als Interesse daran zeigen, diese noch einmal zu überdenken. Es geht ihnen um maximal Verfeinerung, um das Einfahren der Ernte. Daran ist nichts Verwerfliches. Die produktionstechnischen Details auszureizen anhand eines etablierten und individuell perfektionierten Sounds hat seinen eigenen, recht erwachsenen Reiz. Innovation oder Experimentierfreude ist von ISAN nicht zu erwarten, stattdessen ein freundschaftliches Wiederhören von Altbekanntem, hie und da leicht einer vorsichtigen Feinjustierung unterzogen. Also warmes Synthesizerpluckern in unaufdringlicher Melodik zu mikroskopischen unbassigen wie unfunkigen Beats. Das ließe sich völlig zurecht als zum Überdruss bekannt und tendenziell öde abqualifizieren, aber ebenso legitim als klassisch und zeitlos. Ich tendiere vorsichtig zu letzterem, denn eine von ISAN hervorgerufene Langeweile hat immer eine besondere Qualität. Und angenehme Langeweile ist ja für sich genommen schon eine rar gewordene Tugend.
Video: ISAN – From A Hundred
In Enfield gerade noch innerhalb des Autobahnrings im Norden Greater Londons sind die Optionen auf behagliche Langeweile offenbar deutlich begrenzter. Noch dazu wenn man jung, Schwarz, Frau, queer und in einem Musikerhaushalt aufwächst wie Loraine James. Ihr sensationelles Debüt For You And I (Hyperdub) bedient sich durchaus der Formsprache von Electronica und IDM mit einer poppig warmen Techno-Produktion, verwildert diese allerdings mit London Styles von Grime, Dubstep, Drill bis UK-Garage, dem Soundtrack der von brutalistischen Hochhäusern geprägten Londoner Innenstadt-Hood, in der James heute lebt. Ihr Blick geht zudem weiter hinaus zu den abstrakten Footwork-/Juke-Beats wie sie etwa Jlin produziert, zu Berliner dekonstruierten Club-Sounds in Rotterdamer Gabber-Warehouses. Zudem kann James mindestens genauso gut luftig zarte Tracks produzieren, mit der Gastsängerin Theo sogar sanft intimen Ambient-R&B. Das hochgradig artistische Kunststück James‘ liegt darin, dass ihre hyperfrische Synthese – in der Langeweile definitiv keine Option ist – zu keinem Zeitpunkt anstrengend oder überfordernd wirkt, sondern immer emotional, human, sinnlich. So klingt zeitgemäße, urbane Electronica.
Stream: Loraine James – Sick 9
Die Düsseldorf-Kraut-Connection Kreidler war in ihrer ähnlich langen Karriere schon deutlich reiselustiger und neugieriger als ISAN. Vom introvertierten Postrock der frühen Tage über barocke Neoklassik zu motorischem Synthesizer-Krautrock und wieder zurück, war Kreidlers Definition von Electronica von Beginn an weltoffener. Ihre Kraut-Electronica ist auf Flood (Bureau B, VÖ 25. Oktober) konsequent weitergedacht in Richtung subsaharischem Afrika. Mit viel hölzernem Geklöppel und metallischen Gedengel, Flöten und perkussivem Geklapper, machen sie heute eine Art World Electronica, die für ihre Verhältnisse überraschend anmutig und gelassen unverkopft vor sich hin groovt. Der Ex-Franzose Franz Kirmann, der seit zehn Jahren in London das undogmatische Nu-Disco Label Days Of Being Wild betreibt, und ansonsten in den milde avantgardistischen Neoklassik-Ensembles Piano Interrupted und Kirmann + Hodge mitspielt, hat solo eine ähnlich entspannte Haltung zur netten elektronischen Musik mit kleinen Beats entwickelt wie heuer Kreidler. Die Percussion klappert, wenn überhaupt balearisch gelassen im Hintergrund und das Grundgefühl ist eher das von frühem Ambient oder afrikanischer Elektronik. In jedem Fall in multiple Richtungen weit offen. Melodik wird eher angedeutet als ausgespielt, was seinen Stücken eine gewisse innere Spannung verleiht. Sein viertes Album Madrapour (Bytes) ist trotz oder gerade wegen dieser herausgenommenen Freiheiten zur skizzenhaft fragmentarischen Arbeitsweise ein schlüssiges wie vollständiges Album aus dem Mittelpunkt des Electronica Genres. Umgekehrt ist das ebenfalls für Nonlin (Ghostly International, VÖ 25. Oktober) von Steven Hauschildt wahr. Seit Hauschildt vor fünf Jahren seine Industrial/Noise-affine und improvisierend-experimentell arbeitende Neo-Kraut-Synthpop Combo Emeralds auf Eis gelegt hat, produziert er unter seinem Klarnamen Electronica wie sie perfekter und klassischer kaum sein könnte. Hauschildts immer feinst ausgearbeitete Solotracks, die von Electronica aus allerhöchstens mal in eng benachbarte Genres wie Pop Ambient oder IDM überlappen sind gerade in der grundsätzlichen Beschränkung auf ihr (sehr) bekanntes Sound-Idiom „Electronica“ so großartig gelungen. Driftmachine, die beiden Berliner Modularsynthesizer-Virtuosen haben indes auf Driftmachine Plays Marien van Oers (Ongehoord) einen überraschend hakenschlagenden Weg zurück zu ihrer Weilheimer Indie-Electronica Vergangenheit in Bands wie Tied & Tickled Trio oder ISO68 gefunden. Ihr Pfad führt über die Tape-Kompositionen des Marien van Oers, der in den achtziger Jahren als „Het Zweet“ aus der südholländischen Provinz Breda eine eigenwillige Mischform perkussiver Tribal-Klänge aus Industrial und Minimal Music in die damals noch überschaubare Welt der Kassetten-Labels sendete. Driftmachines Neuinterpretation übersetzt van Oers bollernden Lowest-Fi Industrial-Trance in für ihre Verhältnisse erstaunlich handzahme und nahbare Electronica, die die Loop-Musik, den rhythmisierten Noise-Dub van Oers ernst nimmt, aber doch ganz neu und anders rekonstruiert.
