Der Club Nitsa, dessen geschwungene Empore daran erinnert, dass er früher mal ein Theater war, ist ziemlich voll – so wie die Crowd, die tagsüber bereits in den Straßen ausgiebig Karneval gefeiert hat. Ein kurzer Plausch mit der Crew, schon steht Ellen auf der Bühne und durchsucht im Blitzlichtgewitter ihre Plattentasche. Sie legt die erste Platte auf: Schneller Acidtechno heizt die Stimmung an, ihr ganzer Körper wippt im Takt. Doch irgendetwas stimmt nicht, die Technikerin kommt, geht, kommt mit einer neuen Nadel zurück. Die Plattenspieler nehmen den Ton nicht richtig ab, fallen einseitig aus. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, springt Ellen zwischen Mixer und Plattenspieler hin und her, spielt souverän weiter, bis alles wieder läuft. Sie stampft, scharrt ungeduldig mit dem Fuß, ehe sie den Bass reindreht. Die Menge ruft im Sprechchor ihren Namen, am Bühnenrand zeigt ein Fan mit Daumen und Zeigefingern ein Herz und ruft: „I love you!“ Sie quittiert es mit einem Lächeln, winkt kurz und ist dann wieder voll konzentriert. Ellens Mixing-Technik ist oldschool, schnell mixt sie einen Track in den nächsten und schafft unerwartete Querverbindungen, ohne je beliebig zu wirken. Sie nimmt das Tempo raus, unterbricht den Beat, eine tranceartige Stimmung erfüllt den Raum. Wie ein Vogel breitet Ellen die Arme aus, lässt die epischen Soundscapes von Autechres „VLetrmx21“ über der schwitzenden Menge schweben und hält für eine Minute die Zeit an.

Dann dreht sie den Beat wieder rein und die Menge rastet aus. Ellen weiß genau, was sie tut. Gekonnt mixt sie Levon Vincents „Arpeggiator“ in den hüpfenden Sprechgesang von DJ Deeons Ghetto-House-Banger „3 Fine Hoez“. Minuten
später findet sie den Weg zurück zum Detroit Techno. Lässig macht sie einen Backspin und das prägnante Housepiano von Outlanders „Vamp“ setzt ein. Über der Bühne ziehen Fotografien von Ben de Biel vorbei, Aufnahmen der zerstörten Mauerstadt, in die zerfließende Acid-Smileys überblenden. Einige der Feiernden versuchen, die Bühne zu erklimmen, werden von der Security jedoch gelangweilt in die Schranken gewiesen. Ellen ist voll in ihrem Element, wischt die Platten an ihrem weißen T-Shirt ab, ihre blonden Haare fliegen. Die Sperrstunde holt die Feiernden Punkt 6 Uhr mit ziemlicher Härte zurück in die Realität. Erschöpft spazieren wir durch die aufgehende Sonne zurück ins Hotel. Um 13 Uhr ist der Shuttle zum Flughafen bestellt.

„I’m on a highway to hell“, scheppert Bon Scotts Stimme aus den Autoboxen unseres Fahrers. Es ist Samstagnachmittag, wir sind auf dem Weg vom Mailänder Flughafen in die Innenstadt. Im Plattenladen Serendeepity wird Ellen gleich ein Event ihrer Veranstaltungsreihe „Vinylism“ spielen. Dazu besucht sie Plattenläden in verschiedenen Städten, sucht sich aus den vorgefundenen Platten einige heraus und spielt mit diesen direkt im Laden ein Set. Einerseits reizt es sie, mit teilweise noch unbekannten Platten aufzulegen. Andererseits möchte sie damit auf die Bedeutung der Plattenladenkultur für die Szene hinweisen und zu deren Erhalt beitragen. „In Montreal war ich in einem Secondhand-Plattenladen, da hab ich Miami-Vice-Platten rausgesucht und alte Discotracks. Der Laden war vorher bei den Technoleuten nicht so bekannt, jetzt kommen da auch mal jüngere Leute vorbei“, freut sie sich. Auf Tour ist der Besuch im Plattenladen für sie obligatorisch. „Ich komme erst richtig in einer Stadt an, wenn ich dort auch in den Plattenladen gehe. Plattenläden sind kommunikative Orte, um Netzwerke zu knüpfen und sich auszutauschen.“

