Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Jeden Monat stellt die Groove-Redaktion zur Halbzeit fünf ganz besondere Alben vor, die es unserer Meinung nach wert sind, gehört zu werden. Dieses Mal mit dem Album der Ausgabe von Marie Davidson, Mr. G, Neneh Cherry, Terence Fixmer und unserem Album der kommenden Ausgabe von Vril – ganz neutral in alphabetischer Reihenfolge.
5. Marie Davidson – Working Class Woman (Ninja Tune)
Auf Arbeit fußt unser Wohlstand, sie stiftet Sinn und Konsistenz. Einige können davon nicht genug bekommen. Im Fall von Marie Davidson ist Working Class Woman der Stoff, der sie betäubt. Ihre Antwort aufs Touren, das den größten Teil ihres letzten Jahres bestimmte und das sie als bereichernd, aber auch als entkräftend empfand. Eine One-Woman-Show, innerhalb derer Italo-Disco, Electro und Proto-Industrial das Fundament für ihre allseits präsente Stimme bilden. Auf Englisch und Französisch werfen die abstrakten Aussagen mit spitzer Zunge einen Blick auf die heutige Clubkultur und porträtieren Davidsons Auseinandersetzung mit den Arbeiten der Psychologin Alice Miller, dem Mediziner Gabor Maté sowie von Filmemacher Alejandro Jodorowsky. Die punkigen Bildkompositionen innerhalb leben von der Surrealität. Jede Szene ist durchkomponiert, sprüht vor kuriosen Einfällen, verwundert und verwirrt. Die LP ist ein wilder Ritt durch die Genre-Palette der Produzentin, schonungslos, offen und ehrlich. (Felix Hüther)
4. Mr. G – A Part Of Me Vol. 2 (Phoenix G)
Colin McBean, in den Neunzigern mit seinem früheren Partner Cisco Ferreira als The Advent oder G-Flame & Mr. G erfolgreich, ist nunmehr seit 18 Jahren solo so produktiv, dass man schon mal den Überblick verlieren kann. Aber tatsächlich, eine Platte namens A Part Of Me Vol. 1 hat es nie gegeben. Der Londoner House- und Techno-Pionier schwört aber Stein und Bein, dass dieses Album existiert, nur veröffentlicht habe er es bisher nicht. Eigentlich steht die Marke Mr. G für straighte Beats, die so tough wie rough sind, doch Anfang dieses Jahres war dem Briten nach einem Album, das die erprobte Formel mal hinter sich lässt. A Part Of Me Vol. 2 enthält zwar einige samplebasierte Housetracks mit Jazz-, Soul- oder HipHop-Flavour, doch überwiegend tritt Mr. G hier tempomäßig auf die Bremse. Seine MPC-HipHop-Instrumentals segeln zweifellos nicht hart am Wind des Zeitgeistes, doch der Mann liefert hier das ab, was sich Kenny Dope-Freunde heute von ihrem einstigen Helden wünschen würden. (Holger Klein)
3. Neneh Cherry – Broken Politics (Smalltown Supersound)
Scheint gar nicht lang her, dass Neneh Cherry sich mit The Blank Project zurückmeldete. Vielleicht weil sich das Album von 2014 so gut gehalten hat. Nach der rauen Strenge, die aus der ersten Zusammenarbeit mit dem Duo Rocketnumbernine und Kieran Hebden als Produzent resultiert war, ist die Stimmung jetzt auf Broken Politics, das mit denselben Partnern und einigen Gästen entstand, weit gelöster, klassischer. Etwa in ihrer wie von selbst fließenden Nummer „Kong“, die ihre Kraft aus einer langsamen, scheinbar schwerelosen Melodie bezieht. Stärke durch Sich-Zurücknehmen ist eine Konstante der Platte, wie als Kontrast zu den Themen, die Cherry für ihre Texte wählt: Gewalt oder die Allgegenwart von Waffen stehen neben Reflexionen über die eigene Verletzlichkeit. Von gemütlichem Soul weit entfernt, mischt sich stattdessen eine verfeinerte Sprödigkeit in ihre Songs, mit der sich Cherry auf Broken Politics als Grande Dame des avancierten R’n’B zu erkennen gibt. Eines des Alben des Jahres. (Tim Caspar Boehme)
2. Terence Fixmer – Through The Cortex (Ostgut Ton)
