Die Ausstellung No Photos on the Dancefloor!, die im C/O Berlin bis zum 30. November zu sehen ist, versucht einen Einblick in Berliner Clubszene zu geben ohne eine voyeuristische Schaulust zu bedienen. Zur Eröffnung brachten wir ein Interview mit dem Co-Kurator Heiko Hoffmann, in diesem Beitrag stellt Mike Riemel Flyer aus verschiedenen Phasen des Berliner Nachtlebens vor, die in der Ausstellung zu sehen sind. 

Mike Riemel besitzt wahrscheinlich die größte Flyersammlung der Welt. Seit den 1990er-Jahren lebt er in Berlin und versucht bis heute sämtliche Flyer der Stadt in die Finger zu kriegen. Überregional und international bekannt wurde er durch seine über viele Jahre aktive Wanderausstellung, mit der er zwölf Länder bereiste und durch sein Standardwerk „Flyer Soziotope“. Über die Ausstellung lernte er andere Flyersammler*innen kennen, die ihm zum Teil ihre Sammlungen übergaben. So sind mittlerweile mehr als 300 Sammlungen aus der ganzen Welt in seinem Archiv aufgegangen. Sogar das Museum of Modern Art in New York erwog, Teile der Sammlung zu kaufen.

Dabei ist Riemel nicht nur Sammler, sondern auch Theoretiker des Flyers: „Heute sind Flyer fast vollständig ersetzt worden durch digitale Bilder und Videoclips”, erklärt er: „Sie füllen die Profilseiten der Veranstaltungen in Facebook, Instagram und Co.. Es wird getaggt und geklickt. Handgemachte Objekte sind in Berlin so gut wie ausgestorben, genauso wie die unkommerziellen Projekträume. Die überlebenden Clubs sind professionell gemanagte Konsumtempel mit Stempeln aller Ämter. Vorbei das Experiment, der Fluxus und die Improvisation mit viel Liebe. Heute dominiert dagegen der Pragmatismus.”

Sensor (1995)

Ich war erst ab 1996 in Berlin unterwegs.  Auf einem kurzen Trip ´93 landete ich im Bunker, im Tacheles und im E-Werk. Der Sensor war vor meiner Zeit. Diesen Space habe ich aber extrem detailverliebt geschildert bekommen und konnte ihn durch die Bekanntschaft mit dessen Macher Penko und seiner Crew (u.a. Monolake, Rashad Becker von Dubplates & Mastering etc.) sehr gut nachempfinden: Eine alte kleine Fabrik (Kekse?) und auf 3 Ebenen Installationen aus Licht, Sound und Objekten. Eine der Akademien des Ambient- und Dubtechno, wo mit minimalen Mitteln und Objects Trouves eine retro-futuristische Erlebniswelt geschaffen wurde, die nicht auf kommerzielle Effizienz und Konsum getrimmt war. One of my biggest misses. Tolle Flyerkultur, die oft mit metallischen Materialien gearbeitet hat. Medienkunst – ganz klar!

Sexyland (1996)

Eigentlich unglaublich. Sechs Monate gab es diesen Ort in einem Klo unter der Tramhaltestelle Rosenthaler Platz in Mitte. Meines Wissens der einzige Ort, wo es durchgezogen wurde, eine Woche 24/7 aufzulegen. Dafür waren V-Records mit TokTok und Freunden verantwortlich. Elektrosound der krassesten Art und eine Realitätsverschiebung die ihresgleichen suchte. Nur 10 Stufen weiter oben pulsierte das normale Leben. Und je nach Dauer des Aufenthalts war ein Gehen fast unmöglich oder unzumutbar. 

St. Kilda (1997)

Als ich ´97 nach Berlin zog, war das eine Entdeckung. In einem Schuppen, durch dessen Bretter bei Sonnenaufgang das Licht reinkam, brannte buchstäblich die Hütte. Im Hof wurde gegrillt. Booty Techno war für mich noch ziemlich neu. Ghettofeeling im Mauerpark. Sehr cooler Laden den Dominik (heute der Gastronom im Haus der Kulturen der Welt) da hatte. Und das ist einer meiner Lieblingsflyer. Ob das Muster etwas von LSD-Trips hat, müsst ihr selber entscheiden.

Spacebar (1999)

Miniflyer, wundervoll! Laminiert, kleiner als ein BVG-Ticket, aber oft mit weitreichenden Folgen. Tanzen und quasi ein Ritual der Bewusstseinserweiterung. Die Drinks der Spacebar, feinste Kräuterzigaretten und psychedelisches Licht und Sound haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Eindeutige Wurzeln in der Goagemeinde aber wesentlich vielfältiger. Tolles Licht und eine treue Gemeinde. Mit die besten Parties der Stadt.

103 (1998)

Mehr Reduktion geht nicht. Nur noch die Hausnummer. Das ist schon fast unverschämt. Kein Line-up. Kein Datum – Nüscht. Aber!: ein klarer Place to be. Wo man sich kannte, die an der Bar, die am Licht … ein Stück Heimat in der Fremde Berlin. Etwas elitär und for those who know.

Tresor 1999

8 Jahre! Tresor never sleeps! Darüber wurde genug geschrieben. Nach dem Eintritt durch die Tresortüre im Keller war alles klar. Schweineheiß und laut! Der einzige Ort wo der Chill Out Room etwa 5°Celsius hatte und notwendig war, wenn man länger als 10 Minuten tanzen wollte. Dampfende Raver im Kühlraum! Und dann weiter solange die Füße tragen. Und das wollte man! Der Globus mit seinem geilen Holzboden inklusive fettem, warmen Sound. Die Tuna Bar neben dem Klo mit eigenen DJs, die z.T. wahnwitziges Zeug spielten, der Tuna Park (Garten) wo man ganz romantisch wie in einem Grossstadtdschungel unter Büschen und Bäumchen kuscheln konnte (wenn nicht grad Sven Väth gespielt hat). Hier damals mit einer Flyerausstellung dabei gewesen zu sein, stimmt mich immer noch heiter. Sehr heiter!