Vor dem Serendeepity wartet bereits eine Menschentraube. Den Plattenkoffer im Schlepptau marschiert Ellen selbstbewusst durch die Menge, begrüßt die Ladenbesitzer und Bekannte, posiert für Selfies, unterschreibt Platten und unterhält sich mit ihren Fans. Auch DJ und Sängerin Aérea Negrot, ebenfalls Künstlerin auf BPitch Control, ist mit ihrem Booker angekommen. Sie wird heute Abend beim BPitch Boogie vor Ellen in der selbstverwalteten Fabrikhalle Leoncavallo auflegen. Überschwänglich begrüßen sich alle. Auch wenn Ellen die Bezeichnung „Family“ für Labelpartner und Künstlerfreunde unpassend findet – schließlich könne man sich seine Familie ja nicht aussuchen –, hat man das Gefühl, dass sie gerade nach Hause kommt. BPitch Control ist Ellens Leidenschaft. Obwohl sie nie wieder an die Erfolge der Nullerjahre anknüpfen konnte, nutzt sie das Label heute als Plattform für unterschiedlichste Künstler aus der ganzen Welt. Von der queeren venezolanischen Performance-Künstlerin Aérea Negrot über das belgische Elektropop-Duo Joy Wellboy bis zum balearischen Housesound des Australiers Garry Todd – der BPitch-Sound ist eklektisch und frei von Genrekategorien.

Ellen verlässt sich dabei wie immer auf ihre Intuition: „Freakhouse, Breakbeat, Techno, Acid – bei BPitch kommt die Musik raus, die ich gut finde. An den unterschiedlichen Signings kann man auch erkennen, wie ich auflege.“ Dass Ellen dabei immer eine klare künstlerische Vision verfolgt, merkt man auch an der Zielstrebigkeit, mit der sie nun den Plattenladen durchforstet. Schnell blättert sie durch die Dance-Mania-Sektion, zieht Trax-Records-Platten aus dem Regal, arbeitet sich über Gherkin Jerks in die House-Repress-Section vor. Planet E, Sand, Hardwax, Klockworks, Power House. Die Leute filmen, wie sie die Platten raussucht. Als sie beginnt, aufzulegen, wirft sie BPitch-Merch in die Menge und ist sofort wieder im Partymodus. Jemand schenkt ihr ein Glas Wein ein, sie nimmt einen Schluck und gibt es dann an eine tanzende Frau weiter. Ellen ist ein Star zum Anfassen und kennt keine Berührungsängste.

Die Stimmung ist ausgelassen und im Gegensatz zum Abend davor nimmt es heute mit der Zurückhaltung keiner so genau. Mit einer großen Gruppe aus italienischen, deutschen und internationalen Kollegen ziehen wir nach dem Gig in ein nahe gelegenes Restaurant weiter. Geschichten aus der Bar25 werden ausgepackt, Szene-Gossip ausgetauscht. Durch das Stimmengewirr höre ich, wie Aérea Negrot ihre Story mit einem vielsagenden „You know, Berghain storys“ beschließt und alle amüsiert-wissend die Augenbrauen hochziehen. Der Lautstärkepegel im Restaurant erreicht einen kritischen Peak, doch das scheint niemanden zu stören. Teller werden ersetzt, Wein nachgeschenkt und alles auf dem Tisch geteilt. Im Zentrum des Getümmels steht Ellen. Lachend springt sie von ihrem Stuhl auf, um lautstark eine Geschichte zum Besten zu geben. In vier Stunden wird sie vor knapp 1000 Leuten im Leoncavallo stehen. Wahrscheinlich wird sie zu wenig schlafen und morgen Abend schon wieder im Flieger sitzen, nächstes Wochenende wieder irgendwo anders in der Welt unterwegs sein. Doch das alles ist in diesem Moment noch egal. Für Ellen zählt das Hier und Jetzt, die Intensität des Augenblicks. „Nostalgie“ lässt sich auch mit „Heimweh“ übersetzen. Ellens Heimat ist ihre Musik.

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