Stream: Franz Kirmann – Salem
Wer Electronica in ein etwas moderner anmutendes Outfit kleiden möchte, bedient sich gerne bei Techno und House, bei etwas zupackenderen Beats mit einem vertikalen, weniger mitten-dominanten Sounddesign. So haben die Debütanten der aktuellen Electronica Saison einen deutlich hörbaren Erfahrungshintergrund in Techno und Clubkultur. Zum Beispiel Nikita von Tiraspol aus Leipzig. Sein Tape Was Lucifer More Meautiful Than Adonis (Noorden) begradigt und beschleunigt die eher behäbige Tradition der Electronica mit feinstofflichen Beats, die sich noch sehr gut an vergangene Party-Nächte erinnern können, sie aber nicht verlängern oder neu beginnen wollen. Dazu versetzt Tiraspol sein für ein Debüt extrem ausgearbeiteten, feinherben Tracks mit einer Percussion, die einen gewissen zurückgelehnten Groove zulässt und nicht etwa verhindert, wie es sonst so oft im Genre passiert. Die toll gestaltete, aber leider extrem limitierte Kassetten-Edition dürfte zum Erscheinungszeitpunkt dieser Kolumne bereits weg sein, aber es gibt noch die digitale Auflage, die mit einem kongenialen Remix eines Tin Man Tracks aufwarten kann. Der junge Produzent Adriaan de Roover aus der belgischen Provinz macht als Oaktree feinen Ambient, in den sich schon mal zaghafte Beats und Bässe einschleichen. Auf seinem Klarnamen-Debüt Leaves (LEAF1) rücken die perkussiven Anteile schon mal etwas weiter nach vorne, dominieren aber nie das Klangbild. Ganz im Gegenteil, der Grundcharakter des wunderschönen Albums ist der eines zeitenthobenen Schwebens über herbstliche Synthesizerlandschaften, selbst wenn immer wieder untergründig die Bässe grummeln und ein Schlagzeug hereinholpert. Toh Imago ist kein Neuling im Techno-Business, in der Electronica allerdings durchaus. Als „Gordon Shumway“ ist der Franzose einer der Haus-DJs des Infiné Labels. Auf Nord Noir (Infiné) portraitiert er den Nordosten Frankreichs, die von verschwindender Montanindustrie geprägten, weder urbanen noch ländlichen Mittelstadt-Zonen, in denen es weder Berge noch Meer, weder Wein noch besonders gutes Essen gibt und in denen die überflüssig gewordenen ehemaligen Industriearbeiter seit geraumer Zeit mit gelben Westen auf ihre Misere aufmerksam machen. Das Album ist aber weniger düster als Titel und Thema andeuten. Die leicht angedunkelte und extrem sorgfältig gestaltete Electronica mit verstolpert geraden Beats, die sich sogar kurzzeitig zu bollerndem Warehouse-Techno verdichten bleibt immer auf der Seite der Schönheit, in einer herbstlich vernebelten Melancholie. Dass “Leisure System” Betreiber und Panorama Bar Resident Sam Barker für sein Debütalbum Utility (Ostgut Ton) ebenfalls den Weg der modernen Electronica gehen würde, war schon etwas leichter abzusehen nach den vorbereitenden Mixen und einer EP, die weitgehend auf unmittelbare Clubfunktionalität verzichteten. Dass das Ergebnis dann aber derart emotional überzeugend und zartschmelzend ausfallen würde ist dann doch mehr als erfreulich.
Video: Tin Man — Evaporated Acid (Nikita’s Early Bird Remix)
Eine andere Richtung in die Electronica ebenso gerne ausbrechen darf, sind Pop und Folk. Der Japaner Ryota Miyake hat sich die höchst ehrenvolle Aufgabe zugedacht wundervoll üppige, melodiesatte Electronica mit dem „Non-Standard“ Synthpop des Yellow Magic Orchestra zu versöhnen und mit einer gehörigen Portion Achtziger-Nostalgie in die heutige Zeit zu transformieren. In seiner Band Crystal findet das eher als rhythmusgetriebener Electro-Pop mit Vintage-Synthesizer Flair Niederschlag. Solo als Sparrows sind die musikalischen Kanten noch weicher. Der YMO-Gedächtnis-Pop von Berries (Flau) versinkt in flauschweichen Synthesizerwölkchen, die aber immer einen Twist ins Pychedelische mitbekommen haben, die immer seltsam genug sind, um mehr zu transportieren als nur Nostalgie für ein Japan, das einmal eine goldene Zukunft hatte, die nie kommen wollte. Das macht die Stücke Sparrows bei aller verspielten Lebensfreude tief melancholisch. Das Solodebüt Sergeï (Crybaby/Infiné, VÖ 4. Oktober) von Lucie Antunes, die ansonsten bei den Pariser Psychedelia-Poppern Moodoïd am Schlagzeug sitzt, hat einen ganz ähnlichen Effekt auf Körper und Geist. Auch bei ihr könnten es durchaus YMO gewesen sein, die ihre warmen Analogsynthesizer-Electronica inspirierten, spezifisch der doppelt verfremdende Blick von YMO auf den French-Pop der Sechziger, den sie wiederum in die elektroakustische Jetztzeit ihrer zahlreichen anderen, stilistisch kaum einhegbaren Projekte transformiert. Gemeinsam ist den Stücken die melodische Fülle (ungewöhnlich für eine klassisch ausgebildete Perkussionistin) und die flauschige Wärme, die die kaum wahrnehmbaren, aber unzweifelhaft vorhandenen Unterströme psychedelischer Weirdness ihrer Stücke genießbar macht.
