Auf der Suche nach einem Restaurant gibt mir Ellen eine Stadtführung, zeigt mir die Orte, an denen beim Sónar-Festival die besten Partys stattfinden, fegt im Stechschritt durch eine volle Markthalle, während sie sich von ihrem Promoter am Telefon den Weg erklären lässt. In den Gässchen der kopfsteingepflasterten Altstadt ruft ein junger Mann mit katalanischem Akzent: „Holà! Ellen Al-lien!“ Ellen ist bekannt, seit Jahren ist sie Resident im Nitsa, einem der wichtigsten Undergroundclubs Barcelonas. Gerade kommt sie aus Ibiza, wo sie einen zweiten Wohnsitz und eine weitere Club-Residency hat. Das Touren ist für sie zentraler Bestandteil ihres Lebens. „Ich bin immer auf Zwischenstation, aber ich brauche die Bewegung. Ich kann einfach die Füße nicht stillhalten!“, erklärt sie, als wir nach einer halben Stunde strammen Fußmarschs endlich die Tür zu einem hippen veganen Restaurant aufstoßen. Ziemlich außer Atmen habe ich daran keinen Zweifel. 117 Gigs hat Ellen 2016 laut des Listings auf Resident Advisor gespielt. Die meisten Gigs spielt sie in Europa – hauptsächlich in Italien, auf Ibiza und in Berlin. Doch auch Mexiko, Israel, USA, Südamerika, China, Japan und Russland sind gelistet – außer Australien und Afrika hat sie in einem Jahr mal eben die ganze Welt bereist.
Wie sie das durchhält? Das ist für Ellen die falsche Frage. „Wie würde ich es aushalten, wenn es nicht so wäre?“, fragt sie zurück. „Ich bin halt DJ, DJ, DJ – 100 Prozent, von oben bis unten. Mich kannst du 100 Stunden in den Plattenladen stellen und dann geh ich nach Hause und hör noch mal 20 Stunden Musik. Musik ist meine Sucht. Das ist wie Zigaretten rauchen.“ Obwohl sie damit seit ein paar Jahren aufgehört hat. Überhaupt scheint ihr DJ-Lifestyle eher gemäßigt, Ellen achtet auf sich und sieht trotz Nachtleben immer noch aus wie Anfang 30. „Ich bin da professionell, gucke, dass ich genug schlafe, nicht trinke, gut esse, meine Gymnastik mache. Ich hab die Bausteine gefunden, die ich brauche, um gesund zu bleiben. Ich bin ja auch nicht mehr 20“, erklärt sie, während sie die Speisekarte studiert, deren Rückseite verspricht: „Eat Better. Be Happier. Live Longer.“ Gegrillte Wassermelone, rohe Zucchiniblüten, Supertagliatelle – wir sind offenbar im Prenzlauer Berg von Barcelona gelandet. Auf abgewetzten Holzmöbeln verbringen junge Unternehmer die Mittagspause mit ihren MacBooks. Im Kühlschrank neben der Tür stehen bunte Smoothies der Sorte „Detox“, „Antiox“ und „Energy Boost“. Einer von ihnen trägt die Aufschrift „Berlin“.
Ellen hat miterlebt, wie sich aus illegalen Raves in verlassenen Weltkriegsbunkern eine Szene entwickelte. Wie in der wiedervereinigten Stadt die Party zum Dauerzustand wurde, wie schließlich die Kommerzialisierung einsetzte und Techno zum Massenphänomen wurde. Von der idealisierenden Nostalgie, mit der viele aus ihrer Generation auf diese „unschuldigen“ Anfangsjahre zurückblicken, lässt sie sich jedoch nicht vereinnahmen. „Ich will auf keinen Fall, dass es wieder so wird wie in den 90ern. Es gab fiese Mafiageschichten. Und dann die Kommerzialisierung, das ist jetzt alles durch. Jetzt gibt es geile Clubbetreiber, die Clubs als soziale Orte machen, toll designt und konzipiert. Professionalisierung ist nicht unbedingt etwas Schlechtes“, findet Ellen.
Auch auf ihrem mittlerweile achten Album setzt sie sich mit dem Thema Nostalgie auseinander. Nost klammert den zweiten Teil des Wortes „álgos“ (griechisch für „Schmerz“) einfach aus und konzentriert sich nur auf „nóstos“, was „Heimkehr“ oder „Rückkehr“ bedeutet. „Für mich ist Nostalgie, wenn ich die Musik von früher spiele und spüre, wie stark die immer noch berührt. Ich hab dann dieses Nostalgieempfinden, aber ohne Trauma. Ohne den Wunsch, dass es wieder so werden soll wie früher.“ Soundmäßig ist Nost ein Querschnitt durch Ellens musikalische Sozialisation: Analoger Techno, hypnotische Trance-Elemente, Housegrooves, giftige Acidsounds und scheppernde Hi-Hats beschwören Erinnerungen herauf. „Das ist wie ein Diary, das sind Drogenerlebnisse, Freundschaften, Affären, Clubs, wo ich gespielt habe, Sachen, die passiert sind auf Reisen, das wird alles wieder abgerufen durch die Musik“, beschreibt sie.
Auch in ihren Sets vermischt Ellen aktuelle Produktionen mit den Classics ihrer Sammlung. 12.000 Platten hatte sie mal, mittlerweile hat sie sich etwa um die Hälfte reduziert – und das sind nur die absolut auserwählten Scheiben. Für ihren Gig im Nitsa hat sie heute ungefähr 60 Platten im Gepäck, wobei sie zur Sicherheit immer auch MP3s dabei hat. Mittlerweile seien viele der Clubs, in denen sie spiele, nicht mehr richtig auf Vinyl eingestellt, da sei es gut, vorbereitet zu sein. Für ihren Gig im Nitsa soll sie damit recht behalten. Gegen halb 3 Uhr morgens sitze ich wieder in der Hotellobby und warte auf Ellen, die sich wie gewöhnlich nach dem Artist-Dinner noch einmal für ein paar Stunden hingelegt hat. Sich nach einem ausgiebigen Abendessen mit etlichen Gläsern Wein schlafen zu legen und nach zwei Stunden wieder aus dem Bett zu quälen nimmt mir mein Körper übel. Gähnend wünsche ich mir einen Kaffee, als Ellen taufrisch und blendender Laune den Plattenkoffer aus dem Aufzug rollt.