Als Berliner Festival der elektronischen Avantgarde ist Atonal das Gegenstück zum im Winter stattfindenden CTM. Das Atonal wird von den Macher*innen des Tresor veranstaltet und findet in einem imposanten Kraftwerksgebäude im Bezirk Mitte statt. Wir stellen fünf Performances vor, die uns besonders zugesagt haben.

Das Kunstprogramm des Atonal Festivals. Foto: Helge Mundt

Amnesia Scanner

Blitzschneller Ausdruckstanz bei Amnesia Scanner (Foto: Isabel O’Toole)

Abstrakte geometrische oder geglitchte Figuren, die laufend ineinander übergehen und dem guten alten Feuerwalzen-Visual aus dem Windows Media Player in der XP-Version erschreckend ähnlich sehen. Dazu schwer zugängliche, maschinelle wie arhythmische Sounds, die sich mit versöhnlichen Ambient-Passagen abwechseln und eine vor Ehrfurcht erstarrte Crowd. Damit sind alle Kriterien für den Prototyp Atonal-Gig erfüllt, was für sich genommen durchaus Spaß bereiten kann. Über die volle Dauer des Festivals gelingt es dem reizüberfluteten Sensorium aber zusehends schwerer, sich auf die verschiedenen Performances einzulassen, ohne zu ermüden. Gut, dass es Acts wie Amnesia Scanner gibt, die es mit ihrer Nonchalance schaffen, das Festival gekonnt aufzulockern. Das heißt aber nicht, dass die beiden Finnen eine weniger anspruchsvolle Show als der Rest des Line-Ups abgeliefert hätten. Begannen sie noch verhalten und sparten Beats weitestgehend aus, bewegten sie sich nach etwa 15 Minuten zusehends in Richtung koventionellerer Gefilde, die – man muss es nochmals betonen – dem Festival gut zu Gesicht standen. Anbiedernd wirkte daran aber nichts, vielmehr entspann sich ein waghalsiger Stilmix, der Hip Hop, Trap, Breaks, EDM-Sounds und schließlich glasklaren Techno zu einer geschmackssicheren Melange verband. Dazu wirre, bewusst trashig anmutende Visuals, die sich nicht als übermäßig artsy ausnahmen – Amnesia Scanner machten in der Samstagnacht auf der Stage Null ziemlich vieles richtig. Maximilian Fritz

Cyprien Gaillard

Cyprien Gaillard (Foto: Alexis Waltz)

„Is that yours? It looks like a dead body”, fragt jemand und zeigt auf einen auf dem Betonboden liegenden Rucksack, über den er gerade beinahe gestolpert wäre. Atonal in a nutshell: Schwarz, düster – und zur Dramatisierung neigend. Am Samstagabend wird zwischen zwei Konzerten in der großen Halle des Kraftwerks eine Leinwand ausgerollt. Das fahle Licht des Beamers fällt durch den Raum, unter dem Screen sind die Silhouetten von drei Steel Drums zu erkennen, dubbig zerfließende Klänge sträuben sich gegen dramatische Orgeltöne. Der Techno-affine Videokünstler Cyprien Gaillard zeigt seine Arbeit Ocean II Ocean, die zur Zeit auf der Kunstbiennale von Venedig zu sehen ist. Auf der Leinwand erscheint ein schwarzer Kreis – umgeben von einem silbrigen Schein. Eine Sonnenfinsternis? Weit gefehlt. Es ist ein Abfluss aus Aluminium. Fasziniert beobachtet die Kamera, wie Wasser über das matte Metall schießt, wie sich der chaotische Schwall zu einem Strudel formt.
Das Bild zoomt heraus: es ist eine Klospülung. Dann verschwommene Bilder einer ähnlich komplexen Kreisstruktur. Die Bilder werden schärfer: es sind versteinerte Schneckenhäuser, die in Granit eingelagert sind – mal winzig klein, mal größer als eine Hand, mal setzen sie sich in Orange vom roten Hintergrund ab, mal sind sie weiß, der Rest ist dunkelgrau. Dann funkelt ein Lichtreflex auf der Oberfläche der polierten Steinplatten. Wenig später ist zu erkennen: Es ist die Spiegelung eines U-Bahnwagens, wir befinden uns in einer U-Bahnstation. Züge rattern an den Schneckenhäusern vorbei, spiegeln sich im erdgeschichtlichen Überbleibsel. Im nächsten Bild befinden wir uns auf einem Kahn, die Kamera fixiert eine Torxschraube – Kreisformen allerwärts. Der Kahn bringt ausgemusterte New Yorker U-Bahnwaggons raus aufs Meer, sie werden dort versenkt, um der Meeresfauna ein Zuhause zu bieten. Wenig später beäugt ein Rudel ziemlich gemein aussehender Haifische neugierig ihr zukünftiges Habitat. Im Anthropozän drückt der Mensch der Natur seinen Stempel auf –  abstreifen kann er ihre Formen aber noch lange nicht. Alexis Waltz