Stream: Sparrows – The Star Tours
Die Brooklynerin Kathleen Baird ist eine versierte Improv-Gitarristin und Vokalistin mit einem soliden Hintergrund in Free Improv und Folk-Picking. Respire (RVNG Intl., VÖ 25. Oktober), ihr zweites Soloalbum als Ka Baird, fällt zu keiner Zeit hinter diesen Erfahrungshorizont zurück und ist doch überraschend zutraulich und leicht verständlich. Ein hochexperimenteller Avantgarde-Electronica-Pop aus zerhackter, prozessierter Stimme, avancierter Elektronik und Flöten, von schamanistischen Tranceklängen ebenso informiert wie von Free Jazz und Folk-Americana. Eine ziemlich geniale und genießbare Mischpoke. Beim Tel Aviver Label Malka Tuti hat man sich auf so etwas spezialisiert. Seltsam tollere Pop- und Tanzmusik kommt zur Zeit von keinem anderen Label in so konstant überraschender Qualität. Nach dem ungeahnten Debüt der Düsseldorfer Avantgarde-Legende Hielo (siehe Motherboard vom April) kam nun ebenso ungeahnt NOW (Malka Tuti), das nicht weniger eigenwillige Urban-Techno-R&B Debüt der beiden Hamburgerinnen Sophia Kennedy und Helena Ratka alias Shari Vari.
Video: Shari Vari – Dance Alone
Folk? Pop? Digital? Akustisch? Alles zusammen und nichts davon macht das kanadische Duo ANAMAI aus der Tänzerin, Choreografin und Sängerin Anna Mayberry und dem Produzenten David Psutka der ansonsten als Egyptrixx düsterharten Techno produziert. Ihr drittes gemeinsames Album Dream Baby (Halocline Trance, VÖ 25. Oktober) klingt wie eine Verfeinerung des seinerzeit bahnbrechenden „Pop Artficielle“ Projekts von Uwe Schmidt als LB aber ebenso wie eine ganz traditionell eingespieltes Folk-Pop Album. ANAMAI schreiben die Avantgarde mit kleinem „a“. So ist ihnen ein unspektakulär tolles Album gelungen, das seine eigenen Ansprüche an experimentell-fortschrittliche Musikproduktion nicht ausstellt sondern nach Innen transportiert. Sie machen eine Folk-Electronica, die so ziemlich das Gegenteil der handelsüblichen „Folktronica“ sein will.
Stream: ANAMAI – The Holder
Das norwegische Frauenduo Propan arbeitet ausschließlich mit digital bearbeiteten Stimmen. Ihr zweites Album Trending (Sofa) kombiniert die Soundverliebtheit aktueller Post-Club Sounds mit der Spiel- und Ausprobierfreudigkeit von Free Improv, geerdet allerdings in einem (zugegeben immer leicht weirden) Folk Sentiment. Also ebenfalls eine Anti-Folktronica. Wie sich das konkret anhören kann, sei nur an einem Beispiel demonstriert: „Berlin Clubbing“ überlagert eine elefantenfüßige Techno-Bassdrum aus Beatboxing und viel Hall mit wild gepitchten Gesangsspuren, die wie Walgesänge durch den Raum flirren – was tatsächlich die sehr viel späteren Stunden in einem Berliner Warehouse hervorragend emuliert.
Stream: Propan – Berlin Clubbing
Der neoklassisch anmutende Outsider-Pop der Londoner Tears|Ov ist nicht weniger interessant und genialistisch. A Hopeless Place (The Wormhole/The Tapeworm, VÖ 1. November) das als Auftragsarbeit zu/für/mit eine(r) Ausstellung des Fotografen Wolfgang Tillmanns entstand, zieht immense innere Spannung aus der Konfrontation und Amalgamierung extrem unterschiedlicher musikalischer Erfahrungen und Arbeitsweisen, die bei den drei Musikerinnen von einer klassischer Ausbildung am Cello zum Einfach-mal-laufenlassen selbstgebastelter, elektronischer Noise-Gadgets reicht. Die Stücke sind demnach gerichtete Improvisationen mit einer gehörigen Portion Zufall. Was sie spannend und passagenweise richtig genial macht, ist die Interaktion der Musikerinnen, die der Zufälligkeit entgegenarbeiten. Die Pianistin Vanessa Wagner (siehe Motherboard vom Mai) arbeitet dagegen rein aus ihrer klassisch-modernen Ausbildung heraus. Improvisation und Zufall haben bei ihr wenig Platz. In Remixe (Infiné) finden sie allerdings dann doch wieder einen Platz, denn die Bearbeitungen von prozesshaft generativ arbeitenden, elektronischen Musiker*innen wie Suzanne Ciani, Hüma Utku oder Vladislav Delay geben der Regellosigkeit eine Chance und brechen die strenge Werktreue von Wagners Originaleinspielungen auf. Die weiteren Bearbeitungen von Nadia Struiwigh, Marc Mélia und Wolfgang Voigt entsprechen dagegen eher dem üblichen Verständnis von Remixen, vollzogen in ihrer jeweiligen etablierten Musiksprachen. So ist an Voigts Gas Remix vielleicht weniger das erwartbar überwältigende musikalische Ergebnis bemerkenswert, als die Tatsache, das er überhaupt erstmalig einen Remix unter diesem Alias gemacht hat.
