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Die Platten der Woche mit Berk Offset, Holy Garage, Introspekt, Oma Totem und TM Solver

Berk Offset – Intraface EP (Accidental Jnr)

Preisfrage: Was macht ein kreativer Mensch NICHT, der als Produzent auf Labeln wie Snork Enterprises und Musik Krause veröffentlicht hat und sich auch mal Rainer Maria Silke nennt? Genau, Mainstream! Sondern sehr eigenes Zeug zwischen vielen Stühlen, eher in Nischen und gerne mit Humor.

Auf Berk Offsets Intraface EP dominieren haushohe Kickdrums, gepaart mit stolpernden, fetten Basslines, meckerndem Geklöppel, Synth-Bleep-Schluckauf und rückwärts quietschenden Türangeln. Und nichts davon nervt oder wirkt gewollt, alles fließt völlig selbstverständlich und irgendwie freundlich. Wenn dann noch ein Track, in dem der Bass gegen gewehrartige Stakkatos kämpft, „Befreiung45” heißt und des Sieges über die Nazis gedenkt, ist das Glücksgefühl endgültig nicht mehr zu toppen. Und ja: dabei kommt äußerst tanzbare Musik heraus, der die Macher:innen von Accidental Jnr völlig zu Recht eine „inspirierte Andersartigkeit” zuschreiben. Bass gewinnt! Mathias Schaffhäuser

Berk Offset – Intraface EP (Accidental Jnr)

Holy Garage – Surprise (Running Back Double Copy)

Einst Instant-Tech-House-Hit mit Novelty-Charme, heute Klassiker mit doppeltem Nostalgie-Flair: Mit „Surprise” eröffneten Jörn Elling Wuttke und Roman Flügel sich 1995 als Holy Garage eine neue (Deep-House-)Perspektive jenseits ihrer (insgesamt technolastigeren) Acid-Jesus– und Alter-Ego-Produktionen. Um ein kreativ geschnittenes Loop, das sich der Lyrics des im noch relativ jungen Genre House bereits vielfach (u.a. recht prominent von Todd Terry in „Can You Party” von Royal House, seinem Jungle-Brothers-„I’ll House You”-Mix und „Jazz Anthem”) zitierten First-Choice-Disco-Standards „Let No Man Put Asunder” bedient, flechten Wuttke und Flügel einen voluminös-seriös swingenden Track. Gleichzeitig markierte die Single-Sided-Pressung mit der Katalognummer 001 auch den Start des Labels Playhouse. In den ein Jahr später von Eye Q ins Spiel gebrachten LoSoul- und Isolée-Remixen avancierte „Surprise” zum Sammlerstück.

Peter Kremeier gab seiner epischen Neun-Minuten-Version einen düster glimmenden Anstrich, brachte eine Detroit-House-Unwucht in den Groove ein und schickte die Vocals auf eine Reise durch verschiedene Filter-Höllen-Passagen – mit nahezu zeitlosem Ergebnis. Ebenso gut gealtert ist der entspanntere Isolée-Remix: Von einem federnden, verstimmten Nu-Groove-Subbass getragen, zieht Rajko Müller eine weitere Subtext-Ebene ein und lässt als Dialogpartner zum entschlackten Original ein durch Torsionen, Stauchungen und Schnitte manipuliertes Sample von Ray Manzareks Keyboard-Harmonien und Licks zu „Riders on the Strom” mitlaufen – fast schon Fidget-House (avant la lettre). Proto-Acid-Trance regiert im „Holy Bassline Mix”, ein „Vibrafon”-„Solo” hübscht den „Fake Jazz Mix” auf. Das Doppel-12-Inch-Reissue-Paket von Running Back Double Copy fasst erstmals das Original mit allen Bearbeitungen zusammen. Harry Schmidt

Introspekt – Temptation (T4T LUV NRG)

Die neueste EP auf T4T LUV NRG, dem Label von Octa Octa und Eris Drew, kommt aus Los Angeles. Oder, um konkreter zu werden, von DJ und Produzentin Introspekt. Die ist, nach einigen Veröffentlichungen auf Labels wie Shall Not Fade oder Gimme A Break, natürlich kein unbeschriebenes Blatt mehr. Vielmehr bekannt für ihren modernen Twist von UK-Garage-Styles, von 2Step bis Speed Garage, was sich auch auf diesen vier supertighten, von swingenden Hi-Hats und subsonischen Basslines angetriebenen Tunes zeigt.

