Es ist 4:27 Uhr an einem verregneten Freitagmorgen, als wir uns im Zug zum Flughafen Berlin-Schönefeld mit einer Mischung aus gegenseitigem Mitgefühl und Selbstmitleid angrinsen. Es wird ein langer Tag werden, der erste eines langen Wochenendes.
Wer das Amsterdam Dance Event besucht, muss schon ein bisschen wahnsinnig sein. Das beweist ein Blick auf die bloßen Zahlen: Allein in diesem Jahr finden in der niederländischen Hauptstadt 1001 Einzelveranstaltungen statt, in deren Rahmen 2289 Acts auftreten und 510 weitere Menschen an über die Stadt verteilte Workshops, Diskussionen und Künstlergesprächen teilnehmen – und das alles innerhalb von nur fünf Tagen! Nicht zu vergessen all die Ausstellungen und Filmvorführungen, die parallel über die Stadt verstreut stattfinden. Zudem das ADE nach einer Art „party in the front, business in the back“-Prinzip funktioniert: Während die letzten dort nach einer langen Nacht nach Hause stolpern, sitzen andere schon wieder in Meetings zusammen. Ein bisschen ist es so, als würden alle ihren eigenen Bauchladen durch Amsterdam schieben, immer auf der Suche nach Netzwerkgelegenheiten – und es wenn es sich dabei nur um Gratis-WiFi handelt.
Das bedeutete erfreulicher Weise ebenfalls, dass viele Unternehmen vor Ort ihre Gear testen ließen.
Inmitten des Wahnsinns spielen sich um kuriosere Szenen ab. Der nette Typ, der uns den Aufzug erklärt? Irgendein EDM-Superstar, wie wir später über Instagram herausfinden. In eben jenem Fahrstuhl, mehrere Stunden später: The Black Madonna, die kurz darauf wieder hinter den Decks herumturnt, als habe sie nicht gerade vor Erschöpfung aufgestöhnt. Am Sonntagmorgen kurz nach dem Auschecken dann dieser Typ, der nicht geschlafen hat, aber zum Spaziergang einlädt – was der wohl eigentlich wollte?
Es ist schlicht unmöglich, das ADE als Gesamtheit zu erleben, vielmehr setzt sich das ADE-Erlebnis aus vielen kleinen Episoden und Momenten zusammen, die sich nur schwerlich zu einem big picture verdichten wollen. ADE ist das, was passiert, während du versuchst deinen Zeitplan einzuhalten. Das Endergebnis ist jedoch immer dasselbe: abgewetzte Schuhsohlen. Obwohl in Amsterdam fast alles fußläufig zu erreichen ist, macht es allein die Masse an Veranstaltungen unmöglich, nicht mit einer Extraportion Wadenmuskulatur nach Hause zu kommen.
Wenn gesessen wurde, dann wurde geredet: Hier spricht DJ Pierre über die Magie der TR-303 und Acid House.
Schon der Freitagabend zwingt zu Entscheidungen: In Ruhe zu Abend essen oder doch zu David August & Ensemble ins Melkweg hetzen? Mal wieder bei Carl Cox vorbeischauen oder doch beim Dekmantel-Showcase alten Berghain-Bekanntschaften wie Ben Klock und Marcel Dettmann über den Weg laufen? Oder wenn Seth Troxler schon acht Stunden am Stück spielt, warum nicht zumindest eine davon mitnehmen? Ebenso wie im Falle Jeff Mills‘, der mit „The Tunnel“ ein vielversprechendes Live-Konzept angekündigt hatte.
Das Überangebot des ADE, es hat seine Vor- und Nachteile. Vor allem sorgt es dafür, dass die Konfrontation mit dir unbekannten Acts kaum stattfindet. Wenn du auf EDM-Superstars wie David Guetta scharf bist, kannst du dir ausschließlich die geben. Wenn du es hingegen lieber undergroundig magst, dann musst du deine persönliche Blase ebenso wenig verlassen.