Video: Ka Baird – Symanimagenic
Für die in der Schweiz lebende Schottin Iona Fortune ist der Zufall integraler Bestandteil der musikalischen Arbeit. Ihr auf acht Folgen angelegtes Tao of I, dessen Volume 2 (Ecstatic) nun vorliegt, illustriert die Figuren des klassisch chinesischen “Buch der Wandlungen” I-Ging (oder in moderner Schreibweise Yijing), eine spirituell-philosophische Arbeit, die schon den Avantgarde-Komponisten John Cage inspiriert hat. Wo allerdings Cages Ansatz des Auswürfelns der Hexagramme des I-Ging deren musikalisch-inhaltliche Zufälligkeit betonte, bleibt Iona Fortune konkret und tonal. Ihre Stücke paraphrasieren chinesische Kompositions-Klassik und Gamelan mit den Mitteln elektronischer Musikproduktion, Synthesizern und Sequencern, was im Zusammenspiel eine extrem schöne Ambient-Electronica auf einem warmen Drone-Fundament ergibt, dessen esotorische Beiklänge definitiv täuschen. Hier geht es um theologische Klarheit, emotionale Transparenz und moderne Spiritualität ohne Wellness-Kitsch. Der Chinese Guzz, einer der profiliertesten Club-DJs seines Landes, hat einen ähnlich unsentimentalen Zugriff auf die spirituellen musikalischen Traditionen seiner Heimat wie Restasiens. 走不出的梦境 Walking in a Boundless Dream (Guzz) sampelt sich freimütig durch die heimische und fremdländische Klassik und rekonstruiert so eine zeitgenössische wie altehrwürdige panasiatische Musik.
Stream: Iona Fortune – Xiǎo chù 小畜
Ben Babbitt arbeitet hauptberuflich vorwiegend im Hintergrund, als Sessionmusiker, Produzent und Auftragskomponist für Games. Paris Window (Not Not Fun), sein Score zum Filmdebüt der Filmemacherin Amanda Kramer, wirkt allerdings viel experimenteller und weit weniger funktional als es eine Soundtrack-Auftragsarbeit erwarten lässt. Der Experimentalfilm, der mit dem Label Not Not Fun und 100% Silk assoziierten Amanda Kramer, die neben diversen Musikvideos vor fünf Jahren die fiktionalisierte Dokumentation „Silk“ über das Label gedreht hat, lässt diese offene, freie Form aber explizit zu, ja unterstützt sie sogar. So ist das Album nicht nur einer der interessantesten Soundtracks dieses Jahres sondern zugleich ein außergewöhnlich ergebnisoffenes (Dark-)Ambient Album. Eines der schönsten und interessantesten dieser Saison noch dazu. Der epische 24-Minuten Track Tall Rise (-OUS) des Schweizers Feldermelder exploriert ähnlich wenig begangenes klangliches Territorium. Die Flexidisc (!) simuliert den Start eines noch zu bauenden Raumschiffs. Eine stete Bewegung, die doch nicht vom Fleck kommt. Ob das Fahrzeug je das Orbit erreicht bleibt offen. Die Simulation des Versuches dahin zu kommen, ist spannend genug.
Video: Paris Window Teaser
Alessandro Cortini macht Analogsynthesizer-Electronica aus dem Geiste von Indie-Rock und Industrial. Das ist nicht weiter verwunderlich, spielt er doch seit geraumer Zeit bei Nine-Inch Nails, die die Synthese von Industrial, Rock und Electro stadiontauglich gemacht haben. Bisher liefen seine Soloprojekte eher unter dem Radar, waren Spielwiesen meist eher dunkler Blüten von Dark Ambient über Acid-Techno zu Power-Noise. Dann kam 2017 Avanti, das den Modularsynthesizer Sound mit Mainstream Sentiment versöhnte und ein Riesenhit wurde. Volume Massimo (Mute) wirkt da beinahe wie ein Schritt zurück zu den experimentellen Anfängen. Die brodelnd vor sich hin brütenden Instrumentaltracks wirken beim Erstkontakt durchaus abweisend und düster monoton. Aber irgendwann quert dann doch immer eine lässige Arpeggio-Melodie oder eine abgründige Basswalze die Stücke, so dass die Dunkelheit von gleißendem Pathos perfekt dosiert in Fetzen gerissen wird. Cortini hat ein Rezept gefunden das sowohl Underground Ansprüchen genügt, wie Mainstream-Kompatibilität garantiert. Die unaufdringlich perfektionistische Produktion tut ein übriges die Stücke, die mal wie experimentellere Radiohead-Songs ohne Thom Yorke, mal wie pathosreduzierte M83 klingen, ganz nach vorne zu bringen. Das ist nicht unbedingt originell, aber ziemlich unwiderstehlich.
