Das Jahr geht und mit den Festtagen kommen die Reissues: ein besonders mächtiges und erfreuliches Paket schnürten heuer Grönland Records. Nach der angemessen edlen Neuauflage der beiden großartigen Ambientalben Plight & Premonition sowie Flux & Mutability von David Sylvian & Holger Czukay gibt es nun weitere Solo- und Kollaborationsarbeiten des vergangenen Jahr gestorbenen Kölner Bassisten und musikalischen Allround-Humoristen und Experimentalisten Czukay, der von Krautrock, satirischem Deutschpop, Avantgarde-Collagen und Free Improv, Tatort-Soundtracks und sphärischer Elektronik bis zum anarchisch schunkelnden Post-Punk und Dub nichts nicht konnte. Letzterer Stil kennzeichnet Full Circle (Grönland) von 1981, das Czukay mit PiL-Bassist Jah Wobble und Can-Kollege Jaki Liebezeit aufgenommen hat. Kein Wunder, wenn sich zwei Bassisten und ein Drummer treffen um das einzubringen was sie jeweils am besten können. Das frühe Duoalbum Canaxis 5 (Grönland) der Technical Space Composer’s Crew aus Czukay und Rolf Dammers gibt eine feine Einführung in Czukays Sound, der die Collage-Ästhetik der klassischen Avantgarde augenzwinkernd mit krautig ausufernden Rock-Improvisationen oder Popsongs verknüpfte. Diesen Sound hat er auf seinen Soloalben der achtziger und neunziger Jahre Movies, Der Osten Ist Rot, Rome Remains Rome, Moving Pictures, Radio Wave Surfer (alle: Grönland) weiter entwickelt und immer wieder neu definiert ohne Berührungsängste mit dem Pop-Mainstream einerseits und der Ambient-Stille andererseits. Was alle Czukay-Stücke zusammenhält und auszeichnet ist seine immense, immer spürbare Neugier auf Sounds.
Video: Holger Czukay – Trumpet Clip
Ein interessiert wacher Blick auf die Welt kombiniert mit überbordender Spielfreude und in Pop geerdeten musikalischen Wagemut zeichnet die aktuellen Wiederentdeckungen wie eigentlich alle Veröffentlichungen aus, die auf Matt Werths Label RVNG Intl. oder dem von Pete Swanson kuratierten Sublabel Freedom To Spend herauskommen. So ist die Werkschau Beside Herself (Re:RVNG Intl.) der US-amerikanischen Synthesizer-Experimentatorin Michele Musser alias Michele Mercure eine formidable Entdeckung. Mit ultraminimalistischen instrumentalen Synthpop-Tracks war Mussers einzige offizielle LP von 1986, Eye Chant (vergangenes Jahr auf Freedom To Spend/RVNG Intl. neu aufgelegt) so etwas wie eine Hommage an die europäische, speziell belgische Post-Punk/New Wave Szene der achtziger Jahre. Der umfangreiche Raritätensampler Beside Herself zeigt nun zusätzliche Aspekte von Mussers kreativer Phase in den Achtzigern. Von skizzenhaften Synthesizerexperimenten bis zu kosmischen Soundscapes eint alle Tracks, sogar die tendenziell kraut/prog/hippiesk ausufernden, ein konsequenter aber nie verkopft-strenger Minimalismus. Auf dem Schwesterlabel erscheint ein noch fetteres Paket des ebenfalls in den mittleren achtziger Jahren aktiven Suffolker Trios Rimarimba um Robert Cox. The Rimarimba Collection (Freedom To Spend/RVNG Intl.) enthält alle vier LPs der Band, Below The Horizon, In The Woods, Light Metabolism Number Prague, On Dry Land, ursprünglich erschienen im Eigenvertrieb und auf damals wie heute ähnlich obskuren aber in gewissen Kreisen (inklusive dem Kolumnisten) legendären und hochverehrten Labels Cordelia Records von Alan Jenkins und Hamster Records von Yukio Yung. Diese very britischen Spinner haben zwischen feinster Pop-Psychedelia provinzbritischer Weirdo-Tradition, Gitarren-Ambient à la The Durutti Column, dadaistischen Synthesizerexperimenten und mehrfach gebrochener Exotica so ziemlich alles gemacht was in den Achtzigern noch als uncool, zu langhaarig und zu seltsam angesehen war, aber in 2018 wieder frisch und jetztzeitig wie kaum was anderes klingt – also essentiell.
Video: Michele Mercure – An Accident Waiting To Happen
Wie allgegenwärtig die dominanten Styles der neunziger Jahre im aktuellen Elektronikgeschehen noch immer sind, lässt sich ebenso an allerlei aktuellen Reissues nachhören. Zum Beispiel bei Topdown Dialectics Topdown Dialectic (Peak Oil), der Vinyl-Ausgabe eines Tapes, das 2014 auf dem kurzlebigen, hochkonzeptuellen und enorm einflussreichen Tape-Only Label /\\Aught erschienen war. Die unbetitelten Tracks von einer*m anonymen Produzent*in aus Los Angeles fühlen sich viel älter an, als ihr Releasedatum andeutet: nach den Lifestyles Of The Laptop Café und der in den mittleren und späten Neunzigern akuten Wiederentdeckung von Dub innerhalb eines Techno und IDM-Kontexts. Dieser wird als warmer Retro-Dub-Techno mit gut verborgenen Samples wiederbelebt. Im Arrangement der Feldaufnahmen ist das ein klarer Erbe der Arbeiten des Briten Robin Rimbaud alias Scanner dessen 1994er Album Mass Observation (Room40) in erweiterter und überarbeiteter Form neu aufgelegt wurde. Die erstaunlich meditative Sample-Collage aus anonym abgescannten Telefonkonversationen und sanften Flächen hat Rimbauds Stil seinerzeit definiert (aber damit auch fixiert), als eine dem klassischen Eno-Ambient nahe Auslegung von IDM und Glitch.