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MARCEL DETTMANN Zuhause. Im Club.

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Text: Alexis Waltz, Fotos: Lisa Khanna
Erstmals erschienen in Groove 144 (September/Oktober 2013)

Das Berliner Berghain wäre nicht ohne Marcel Dettmann vorstellbar. Und Dettmann nicht ohne den Club. Kaum ein anderer Musiker hat das Technorevival der vergangenen Jahre so geprägt wie er. Jetzt erscheint sein zweites Album – eine Gelegenheit, ihm im Berghain auf die Finger zu schauen.

 

Um kurz nach Mitternacht spielt Marcel Dettmann auf der monumentalen Funktion-One-Anlage des Berliner Berghain das erste Stück – einen Ambient-Track von Arpanet. Zeit zu verschnaufen war nicht. Dettmann hat den Club vor zehn Minuten betreten. Noch am Abend hat er im Ushuaïa auf Ibiza gespielt. Durch einen verspäteten Flieger war keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren und die Platten für das Opening-Set zu holen. So hat Dettmann die Tracks im Flugzeug auf dem Laptop zusammengesucht. Das Ushuaïa ist zugleich Club und Luxushotel. Loco Dice hatte Dettmann zu seiner „Used & Abused“-Party eingeladen: „Das war das totale Kontrastprogramm. Mein Ort ist das nicht. Aber es hat funktioniert.“ Sein kantiges Gesicht formt sich zu einem breiten, zufriedenen Strahlen. Der Jubel der Raver Ibizas scheint sich noch in seinen Augen zu spiegeln.

Die DJ-Kanzel des Berghain ist spartanisch ausgestattet. Schwarz lackiertes Holz, funktional gezimmert in der hauseigenen Werkstatt des Clubs. Zwei Technics-Plattenspieler, drei Pioneer CDJ-CD-Player mit USB-Docks und ein Allen & Heath-Mixer. Marcel Dettmann (Foto: Lisa Khanna)Hinter dem geheimnisvollen, schwarzen Vorhang verbirgt sich nur ein Flur mit zwei Türen: Die eine führt zur DJ-Toilette, die andere in die administrativen Räume des Clubs. Durch den komplizierten Einlass tröpfelt das Publikum in den Club. Die blauen Scheinwerfer modellieren die Umrisse der einzelnen Gestalten heraus und verleihen ihnen eine matt schimmernde Aura irgendwo zwischen Film Noir und Science Fiction. Ein Rudel Briten in weiten, weißen Hemden mit geröteten, frischrasierten Wangen stürzt durch die Räume. An der Bar findet ein Date statt. Sie schaut beschwörend in sein verständnisloses Gesicht: „She is my very best friend here.“ Auf dem Boden vor einer der riesigen Funktion-One-Boxen hat sich eine Gruppe US-Amerikaner niedergelassen. Sie lauschen dem detaillierten Bericht über die Frühstücksgewohnheiten einer Mitbewohnerin. Zwei Französinnen mit Rucksäcken und Skater-Schuhen stehen mitten auf der Tanzfläche und blicken Dettmann erwartungsvoll an. Ein Lockenschopf mit Nerd-Brille wiegt seinen mageren Körper im bloß angedeuteten Groove der Ambient-Tracks von Aphex Twin und Scorn. Die Stücke bestehen meist nicht aus mehr als zwei oder drei Klangfiguren. Musikalität oder Kunstfertigkeit muss nicht unter Beweis gestellt werden. Die sparsamen, fremdartigen Geräusche ergeben keinen Ocean of Sound, der einen in das Fruchtwasser der Gebärmutter zurückversetzen will. Die Anmut dieser Tracks liegt darin, dass sie keine musikalische Sprache sprechen. Die spröden Klänge stehen für sich. Dettmann ist über das DJ-Pult gebeugt. Seine symmetrisch gescheitelte Wikinger-Mähne umrahmt sein Gesicht. Der konzentrierte Blick ist auf den Mixer gerichtet. Seine Zigarette glüht auf.