Stream: Alessandro Cortini – Amore Amaro
PYUR, dahinter verbirgt sich die Elektronikerin Sophie Schnell aus München, steht für die großzügige Verschwendung wie rationale Erschaffung mächtiger Emotionen. Sie selbst nennt es sogar noch erhabener einen Psychopompos, in der Antike ein Guide, der verlorene Seelen in die Unterwelt geleitet. PYURs Soundtrack zu diesem Trip Oratorio For The Underworld (Subtext) sampelt sich wissend wie behutsam durch Film- und Seriengeschichte (insbesondere Animes), behält ihre Quellen aber immer derart halbbedeckt und teilverfremdet, dass sich immer gerade nicht erahnen lässt, wo sie herstammen. Es bleibt das diffuse Gefühl diese Klangfetzen schon zig mal gehört zu haben – und noch nie. Das ist exakt das Geheimnis guter Popmusik. So hat Pop schon immer funktioniert. Bei PYUR kommt dazu ein brillantes, dynamisches Sounddesign, das adäquat zwischen notwendigem Schmutz und klärender Glanzpolitur zu vermitteln weiß. Anders ausgedrückt ist „Oratorio For The Underworld“ ein topmoderner Post-Club Hybrid aus Neoklassik, Industrial, Dark Ambient und in einer riesengroßen, schwergängigen Waschmaschine gegen alle R&B/Urban Klischee geschleudertem Bedroom-R&B. Mit seinen über 60 Minuten ist das Album zudem ein Statement wider das Aufmerksamkeitsdefizit, mit dem die mehr-ist-mehr Sounds des Post-Anything Nichtgenres oft zu kämpfen haben. Eine Spannung, die eher für die Dauer eines Klingeltons gebaut ist, über eine solche Albumlänge zu halten ist schon etwas besonderes. Das Produzentenduo YYYY aus Buenos Aires beherrscht diese Kunst mindestens ebenso souverän. Ihr Debütalbum El Tamaño de Mi Silencio (Eerie Records) hält Interesse und Sympathien wach mit der Überlagerung von filmischen Flächen, enigmatischen Samples und disruptiven Sounds, die plötzlich aus der relativen Entspannung hereinbrechen, aber den vorherrschenden Charakter einer gewittrig aufgeladenen Stille nicht brechen. Dass ihre Heavy-Ambient-Electronica dabei vom Schönen zum Erhabenen und wieder zurück oszilliert und für ein Debüt außergewöhnlich erwachsen und durchdacht klingt, kommt noch erschwerend (erleichternd) hinzu.
Stream: PYUR – Flowers and Silver
Es ist gar nicht so einfach, die Euphorie über eine bestimmte neue Platte glaubwürdig machen zu wollen, wenn die Begeisterung so oft ausgelöst wird wie zur Zeit im nicht gerade unterbespielten Genre der Analog/Modularsynthesizerklänge, dessen erneuter Boom nun schon einige Jahre anhält und keine Anzeichen für einen Abschwung aussendet. Ganz im Gegenteil, einige absolute Highlights erschienen erst vor kurzem. Wie zuletzt Kali Malone lotet die italienisch-berliner Künstlerin Andy Mintaka a.k.a. Bodyverse auf Beyond (Lontano Series) die orgeligen Aspekte der Klangsynthese aus. Ihre Spezialität sind dabei täuschend einfache, tief hypnotische flächig-statische Stücke, die von aufschwellendem Glissando, vom einmal quer über die Tasten rutschen oder die Katze darüber laufen lassen, wieder disruptiv gebrochen werden. Nichts daran ist neu, technisch oder formal-musikalisch innovativ. Alles daran ist großartig. Das lässt sich genauso über das Gesamtwerk von Chihei Hatakeyama sagen. Forgotten Hill (Room40) in seiner Diskografie irgendwo zwischen Album Nummer 70 und 80 klingt eigentlich wie immer. Beruhigender und wärmender Ambient-Ambient aus digital zu Flächen verflüssigten Feldaufnahmen und schwer verhallten, verschleiften Gitarrenklängen. Ein Sound, der in Hatakeyamas Backkatalog wie auf abertausenden Netlabel-Ambient Veröffentlichungen ziemlich exakt so zu hören. Es bleibt wohl das unergründliche Geheimnis des Japaners (und nebenbei der kritisch-analytische Offenbarungseid des Rezensenten), warum dieser überbekannte Sound bei ihm immer so speziell klingt, so sehr nach der Repeat-Taste ruft.
Stream: Bodyverse – Allegory
Wie schon im Motherboard Mai 2019 erwähnt ist dies das Jahr der Faith Coloccia. Gegen die verbreiteten Vorstellungen und Vorurteile hat bei der Genres und Grenzen sprengenden Musikerin-Sängerin-Produzentin aus dem ruralen Nordosten der USA die Geburt des ersten Kindes ihre Produktivität und Kreativität keineswegs abgebremst oder eingeschränkt, sondern im Gegenteil, geradezu explodieren lassen. So ist nach einer viel zu knappen EP vor vier Jahren nun endlich ihr langersehntes erstes Soloalbum unter dem Alias Mára erschienen. Here Behold Your Own (SIGE) wurde dem entsprechend so weit schweifend wie konzeptstreng. Klanglich beschränkt sich Coloccia auf wenige Materialien, ihre Stimme im archaischen Wiegenlied-Modus, ein verhalltes Piano und verrauscht-verzerrte Orgelklänge aus Analogsynthesizermodulen. Die einzelnen Elemente spielen aber nie simultan, sondern werden jeweils separat, allerhöchstens von einem Loop-Pedal vervielfacht oder in einem digitalen Schmutzbad gefiltert zu einem Teilstück, aus dem sich dann die beiden epischen LP-Seiten zusammensetzen. Selbst wenn die Arbeitsweise und das tief traurige Klangbild manchmal an Grouper oder Ekin Fil erinnern mögen, ist das Ergebnis bei Coloccia doch absolut unkonventionell und eigenwillig. Anders vielleicht als es nach der eher songhaften „Surfacing“ EP zu erwarten war, aber eben auf grandiose und originelle Weise die Erwartungen unterlaufend. The Brilliant Tabernacle (SIGE, VÖ 1. November), die jüngste Veröffentlichung von Coloccias Duo Mamiffer mit Aaron Turner ist ebenfalls von ihrer Erfahrung der Mutterschaft geprägt. Von den zahlreichen Kollaborationsprojekten Coloccias klingen Mamiffer noch am konventionellsten nach einer psychedelischen Indie-Folkrock Band. Aber einer, der es wichtig ist, als integrale Soundbestandteile dräuende Field Recordings, experimentellen Ambient und seltsames Synthesizerquietschen mit an Bord zu haben.