WMF (2001)

Das WMF in der Ziegelstraße – was für ein Laden! Beamer und Monitore rund um den Mainfloor, 270 Grad Hinterwand Projektionen, mächtiges Soundsystem, eine Lounge mit Installationen und einer Bar aus dem Palast der Republik. Ein Booking vom Allerfeinsten mit den großen aus USA, UK, Wien, Frankfurt und München. Cutting Edge VJing von Visomat Inc. und der Pfadfinderei. Das Medienlabor Bootlab direkt nebenan. Daniel Pflumm’s Flyerbeiträge rundeten das Bild ab: da wollte man sein, als kluges Feierschweinchen unter anderen. Pflumm designte auch Website und hauseigenes Label. Er war ein spröder Hausbesetzer, Medienkünstler und Papa des damals schon geschlossenen Elektro’s. Ein Meister der Reduktion. Mit jedem Umzug ein Weiter!

Cookies (2001)

In den mittleren 90er Jahren sagte man ja, man kann jeden Tag egal zu welcher Uhrzeit und welches Genre feiern gehen. Das Cookies war immer die Lösung der Ausgehfrage für Dienstag und Donnerstag Nacht. Feister Housesound, nobele angerockte Location, Unisex Klos, schickes und feierwütiges Publikum, ‘nur für Freunde’. Watermelon Man und alles gut.

Maria am Ostbahnhof (2001)

Immer wieder neue Überraschungen beim Booking und eine Location, die Umnutzung atmete. Eine alte Post in einem relativ modernen DDR Gebäude mit goldenen Fenstern und schickem Portal. Ein toller Club mit einer Vielfalt an Underground Musik und entsprechend breit gefächertem interessanten Publikum, vom Punk bis zum Raver, wie es das Heute nicht mehr gibt. Tolle Flyer, tolle Leute! Simple as that!

Rio (2005)

Klein, minimalistisch und mit einem subtilen Versprechen: wenn du rein kommst, wird sich dein Raumgefühl deutlich verändern. Knackevoll und deutlich der Ort, wo die Mitte sich von ihrer hedonistischten Seite zeigte. Ein Teil Fegefeuer der Eitelkeiten und ein anderer Dirty as Fuck.

Oft kopiert – selten erreicht.

Freak Camp im VCF (2008)

Irgendwann hatte ich das Gefühl das war es jetzt mit der elektronischen Musik. Alles gehört. Minimal nervt nur noch … die große Langeweile drohte. Dann kam Dubstep über uns. Die Melancholie, das Warriortum, die Härte und minimale Elemente, kein dauerlabbernder MC. Physischer Bass! Das war es! Neu! Endlich! Freak Camp waren die Besten. Das VCF (ein S-Bahnbogen zwischen Alex und Hackescher Markt) hatte die überdimensionierte alte Panaromabar-Anlage und das Booking war das beste UK Zeug seiner Zeit. Dazu die geniale Grafik von 2 Krazy, dem Papa der Crew.

Ostgut (2003)

Im Ostgut war man zu Hause. Ein Mainfloor mit konsequenten Bumms. Die Panorama Bar mit ihrem einzigartigen Stil und People Mix. Darkrooms auch für Heten. Tätowierte Technopunks. Dieser spezielle pansexuelle Freiraum zum Ausrasten… Und der Flyer war das Motiv auf dem großformatigen Bild hinter den DJs. Immer präsent.

Robot Army im SO36 (2013)

Montag Nacht und die Tradition, die der Electric Ballroom zwischen 95 und 2005 mit 511 Parties legte, sollte wieder aufleben. Kompromissloser Techno in der Zeit, wo der normale Mensch sich vom ersten Tag der Woche erholt. Eine After Hour für die echten Szenegänger, die sich längst von der Mehrheit der Bevölkerung abgesetzt haben. Fantastisch in Szene gesetzt von Rabea Senftenberg, deren liebevolle RoBots auch heute noch immer wieder in den Straßen vom Prenzlauer Berg gesehen werden.

About Blank (2016)

Was soll ich dazu sagen außer: Hammer Font! Techno mit Attitude im von einem explizit linken Kollektiv geführten Club ://about blank, der beeindruckende und mannigfaltige Flyerkultur herausgibt.

Dystopian im Arena Club (2016)

Abseits des Berghains war hier der Berliner Techno mit seiner dystopischen, härteren Spielart zu Hause. Die Fusion aus verwegenem Industriekomplex und dunklen Sound bildete hier eine Einheit, die einen sicher aus dem Alltag herausbeförderte. Mit dieser fantastischen Flyerserie bebilderte Dystopian dieses Versprechen.

Clubmarken von WMF, Watergate und Cookies

Die Clubmarken von DJ Feed – ein Schatz!

Ja und die Clubmarken? Hatte man eine, war man wer. Teil des Imperiums. Einlass ohne Schlange, oft für dich und deine Freunde. Sie wurden getragen mit Stolz und Umsicht. Familybusiness.

Vorheriger Artikel30 Jahre Warp Records: Label kündigt „WXAXRXP Sessions“ an
Nächster ArtikelBarely Legal – Groove Podcast 225