Stilistisch geht’s hier mehr in Richtung Speed Garage – will heißen: Four-To-The-Floor ist Trumpf. Gleichzeitig nimmt die Produzentin auch Bezug auf den ursprünglichen Mittneunziger-Garage-House-Sound aus New York und New Jersey, indem sie etwa Tronco Traxx’ „Walk 4 Me” oder Hardrives „Deep Inside”, zwei absolute Klassiker, zitiert. Heraus kommen so vier Stücke, an denen sich wohl keiner auf dem Dancefloor vorbeischleichen können wird. Tim Lorenz

Oma Totem – Exercicis Rítmics (Hivern Discs)

Organisch klingende Percussion trifft zu Beginn des Openers dieser EP auf an Kraftwerk erinnernde Synthies, ein luftiges Arrangement und wiederkehrende Auflösungen in treibenden 4-To-The-Floor-Passagen mit smartem Trance-Appeal. Das könnte ewig so weitergehen, die fünf Minuten des Songs vergehen unfassbar flott.

Aber es folgen ja noch vier weitere Stücke, die alle einem ähnlichen Struktur- und Soundprinzip folgen, ohne dabei repetitiv zu werden. Die Variationen sind – wie der Gesamtsound der ganzen EP –, unaufgeregt und wohldosiert. Oma Totem gelingt das seltene Kunststück, Mitreißendes ohne erhöhte Energieanstrengung, ohne Steigerungszwang oder gar Breakdown-Theater zu erschaffen. Eine weitere erstklassige Verbindung von Percussions mit Hauptrollenstatus und elektronischer Dance Music auf John Talabots Hivern Discs nach dem kürzlich erschienenen, famosen Album von Mioclono. Mathias Schaffhäuser

TM Solver – Subtraktiv Additiv (R.i.O.)

Beim Trance-Revival ist kein Ende in Sicht, da kann es zwischendurch nicht schaden, sich auf die Vorgeschichte des Ganzen zu besinnen. In Berlin wäre da die Berliner Schule mit ihrer kosmischen Tradition, allen voran Tangerine Dream und Klaus Schulze, als eine der historischen Hauptattraktionen.

Auch der Produzent Thomas Meier alias TM Solver sieht sich den weltraumgreifenden Sequencer-Epen dieser elektronischen Spielart verpflichtet. Wie der Titel seiner aktuellen Platte, Subtraktiv Additiv, andeutet, ist er kein Vertreter der reinen Lehre, der historisch informiert im Sinne der Siebziger bloß auf analogen Synthesizern spielen würde; stattdessen lässt er wohl auch digitale Klänge zu. Seine Sache mit den kontrolliert ausufernd-wabernden Schwebungen macht er übrigens gut.

So gut, dass sich gleich fünf Produzenten seiner Originale als Remixer angenommen haben. Benedikt Frey und Mayo knüpfen trippig-tribalistisch an den Trance-Sound der Neunziger an, ohne ihn einfach zu kopieren. O-Wells nähert sich der Sache im Sinne von IDM beherzt verspielt, und Red Axes überführen die Angelegenheit in ihr ganz eigenes, krautverwuchertes Postpunk-House-Idiom, dessen rumpelnder Groove seinesgleichen sucht. Mit Sunju Hargun kommt zum Ausklang galaktisch ausgeruhter Ambient hinzu. Damit lässt sich das Universum locker wieder ins Gleichgewicht bringen. Tim Caspar Boehme

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