Stream: Mára – A New Young Birth III
Sowieso scheint akustische oder halbelektronische Ambient-Electronica aus Soft-Psychedelik besonders gut im klassischen Indie-Bandformat zu funktionieren. Das kalifornische Quartett Eucalpytus lässt zum Beispiel die Verganenheit seiner Mitglieder bei den psychedelischen Postrockern Timonium und The Rum Diary vollständig in einem sanften Schwebesound zerfließen, der einzelne Instrumente oder Songstrukturen höchstens noch von fern erahnen lässt. Minoa Linear A (False Industries) erscheint konsequenterweise auf Yair Etzionys Label für experimentellen Ambient. Denn so konsequent wie Eucalyptus haben andere ehemalige Sohoegazer und Postrocker die Zeit und Raum entgrenzenden Aspekte ihrer Musik bislang noch selten zu Ende gedacht. Wenn ein gestandener Singer-Songwriter und Country-Folk Gitarrist auf einen versierten Free Improv Schlagzeuger trifft wie im Fall von Charles Rumback & Ryley Walker kann alles dabei herauskommen, sogar eher konventioneller Instrumental-Postrock wie beim ersten Zusammentreffen der beiden Chicagoer Musiker vor zwei Jahren. Ihr zweites Album Little Common Twist (Thrill Jockey, VÖ 8. November) geht zwar nicht so weit wie Eucalyptus, zerdehnt das Fingerpicking und Percussion-Klappern der beiden Akteure allerdings ähnlich stark in warme Drones. Zerfließende Stücke, in denen die musikalischen Inspirationsquellen Country, Folk und Free Jazz zwar noch identifizierbar sind, aber in ihrer traditionellen Struktur aufgebrochen und zum Schweben in die Horizontale gebracht.
Stream: Eucalyptus – Aegea
Die viel gehypte und in der Praxis doch oft so enttäuschende Idee der künstlichen Intelligenz (KI) hat mittlerweile wenig verwunderlich die Musikproduktion erreicht. Holly Herndon, die schon seit geraumer Zeit mit computergenerierten, musikalischen Entscheidungen experimentiert, hat dies mit Proto (4AD) auf die Spitze getrieben. Als Fortführung und Erweiterung ihrer Doktorarbeit am Zentrum für Computermusik in Stanford hat sie zusammen mit Partner Mathew Dryhurst eine KI namens Spawn mit speziell dafür eingespieltem Soundmaterial eines Berliner Chors trainiert, um mit/aus neuem Input wiederum neues eigenes Chor-Material zu erzeugen. Es ist allerdings nie klar zu erkennen, wie die KI tatsächlich in den musikalischen Prozess eingreift. Die so entstandenen Stücke klingen wie von Herndon gewohnt nach zerhacktem R&B und scharf gelooptem Mainstream-Pop mit digitalen Glitches. Wichtigstes Instrument bleibt dennoch die noch als solche erkennbare menschliche Stimme, wie fraktalisiert und verfremdet sie auch daherkommt. Diese Spuren von Humanität in der Maschinenkunst machen „Proto“ zu toller Popmusik. Herndon ist also wie gewohnt schon weiter als ihre Peers in Berlin und anderswo. Keine „dekonstruierte“ Club-Musik sondern synthetisch rekonstruierter menschlicher Maschinen-Pop. Die Inspections II von Florian Hecker (Editions Mego) sind da schon wesentlich maschinennäher und vor allem strenger im Ergebnis (wenn nicht in der Konzeption). Auch Hecker verwendet Stimmen, meist Sprechstimmen und unterzieht sie einer komplexen algorithmischen Prozedur, die das menschliche Hören computationell nachbaut. Da das menschliche Hören genauso viel mit Kognition und dem Ausblenden von Information zu tun hat, wie mit der tatsächlichen Signalverarbeitung, ist das Ergebnis äußerst komplex und kompliziert, wirkt dabei aber ziemlich beliebig. Eine interessant gemachte aber im Höreffekt eher uninteressante Collage von Geräuschen, Stimm- und Musikfragmenten. Emptyset hängen den Früchtekorb etwas tiefer. Ihr Album Blossoms (Thrill Jockey) nutzt die Idee des „Machine Learning“, also einer lokal anwendungsspezifischen Abbildung ihrer Art Musik zu produzieren auf bestimmte Algorithmen. Praktisch läuft das dann ungefähr so ab, dass die Algorithmen mit typischen Emptyset -Trackstrukturen und Sounds angefüttert werden und das so generierte Set von algorithmischen Soundparametern dann mit unbekannten Sounds konfrontiert wird und geschaut wird, was dabei herauskommt. Die finale Auswahl dessen, was einer Veröffentlichung würdig ist, liegt dann letztlich wieder bei den Menschen. Ästhetik und Persönlichkeit lassen sich eben nicht so einfach austricksen, sie kommen immer wieder mit fast unheimlicher Wucht in die digital generierten Stücke zurück. „Proto“ klingt eben nach Herndon und „Blossoms“ nach Emptyset. Also doch wieder ein Fall „kompliziert hergestellte einfache Musik“ wie es Jan Werner und F. X. Randomiz vor Jahren mal nannten? Oder „Amazing Grace“ auf einer leiernden Bandmaschine rückwärts abgespielt? Solange die Ästhetik noch so deutlich über die mediale Herstellungsweise triumphiert ist, das (fast) egal.