Um viertel vor eins erklingt der erste Groove, erleichtert beginnt die Crowd zu wogen. Statt deepem Techno erklingt aber ein eigentümlicher Breakbeat, der das Set ganz woanders aufhängt, als man es erwartet hätte: „Das Stück ist von David Lynch, aus dem Album Crazy Clown Time. Ich bin ein riesen Lynch-Fan, hab es natürlich sofort gekauft und dann auf einem Flug diesen Track entdeckt.“ Danach geht Dettmann zu ruhigen, raumgreifenden Technotracks um die 120 BPM über, etwa von Moritz von Oswalds und Juan Atkins neuem gemeinsamen Album. Diese Musik zielt nicht allein auf die Tanzfläche, sie füllt den gesamten Raum aus. Über die hypnotische Drei-Ton-Basslines von „Rhythmus 1“ von Jeremy von 1997 vergisst man alles andere: „Radio Slave hat das mal bei einem gemeinsamen back-to-back-Set gespielt und ich dachte: Mann, geil, die hab ich doch auch. Das ist ein klassischer Berghain-Opening-Track. Da gibt es zehn Platten, die immer dabei sind. Ohne, dass man sie immer spielen würde. Mike Huckabys Remix von Precessions ‚Sandcastle‘ gehört auch dazu.“ Ein weiterer Höhepunkt ist ein Track von Eduardo de la Calle: „Den kenn ich von seiner ‚Analog Solution‘-Serie. Das waren Edits von Carl Craig Tracks, die strippt er so ein bisschen runter. Sie haben diese Deepness und sind trotzdem catchy. Da ist alles drin: Wärme, Kälte, Tiefe. Serge von Clone Records hatte mich damals darauf aufmerksam gemacht.“

Hin und wieder kommt ein Fan oder ein Bekannter und gibt Dettmann Platten. Sein Booker schaut herein und bringt eine Runde Wodka-Shots. Keine Entourage, keine Kumpelclique, keine Groupies, keine Drogendealer: ein Mann und seine Musik.

Techno im Spreewald

Dettmann, 1977 geboren, ist in einem Plattenbau im Brandenburgischen Fürstenwalde aufgewachsen, etwa 50 Kilometer von Berlin. Das DDR-Regime taucht in seiner Kindheit nur am Rande auf. Vielmehr wurde sie von den geheimnisvollen Moor- und Auenlandschaften des Spreewalds geprägt. Mit sechs begann er Fußball zu spielen. Mit neun wechselte er zum Judo und wurde DDR-Meister. „Ich bin bis zum Blauen Gürtel gekommen. Ich war nie Mannschaftssportler. Ich bin sehr dominant. Das merke ich auch beim Musikmachen. Ich will am liebsten immer die Richtung vorgeben.“

 

„Ich war nie Mannschaftssportler, das merke ich auch beim Musikmachen.“

 

Die Mauer fiel. Die Kindheitsthemen Sport und Natur wichen Musik und Mädchen: „Früher hörte ich Madonna und die Pet Shop Boys, und im Jugendclub sagte ein in der DDR ausgebildeter DJ aktuelle Popmusik von The Cure bis Sade an. Nach der Wende kamen die härteren Sachen, Front 242, Nitzer Ebb. Das ist für mich Pre-Techno. Ich war aber nie aggressiv. Andere haben sich auf der Straße geprügelt. Ich bin tanzen gegangen und hab zu Hause laut Musik gehört. Das mache ich noch heute so: Ich lebe meine Gefühlswelten mit Musik aus.“

