Es ist ein offenes Geheimnis, dass nicht wenige der besten Kompilationen elektronischer Musik im Rahmen von Sammlungen für wohltätige Zwecke entstanden und entstehen. Zum trivialen guten Grund für die Tracks (gute Musik) kommt also noch ein guter Zweck. Zwei aktuelle und nicht nur inhaltlich äußerst unterstützenswerte Beispiele ist einmal die von Alex Gámez alias Asférico zusammengestellte Kompilation Rebuilding l’Alt Empordà (Störung). 20 exklusive Stücke von Protagonisten, die sich zwischen den Feldern Ambient, Soundart und akademischer Elektroakustik bewegen. Guter Zweck ist hier die Restaurierung der historischen Dörfer Cistella und Terrades im katalanischen Alt Empordà, die in den Winterstürmen Anfang Januar diesen Jahres weitflächig zerstört wurden. Von Asmus Tietchens bis Yui Onodera ist hier einiges an Soundart-Persönlichkeit versammelt. Die Klänge sind eher spröde und minimalistisch streng, aber durchaus mit Dark- oder Pop-Ambient Appeal. Zudem möchte ich an dieser Stelle noch die absolut wundervolle „Neujahr-Charity“ Kompilation des Moskauer Labels Dronarivm ans Herz legen – auch wenn 2018 nun schon nicht mehr ganz so frisch ist. Illuminations II (dronarivm) versammelt 30 exklusive Stücke von mehr oder minder prominenten Produzenten und Produzentinnen (u.a. Loscil, Bruno Sanfilippo, Jacaszek, Hakobune…), die innerhalb der Koordinaten von Ambient, Drone und Neoklassik operieren. Alle Beteiligten zeigen sich von ihrer melancholischsten und freundlichen Seite. Die Einnahmen gehen an eine internationale NGO die Assistenz-Hunde für behinderte Kinder ausbildet. Also bitte nicht nur streamen, sondern wenigstens den lächerlich niedrigen Mindestbetrag dalassen.


Stream: Aaron Martin – Fallen Ground

Die bittersüßeste und herbzarteste Ambient-Electronica kommt heuer von der polnischen Produzentin und Multiinstrumentalistin Olga Wojciechowska alias Iden Reinhart alias Strië. Perpetual Journey (Serein) erzählt die tieftraurige, aber auch überlebensgroße Geschichte der sowjetischen Raumfahrtpionierin Laika. Die Hündin – ihr Name bedeutet übersetzt „Kläffer“ – wurde mit der zweite Sputnik-Mission als erstes Lebewesen überhaupt ins Weltall geschickt. Eine Rückkehr war nicht vorgesehen. Aus bis heute unklaren Gründen, vermutlich wegen der extremen Temperaturen in der Kapsel, überlebte Laika den Aufstieg aber nur wenige Stunden. Strië gibt Laika eine würdige, geradezu heroische instrumentale Eloge, die die Stationen des tödlichen Trips, vom Training, über den mit kaum vorstellbarem Lärm und Stress verbundenen Aufstieg zur endlosen schwerelosen Drift, mit Soundtrack nahen elegischen Klängen illustriert. Sie nutzt dabei die ältesten und neusten Möglichkeiten von Ambient bis an ihre Grenzen aus. Dieses kurze Album ist nicht nur emotional sondern auch musikalisch ganz weit draußen und doch ganz nah dran.


Stream: Strië – Perpetual Journey (Preview)

Im Finstern sieht man besser! Als neuzeitlicher Abkömmling von Industrial und experimenteller Elektroakustik sind die scharfen Kontraste und die hohe Auflösung bei mieser Beleuchtung im Dark Ambient bereits in den Genen angelegt. Das klangliche Äquivalent von Seufzen, Ächzen und Wehklagen, der Mühsal von Dingen und von Menschen, von Staub und Schmutz und krümeligem Noise wird im Genre in maximalerer Trennschärfe ausformuliert zu enigmatischen Quasi-Hörspielen in High-End Qualität. Der Aspekt der Dunkelheit in Form von Rätselhaftigkeit ist beim Reissue (?) Debüt (?) des Italieners (?) Carlo Domenico VALYUM besonders ausgeprägt. Das Album Cronovisione Italiana, gleichzeitig auch erster offizieller Release des Berliner Labels Undogmatisch, arrangiert Soundfetzen aus italienischer TV-Shows der Neunzehnsiebziger Jahre (Lottoziehung und so) mit atmosphärisch-elektrischen Störungen der Radiowelt der Neunzehndreißiger Jahre (Nikola Tesla, Else Lasker-Schüler und Hugo Ball). Zusammen mit der ausführlichen Beschreibung der Rekonstruktion der alten Bänder sowie der Künstlerbiographie ist das ein feines Beispiel für das was bei Bruno Latour und Jan Jelinek „Faitiche“ heißt: eine reale Fiktion, eine wahre Lüge zusammengebastelt aus Fakt und Fetisch. Der tatsächlich italienische Musique Concrète & Elektroakustik Komponist Elio Martusciello nennt seinen Faitiches “Concrete Music”, Betonmusik. Diese ist aus Found Footage, gesampeltem 80er-Pop und eingespieltem Gesang collagiert. Incise (EM Music) klingt erfreulich unakademisch und zugänglich, wie etwas ganz junges, das zwischen Vaporwave, IDM-Glitch und Andy Stott groß geworden ist. Das ebenfalls italienische Trio Creta definiert auf seiner gleichnamigen Debüt-EP Creta (Karlrecords) das Dark Ambient-Genre als elektronisch-akustischen und archaisch-modernen Hybrid. Wenn grindige Power-Electronics und ein Mathcore-Bass auf traditionelle Saiteninstrumente aus dem vorderasiatischen Raum treffen, entsteht eine eigenartig verwobene Stimmung die einen simultan in ein siffiges Manchester Warehouse und einen antiken Nymphenhain versetzen möchte.


Stream: Creta – Babe In The Egg Of Blue

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