Video: Holly Herndon – Eternal
Zur Laufnummer STUMM433 (Mute) hat es Mute mal richtig krachen lassen (aber ganz leise) – mit Interpretationen von John Cages Avantgarde Schocker 4‘33‘‘. Achtundfünfzig mal vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden nicht gespielte Musik, Fermate, Pause. Von The Normal, dem speziell für dieses Album wiedererweckten kurzlebigen Postpunk Projekt von Labelgründer Daniel Miller, bis zum Abstrakt-R&B Jungstar K Á R Y N N, von den Stadionelektrikern Depeche Mode bis zur japanischen Avantgarde-Ikone Phew, von Goldfrapp bis zum Porzellankünstler und Autor Edmund de Waal haben sich praktisch alle Beteiligten aus über vierzig Jahren Labelgeschichte an Cages Vorgabe gehalten, im angegeben Zeitrahmen nichts zu machen außer den Rekorder mitlaufen zu lassen. Praktisch sind das Field Recordings der jeweiligen Aufnahmesituation, draußen an der Straße, oder drinnen im Studio, vor Publikum oder in isolierten Räumen. Also runtergedimmte Umgebungsgeräusche oder hochmikrofonierte Stille. Deep Listening und schweres Atmen. Toll das so etwas auf einem Mainstream-Label wie Mute passieren kann. Die kanadischen Soundart Newcomer Jonathan Scherk & Daniel Majer machen auf It’s Counterpart (Faitiche) etwas mehr tatsächliche intendierte Musik. Der Gesamteindruck ihrer subtil collagierten Sample-Schnipsel und Feldaufnahmen ist aber nicht unähnlich der komplett zufälligen 4‘33‘‘ Klangwelt. Beinahe-Ambient Tracks aus Beinahe-Melodien und Beinahe-Rhythmen in unrunden Loops. Eine Hommage an die klassische Moderne der Musique Concrete, aber genauso außergewöhnlicher Sampling-Pop, wie er zur Zeit zum Beispiel von den Japanern Meiti oder Yoshimi betrieben wird. Der österreichische Sound Artist Stefan Fraunberger fokussiert sich, ganz weltlich, ganz materialistisch auf das was an,neben und um die eigentliche Klangerzeugung sonst noch so passiert. Für Quellgeister#3 Bussd (Morphine Records, VÖ 21. Oktober) den dritten Teil seiner hochkonzeptuellen „Quellgeister“ Reihe in denen er der elektroakustischen Präsenz liminal-unterschwelliger Geräusche nachgeht und ihre Funktion in Musik untersucht, hat er den Sound der Orgel in einer verlassenen Kirche im transsylvanischen Örtchen Bussd in seine Einzelteile zerlegt. Was ihn dabei interessiert, sind die Fehler, die Nebengeräusche, das Fauchen defekter Ventile, das klappern und dröhnen der Luftleitungen, arrangiert zu einem hochinteressanten Soundscape.
Stream: Jonathan Scherk: Get a Little s / Daniel Majer: She Barely Spoke (excerpt)
Als On-Off Mitglied von Raime agiert Valentina Magaletti überaus nüchtern und aufgeräumt. Im Duo mit Tom Relleen lebt sie dann eher ihre abenteuerlustige Seite aus. Der Sound von Tomaga kommt zwar ebenso düster-trocken und minimal-luftig daher wie der von Raime, den reichlich vorhandenen Leerraum füllen Tomaga allerdings mit allerlei transgressiven Sounds aus den vergangenen fünfzig Jahren Klangexperiment, von metallischem Industrial-Hämmern und klappernder Tribal-Percussion mit Kraut-Motorik und Dub-Abstraktion zum Post-Club – immer dunkel und kalt, immer minimal. Wie es klingt wenn Tomaga auf einen alten Neutöner wie Pierre Bastien treffen? Ziemlich genauso wie man es sich vorstellt: eine spannende Kombination aus alter Avantgarde und neuen Beatabstraktionen. Gemeinsame Basis ist wohl so spätsiebziger Industrial-Tribal, etwa von Coil oder Muslimgauze. Topfschlagende Rhythmen mit maßvoll atonalen, nur ganz leicht neben der Tonspur liegende Sounds, die in einem unbeobachteten Moment der späten fünfziger Jahre dem Klanglaboratorium Karlheinz Stockhausens entflohen sein könnten. Das hat bei allem gebotenen Stirnrunzel-Ernst erstaunlichen musikalischen Humor. Tomaga und Pierre Bastien machen auf Bandiera Di Carta (Other People) mit Neuer Musik und Industrial was Helge Schneider mit Jazz macht. Matthew Gallagher aus der US-amerikanischen Provinzmetropole Cleveland kann das ebenfalls ziemlich gut. Sein aktuelles Soloprojekt Machine Listener zieht überraschende, abwegige wie unerwartet komische Sounds aus diversen elektrischen und nichtelektrischen Maschinen und legt sie in Loops, aus denen sie aber immer wieder ausbrechen. Die konzentrierte Weirdness von Colubrid (Hausu Mountain) betreibt Freistil ohne Bierernst. Was durchaus eine Spezialität des Brooklyner Labels Hausu Mountain sein dürfte. Bonnie Baxter, Sängerin der Noise-Electro-Hardcoreler Kill Alters und Techno-Pop Chanteuse ShadowBox erzeugt unter ihrem bürgerlichen Namen die denkbar unbürgerlichsten Klänge. Auf dem Tape AXIS (Hausu Mountian, VÖ 11. Oktober) ist es abermals ihre hoch- und runtergpitchte gezerrte oder gehackte Stimme, die aus einigermaßen seltsamen Electro-Pop-Punk Tracks richtig seltsame Weirdo-Elektronik mit Attitüde macht. Das macht übrigens richtig viel Spaß.