Als der erste, lange Tag nach Besuchen im Studio 80 und dem im siebten Stockwerk eines Hotelkomplexes gelegenen Canvas op de 7e rum ist, folgt ein unruhiger Schlaf, der abrupt durch jaulenden Feueralarm beendet wird. Die Party hört an diesem Wochenende nicht auf, sondern wird inklusive Zigarettenrauch aufs Hotelzimmer mitgenommen.
Für einen Besuch bei Rush Hour wurde selbstverständlich Zeit eingeräumt!
Am nächsten Morgen (nach ADE-Zeitrechnung: gegen zwei Uhr mittags) streunen verfeierte Kleingruppen wie in einer Szene aus The Walking Dead durch die Straßen Amsterdams, während anderswo schon wieder fleißig diskutiert, gemeetet und genetzwerkelt wird. Wer sich ein wenig an der neuesten Gear ausprobieren will, hat jedoch selbstverständlich ebenfalls die Möglichkeit. Ebenfalls verlockend ist ein Besuch im Rush Hour-Store, in dem ähnlich klaustrophobische Zustände herrschen wie auf einem Dancefloor, von denen an diesem Wochenende das Gedrängel nicht wegzudenken ist. Exklusive Releases wie etwa Neuauflagen vergriffener Russian Torrent Versions-Singles ziehen reihenweise übermüdete Gestalten an die Crates.
À propos verlockend: Im Rahmen des nicht nur großzügig kuratierten, sondern auch straff organisierten Festivals wird an jede Eventualität gedacht. Schon vorab kursierten Berichte, nach denen die Amsterdamer Behörden bei bis zu fünf Ecstasy-Pillen ein Auge zudrücken würden, an denen aber selbstverständlich nichts dran war. Das ADE selbst warnte vor hochdosierten Pillen, die ausgerechnet mit Festival-Logo in markantem gelben Farbton daherkamen. Die Professionalität wie auch Kulanz, mit der die Clubs durchgriffen, wird im Studio 80 offensichtlich: Als sich ein Clubbesucher in einer schummrigen Ecke mit einem gerollten Geldschein auf Schnorcheltour begeben will, fährt sogleich die Hand eines Security-Mitglieds dazwischen. Für den Besucher geht es nach einer (wohl eher mehrminütigen) Schrecksekunde schnurstracks durch den Eingang an einer Sammelbox für „wapens“ und „drugs“ vorbei heraus ins Freie.
Unser klares Highlight: Richard Devines Modular-Set.
Wer aber aus einem Club fliegt, braucht nicht weit bis zum nächsten guten Angebot laufen: Am Samstagabend gibt der Modular-Übernerd Richard Devine eines des besten und visionärsten Sets, das im Rahmen des gesamten Festivals zu hören war – oder zumindest in Relation zu dem kleinen Ausschnitt, den wir erlebten. Nach einem zaghaften Auftakt mit viel Plinkern und Plonken schichtet sich die Musik zu gleichermaßen packenden wie komplexen Rhythmen, die die jüngere Veröffentlichungsflut von Richard D. James zu einem müden Plätschern degradiert. Währenddessen tauchen Aether und Houndstooth mit Acts wie Aïsha Devi und Throwing Snow die Sugarfactory mit einer Dunkelheit, die nur von düsteren Visuals durchbrochen wird. Danach gilt es wieder, Entscheidungen zu treffen: Die Warp-Nacht mit unter anderem Evian Christ? Ein Showcase von MORD Records vor industrieller Kulisse? Gerd Janson und Move D back-to-back? Life And Death auf ganzen vier Floors? Die gemeinsam von Rush Hour und L.I.E.S. organisierte Nacht im abgelegenen Radion? Nur eines ist klar: Der Schlaf muss wieder warten und die zwickenden Waden werden schlicht ignoriert.
Am Ende dieses langen Wochenendes grinsen wir uns im Zug, der uns diesmal vom Flughafen nach Hause bringt, erneut an. Diesmal mit einer Mischung aus Erschöpfung und ein bisschen Glückseligkeit. Es braucht vielleicht ein bisschen Wahnsinn, um sich dem ADE hinzugeben. Spannender als die Normalität ist das aber allemal.