Das Donaufestival in der 25.000-Einwohner:innen-Stadt Krems setzte am zweiten Wochenende der diesjährigen Ausgabe auf ruhigere Klänge und forderte damit umso mehr. Philipp Gschwendtner und Maximilian Fritz waren vor Ort und erlebten, wie Clubs de- und wieder rekonstruiert wurden, Aliens nebeneinander her lebten, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwammen und ein Götzenkult rund ums Plastik kultiviert wurde.
Steiner Tor Krems gegen Wiener Neustadt: 3:3. Das ist das spektakuläre Endergebnis des Schlagerspiels, das an diesem Freitagabend in Krems steigt. Neben dem Fußballplatz, von dem die Schreie des Publikums, die Pfiffe des Schiedsrichters und die Stadionmusik – „Layla” von DJ Robin und Schürze – herüberwehen, befindet sich der Kern des Donaufestivals. Als Kleinkunst-Veranstaltung gestartet, spielen hier inzwischen an zwei Wochenenden im Jahr einige der spannendsten Künstler:innen aus vom Musikjournalisten Simon Reynolds einst als „Conceptronica” betitelten Zusammenhängen.
Waren die diversen Genres in den Jahren zuvor noch relativ paritätisch zwischen den Wochenenden aufgeteilt, stand dieses Mal vor allem das erste im Zeichen von Club-Acts und solchen, die ihm zumindest entspringen: Animistic Beliefs, DJ Lag, James Holden, Omar Souleyman oder RP Boo bespielten die erste Hälfte des Donaufestivals, die zweite fällt stilistisch diverser und, trotz insgesamt ruhigerer Musik, disruptiver aus.
Das hilft entscheidend dabei, den kuratorischen Schwerpunkt des Festivals zu vermitteln. Während dieser bei vielen ähnlichen Veranstaltungen zur Fassade verkommt, wirkt der Slogan „Beyond Human” zwar dankbar, aber auch treffend gewählt. Samstagmittag etwa läuft mit Jerk ein einstündiger Film mit Soundtrack von Peter Rehberg, der die Taten eines amerikanischen Serienmörders anhand eines Puppentheaters abstrakt, aber drastisch nachempfindet. Anschließend legt der französische Philosoph Frédéric Neyrat in einem voraufgezeichneten Video-Essay mit anschließender Fragerunde seine Theorie des Alienozäns dar, einem Zeitalter, das seiner Meinung nach dem Anthropozän folgt – womit wir wieder am Kremser Fußballplatz wären.
Die Aliens, das sind die anderen, könnten Fußballfans und Festivalgänger:innen gleichermaßen sagen, für beide Seiten gilt: sie sind längst unter uns. Die einen erfreuen sich archaischer performativer Akte, die anderen bewegen sich routiniert zu komischer Musik. Nur: Wer ist wer? Genau dieses gegenseitige Fremdeln macht das Donaufestival aus, wenn auch Individuen mit subkulturellem Anstrich die Kleinstadt übers Wochenende hinweg klar dominieren.
Der großstädtische Musikconnaisseur mit Label-Cap, Casual-Hemd und klobigen Sneakern tritt dabei weniger auf als zunächst angenommen. In Krems versammelt sich ein Publikum, das im Prä-Internet-Zeitalter aufgrund der äußeren Merkmale noch relativ eindeutig den jeweiligen musikalischen Präferenzen zuordenbar gewesen wäre. Jetzt, wo die Geschmäcker sich überlagern, sieht man vielleicht verschieden aus, zelebriert aber mit- statt nebeneinander Musiken verschiedenster Genres.
Und das auch, weil diese schon bei einzelnen Konzerten verschmelzen. Amnesia Scanner und Vokalist Freeka Tet etwa dekonstruieren (lobotomieren?) auf der größten Bühne, der des Kremser Stadtsaals, Dance Music und erschaffen einen monströsen Sound irgendwo zwischen EDM, Techno, Rap und Metal. Ideal, um das Rave-Girl mit drei kugelförmigen Zöpfen, das aussieht wie einem The-Prodigy-Gig entsprungen, mit dem etwa 50-jährigen Kuttenträger – Punk’s not dead (still) – zu einen.