Helm

Helm im Lichttrichter (Foto: Isabel O’Toole)

Der Londoner Labelbetreiber und PAN-Verbündete Helm lieferte am Donnerstag eine Show, wie sie exemplarisch für das Atonal stehen könnte. Experimentelle Klanglandschaften, mal paranoides Kreischen, mal repetitives Einlullen füllten die Mainstage auf der obersten Etage des ehemaligen Heizkraftwerks mit Sound. Unterstützt von einer Schar Lasern und gelegentlichem Nebel hat Luke Younger vollends ausgereizt, was in diesem Kontext möglich ist: nämlich mit seiner Musik an die Grenzen der Hörgewohnheiten (und die der Genre-Schubladen sowieso) zu gehen. Diese Gratwanderung zwischen Noise und melodiösen Passagen gelang ihm großartig. Ohne das Publikum zu vergraulen (beim Klientel des Atonal wahrscheinlich eher schwer), wechselte er zwischen ohrenbetäubenden Synths, gelegentlichen Drums und wohltuenden Flächen. Kein Konzert für schwache Ohren, dafür umso zukunftsweisender für experimentelle und abstrakte Musik. Christoph Umhau

HTRK

HTRK harmonieren (Foto: Frankie Casillo)

Jonnine Standish und Nigel Yang formen das Duo HTRK (“HateRock”), das auf dem diesjährigen Atonal Festival am Mittwochabend die Stage Null eröffnete. Etwas kleiner und intimer als die große Hauptbühne, war das genau das richtige Setting für deren verworrenen New Wave-Downtempo-Sound. Mit ihrer schwermütigen Mischung aus Gitarrenakkorden, Drum-Samples und der gehauchten Stimme Standishs waren sie einer der poppigeren Künstler des Lineups und zogen auch Gäste jenseits des Szene-Kosmos an (ich lauschte eine Konversation zweier Besucher, die sich nur wegen dieses Konzerts das Tagesticket kauften und mit dem Rest des Line-Ups „absolut nichts” anzufangen wussten). Egal ob mit Titeln des aktuellen Albums oder älteren Veröffentlichungen, diese Kombination aus sparsam eingesetzter Perkussion und charakteristischer Stimme (live noch ergänzt durch die passende schüchterne Erscheinung beider Musiker) zog das Publikum in die benebelte Welt ihrer Musik. Christoph Umhau

Pablo’s Eye

Pablo’s Eye mit Geigen-Intermezzo (Foto: Isabel O’Toole)

Danke, Reissue-Hype: Das Künstlerkollektiv Pablo’s Eye gibt es bereits seit 1989, doch erst durch die Wiederentdeckung und -auflage ihrer Musik auf dem belgischen Stroom-Label wurden sie jenseits ihrer Szene bekannt. Drei der angehörigen Musiker präsentierten auf dem Atonal eine einnehmende Show aus Klang und Bewegtbild. Auf der riesigen Leinwand erschienen neben undefinierbaren Mustern und Bewegungen auch immer wieder kleine Anekdoten aus dem Leben Pablos. Große Themen wie Elternschaft und Religion wurden angeschnitten, aber wer Pablo ist, bleibt so nebulös wie die Musik selbst. Diese untermalte die Geschichte in etwas mehr als 20 kurzen Akten mit knackigen Drums, flächigen Synthesizern, schemenhaften Lyrics von zeitweise zwei Sängerinnen und einer live gespielten Geige. Jeder Akt stellte eine kurze Skizze eines vollständigen Tracks dar, was den Auftritt von Pablo’s Eye erfrischend vielfältig und kurzweilig machte. Christoph Umhau

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