Bei einem Ostgut-Ton-Release kommt man nicht umhin, sich vorzustellen, ob und wie das Gehörte in den labeleigenen vier Wänden funktionieren würde. Unter diesem Gesichtspunkt liefert Terence Fixmer, der dem Hause mit Quasi-Residency und bereits zwei dort wohnhaften EPs kein Fremdling ist, hervorragendes Warm-Up-Material ab. Through The Cortex verfährt alles in allem zwar mit angezogener Handbremse, tut dies jedoch bewusst wie es scheint. Durch acht Tracks zieht sich ein industriell-dystopischer Erzählfaden – dabei geht es mal Drone-mäßig wie in „Something Invisible“, mal wummernd-pulsierend („Event Horizon“) und dann wieder resigniert um sich tretend, post-punkig zu: „Accelerate“. „A Halo Somewhere“ tut sich mit seinem stählern, aber zugleich warmen Orgel-Akkord-Looping wohl am meisten hervor, ohne dass es den Grundton der Platte bricht, als ihn eher um noch eine Facette zu erweitern. Dies alles ist eingebettet in einer Art EBM-Kontext, den Fixmer nicht zum ersten Mal für sich neu definiert. (Benjamin Kaufmann)
1. Vril – Anima Mundi (Delsin)
Techno klingt heute oft stereotyp. Viele Produzent*innen konzentrieren sich zu sehr darauf, packende Melodien und epische Arrangements zu komponieren. Anstatt dem Track als Ganzem ihren Stempel aufzudrücken, klingen die aufgebauschten Synth-Strukturen in Wahrheit angepasst und ängstlich. Zum Glück gibt es Produzent*innen, die dieser Projektion von Ideenlosigkeit etwas entgegenzusetzen haben. Einer von ihnen ist Vril. Egal, ob der Producer und DJ aus Hannover hirnzerfasernde Clubsmasher oder kryptische Soundscapes programmiert, jeden seiner Tracks erkennt man sofort als Track von ihm. Warum? Vril sucht nach dem perfekten Loop, wie Peredur nach dem heiligen Gral, seit ihm ein Schulfreund für den Commodore Amiga nicht die Diskette mit dem Computerspiel gab, sondern eine mit einem Musikprogramm. Das war 1992. Dass aus dem Bedroom-Producer nach fast zwanzig Jahren doch noch ein weltweit aktiver DJ und Produzent wurde, liegt auch und vor allem an seiner Leidenschaft für Dub-Techno, die er mit dem Giegling-Kollektiv aus Weimar teilte, das ihn 2010 in die Öffentlichkeit hievte.
Anima Mundi, Vrils drittes Album, wurde schon Anfang letzten Jahres als Kassette bei Giegling-Veranstaltungen verkauft, und im Sommer sind drei Stücke als Vorabsingle über Giegling erschienen. Dass es nun letztlich auf Delsin erscheint, mutet seltsam an, verändert aber die Musik nicht. Das Album beginnt mit einem mäandernden Oszillieren, das in den nassen Signature-Hall Vrils eingebettet ist. Es ist ein Aufbruch, aber das Ziel kennen wir nicht. Ist es ein fremder Ort oder sind wir vielmehr auf einer Reise in unser Inneres? Dann setzt der Groove ein, ein komplexes Netz aus verschiedenen rhythmischen Klängen, das an prasselnden Regen erinnert. „Statera Rerum“ ist auf subtile Weise jazzig, ohne dabei Virtuosität auszustellen. Bei dem Titelstück wiederum kickt die Bassline majestätisch in Halftime, am Ende jeden Taktes schmettert eine Hi-Hat: Dubstep als Sakralmusik. Die Drums verschwinden wieder, meditative Basstöne kommunizieren mit zu einem konturlosen Gleißen gefilterten Streichern und einsamen, spröden Fanfaren. Equilibrium. Der Loop von „Infinitum Eternis Anime“ ist bloß eine rhythmische Kontur, die wirkt, als sei das Drumming von Nebel, Staub oder Hall bedeckt, sodass sich bloß Konturen abzeichnen, ein Dub-Stück, in dem Signale aus einer anderen Dimension herüberhallen.
Das Album verdichtet sich in einer geradlinigen, gelassenen, abgeklärten Techno-Nummer, deren sprödes Riff nur aus drei Tönen besteht. Die eigentliche Hookline läuft ganz leise im Hintergrund mit. Das schönste Stück auf dem Album ist „Ilojim“: eine ruhige, weiche, schwebende Bassline, verhallende Gitarrentöne, eine Orgel. Klänge aus einer anderen Zeit, kaum noch hörbar, kaum noch zu verstehen, dennoch verschränken sie sich auf unwahrscheinliche Weise. In der Art, den Groove bloß anzudeuten, erinnert das Stück an Wolfgang Voigts „Live’s a Gas“. „In Via“ ist überraschend funktionaler Techno. Die feierfreudige, beinahe housige Energie löst Vril im breitwandigen, schwergängigen, müden „Spes“ auf: Diese Mattheit schlägt in schulterzuckende Gelassenheit um.
Schließlich verabschiedet sich Vril: Die gleichmütigen Pads von „Eos“ zeigen an, dass er für einen Augenblick seinen inneren, spirituellen Frieden gefunden hat. Beim letzten Stück mahnt uns dagegen schon wieder ein irres, gepitchtes Zwitschern, wachsam zu sein. (Alexis Waltz/Felix Hüther)