Der Club wird aber nicht nur bis zur Erschöpfung – und zum wiederholten Male – dekonstruiert, das Wiener res.radio baut ihn fein säuberlich wieder auf. Am Samstagabend lädt das Kollektiv zur inoffiziellen Aftershowparty in den Jazzkeller. Wichtig dabei: Ruhe vor der Tür, schließlich operiert man am Rande der Legalität, und Gleichgewicht auf der steilen Wendeltreppe, die in die Katakomben führt. Leicht erhöht und vom Publikum durch ein Netz getrennt, spielen hier Conny Frischauf, Geier aus Stahl und lokale – das heißt: vor allem Wiener – DJs Sets, die im Kellergewölbe eine unmittelbare Dynamik entfachen – dem intimen Rahmen sei Dank. Besonders überzeugt die Frankfurter Wahlwienerin Flower Crime, die der konzeptionellen Verschrobenheit des Festivals ein rohes, technoides Vinyl-Set entgegengesetzte, das den ein oder anderen Knoten im Gehirn zu lösen vermag.
Wie bereits erwähnt: Das Festival speist sich aus dem Koexistieren, nicht nur von Menschen, auch von Musikstilen. Mit vielseitigem Booking sorgt es dafür, dass alle auf ihre Kosten kommen. Einen Gegenpol zu Acts wie Amnesia Scanner bilden die zumeist ruhigeren, auf längere Spannungsbögen ausgelegten Konzerte in der Minoritenkirche.
Dort spielt etwa die französische Künstlerin Félicia Atkinson, die viel mit Field Recordings arbeitet. Ihr Konzert bestreitet sie großteils am Flügel, der wie ihre Stimme geflüstert, gehaucht klingt. Alles ist largo und piano, und für die Zeit des Konzerts scheint ein wärmender Kokon die Zuhörer:innen in dem imposanten Konzertraum einzuhüllen.
Am gleichen Ort schleift am Sonntag die katalanische Künstlerin Marina Herlop mehrstimmigen Gesang durch elektronische Schaltkreise. Damit lässt sie Klänge entstehen, die neuartig und doch vertraut sind, was ihre Auseinandersetzung mit traditionellen Gesangstechniken bewirkt. In ihrem aktuellen Album Pripyat beschäftigt sie sich etwa mit solchen aus Südindien, die sie in die elektronisch erzeugte Klangstruktur einwebt. In gleicher Weise, wie sie die Konventionen westlicher und elektronischer Musik aufbricht, lösen sich während des Konzerts Zeit und Raum in transzendentale Universalität auf.
Wer sind die wirklichen Aliens? Frédéric Neyrat wirbt mit seiner Theorie des Alienozäns für ein Einbeziehen nicht-menschlicher Akteure. In diesem Kontext siedelt sich auch die Ausstellung – beziehungsweise der „Gebetsraum” – Toxic Temple an, die im Forum Frohner neben der Minoritenkirche ihren Platz findet. Sie verehrt in kultischer Weise das Plastik, das die Menschheit weit überdauern wird, nachdem diese sich abgeschafft hat – beyond human. Nach der Eröffnung mit zeremonieller Prozession am ersten Wochenende bleibt für das restliche Festival ein mit vielfältigem Plastikmüll ausdekorierter sakraler Raum zu betrachten. Ein kongeniales Detail ist das Überkleben des außen angebrachten Schriftzugs „Minoritenplatz”, der mittels Müllsacken zu TENPL verkürzt wurde.
Mit dem Thema Beyond Human befasst sich auch die Performance von Anna-Marija Adomaityte & Gautier Teuscher. In scheinbar stetiger Vorwärtsbewegung, in Wahrheit jedoch am selben Ort verbleibend, kommentieren sie den modernen Arbeitsplatz. Das alte Versprechen, wonach technologischer Fortschritt den Menschen freie Zeit bringen würde, hat sich nicht eingelöst. Vielmehr bewirkte zunehmende Technisierung eine Mechanisierung der menschlichen Arbeitskraft, die jetzt unter Anleitung der Maschine ihre Handgriffe respektive Dialoge ausführt. Die Tänzerin und Performance-Künstlerin Adomaityte reflektiert das, indem sie, auf einem Laufband marschierend, in einem imaginären Fastfood-Restaurant maschinengleich repetitive Bewegungen ausführt.
Wie entkommen wir also diesen Mühlrädern? Bei aller notwendigen Kritik wirft das Thema auch Licht auf die schönen Aspekte von Beyond Human. Folgen wir Neyrat und erkennen, dass die Aliens längst neben und mit uns leben, dann sollten wir uns darauf freuen, das Fremde kennenzulernen. Das Donaufestival bietet dafür eine wundervolle Kulisse. Mit einem Programm, das unterhält, dabei aber herausfordert, diverse Künstler:innen und dadurch ein durchmischtes Publikum zusammenbringt – Menschen unter sich.