Stream: Tomaga & Pierre Bastien – Bandiera Di Carta
Die jugendlichen Australier von U-Bahn hybridisieren die alte Schule des Freistil. Auf ihrem Debüt U-Bahn (Future Folklore/Melodic) zitieren sie sich munter durch die US-amerikanische Post-Punk Geschichte von Devo bis SST. Artwork und generelle Ästhetik sind ebenfalls den globalen Spätsiebzigern entlehnt, allerdings eher der Ratinger Hof-CBGBs Achse als dem Hardcore von L.A. Inhaltlich sind U-Bahn dagegen ganz neuzeitlich Post-Gender, von toxischer Maskulinität und queerer Empathie informiert. Eine Mischung, die sehr gut funktioniert. Der altgediente Deep House DJ Thomas Bullock alias Tom of England (nach dem Illustrator der schwulen Emanzipation und Sichtbarkeit Tom of Finland) fand die Inspiration für Sex Monk Blues (L.I.E.S) im New York der frühen achtziger Jahre, in einer Zeit, in der Experimente musikalischer Art mit neuen queeren Lebensentwürfen eine einzigartige Verbindung eingehen konnten, exemplarisch am Beispiel von Arthur Russell. Neben der Vergangenheit der Stadt, in der Bullock seit Mitte der Neunziger Jahre lebt hat die hybride Gegenwart seine nostalgiefreien Tracks geprägt. Electropop, Outsider-House und Techno finden hier in zeitgemäßer Form zueinander. Was hier rückblickend wirkt, dient nur der Wiedergewinnung einer verloren geglaubten Freiheit.
Video: U-Bahn – Beta Boyz
Das komplett Abseitige und schwer unheimlich Seltsame so in Loops und Rhythmen zu verquicken, dass etwas total verblüffendes, fremdes und doch angenehm hörbares wie hypnotisch Tanzbares dabei herauskommt, bedarf immenser Kunstfertigkeit. Sam Shackleton hat sich in dieser Disziplin eine eigene Klasse erspielt. Mit dem straighten Dubstep seiner britischen Anfänge hat das Oeuvre Shackletons nur noch sehr indirekt zu tun. Seit er in Berlin lebt hat er sich konsequent musikalisch verseltsamt, was selbstredend eine gute Sache ist. Shackletons neustes Projekt Tunes of Negation wirkt da schon beinahe (aber wirklich nur beinahe) konventionell. Als Bandprojekt angelegt und mit Gästen wie der amerikanisch-schottischen Avantgarde-Sängerin Heather Leigh scheint Reach The Endless Sea (Cosmo Rhythmatic, VÖ 17. Oktober) nach einem Zitat des persischen Poeten Rumi, Shackeltons Aneignung und Mutation religiös-mystischer Tranceklänge zwischen Drone und Tribal zu sein. In einem hypermodernen, urbanen Setting allerdings. Und in einer Stimmung der permanenten Umsturzes, Evolution und Wiederentdeckung. Und doch, soviel Ambient, soviel Seelenfrieden und Gemütsruhe gab es bei Shackleton bisher noch nicht.
Stream: Tunes of Negation – Nowhere Ending Sky
Der dänische Klangkünstler Jacob Kirkegaard wurde mit erzählend arrangierten Feldaufnahmen weit über sein “Deep Listening” Community hinaus einem aufgeschlossenen Indie-Elektronik und Kunstpublikum bekannt. Das lag nicht nur an der cleveren Wahl still-spektakulärer Sujets, wie isländischer Geysire und Quellen oder von leeren, allein von Radioaktivität durchwirkten Räumen in Tschernobyl, wie seine jüngeren, nicht unbedingt weniger populären Arbeiten an akusmatischen Fragestellen wie der Otoakustik nahelegen. Dabei geht es um Töne, die via Resonanz erst im Ohr entstehen und einen erstaunlichen oft geisterhaft desorientierenden Effekt haben können. In der Kollaboration mit dem jungen und ebenfalls dänischen Avantgarde-Ensemble We Like We setzt Kirkegaard seine elektroakustischen Versuchsanordnungen in den Kontext neoklassisch arrangierter Streicher, Glocken, Klangschalen und Gongs. Was Time is Local (Sonic Pieces) gleichzeitig archaisch wie hypermodern klingen lässt und perfekt die inhaltlichen Anleihen aus der griechischen Mythologie illustriert. Ein faszinierendes Kunststück, das leicht hätte schiefgehen können, wären We Like We nicht so versierte, mit allen Spielweisen der Klangforschung vertraute Musikerinnen und hätte Kirkegaard trotz aller konzeptueller Strenge nicht ein Ohr für Pop-Arrangements. So entstand ein Album das subtile Klangkunst und erzählenden Ambient freundschaftlich versöhnt.
Video: We Like We & Jacob Kirkegaard – Clotho