Dettmann gab jeden Cent für Platten aus. 1992 fiel ihm eine Compilation mit dem Titel Logic Trance in die Hände: „Da dachte ich: Jetzt mal Techno. Der Plattenhändler in Fürstenwalde gab mir „Der Klang der Familie“ von 3 Phase feat. Dr. Motte, damals ein großer Hit. Bald hatte er vier- oder fünfhundert House- und Technoplatten dort stehen. Durch die hat man sich immer wieder durchgewuselt. Wir waren fünf oder sechs Leute. Wenn ich zwei Platten in der Woche gekauft hab, war das viel.“

Einer der fünf bis sechs war Marcel Fengler, der heute auch Berghain-Resident ist. Bald lernte Dettmann den fünf Jahre älteren Norman Nodge kennen, der schon Technopartys in Frankfurt/Oder und Beskow veranstaltete. 1993 wollte Dettmanns Clique dann auch Partys machen. Sie hatten aber keine Ahnung wie: „Ich war nie der Typ, der zum DJ-Pult gegangen ist und die DJs beobachtet hat. Das war mir immer zu blöd.“ Ihr Musiklehrer aus der Schule steckte ihnen, dass sie einen Mixer brauchen: „Da war ich in der zehnten Klasse. Die ersten Partys fanden zwischen sechs bis um zehn im Jugendclub statt. Die engsten Freunde standen rum und guckten, was wir da machen.“

Natürlich fuhr die Clique auch nach Berlin in den Tresor: „Ein paar waren auf dem Parkplatz, ein paar waren drin. Dann ist man wieder raus, dann wieder rein. Irgendwann ist man wieder nach Hause gefahren.“ Sein Lieblingsclub war ab 1994 das E-Werk: „Der Tresor war Techno, das E-Werk war breiter gefächert. Die DJs Woody und Disko waren zum Beispiel Charaktere. Woody war sehr divers und probierte ständig neue Sachen aus, Disko spielte eher treibend.“

Immer wieder tauchen Dettmanns DJ-Helden auf, Jonzon oder Rok. Keinem seiner Berliner Idole ist ein internationaler Durchbruch gelungen. Manche sind komplett vergessen, wie Gerard aus Frankfurt/Oder: „Der war ein super DJ. Er war der erste in meiner Gegend, der damals Platten von Robert Hood, Jeff Mills oder Planetery Assault Systems gespielt hat. Er war bekannt für seine psychedelischen Techno-Sets.“

Topf, Deckel, Suppe

Die Schule war aus. Dettmann begann eine kaufmännische Ausbildung – und brach sie bald ab. Er lieh sich von seiner Mutter Geld, um selbst von Hause aus Platten zu verkaufen: „Das war es, was ich machen wollte. Alles andere bereitete mir Bauchschmerzen. Alles, was mich interessiert hat, habe ich auch weitergegeben. An die sechs Leute. Finanziell war das natürlich eine Nullnummer, das hab ich dann durch meine Gigs ausgeglichen. So habe ich mir aber meine Plattensammlung aufgebaut.“ Schon damals war der Plattenladen- und Vertriebsverbund Hard Wax die zentrale Inspiration. Ganz besonders liebte er Green Velvets Label Relief Records: „Wenn jemand im Techno von Punk Musik spricht, dann war das definitiv Punk Musik für mich. Das war rotzfrecher Kram. Total verrückt.“

Das Ende des E-Werks 1997 erzeugte für Dettmann ein Vakuum: „Silvester 1998/99 machte das Ostgut auf. Ein Freund von mir war da. Obwohl nur 250 Leute dort waren, hat es ihn begeistert. Das fing alles erst an zu wachsen. Die Jungs waren auch wirklich eisern und haben das durchgezogen. Das macht sie bis heute aus.“

Ein Freud gab ein Tape von Dettmann ab. Irgendwann rief Ostgut-Macher Michael Teufele an: „Wir haben dein Tape beim Saubermachen gehört. Fanden wir super.“ Einige Monate später wurde Dettmann Resident: „Da war ich schon seit sechs Jahren DJ. Das Lernen fing trotzdem erst an. Es gab einen lustigen Abend, da hab ich den Schluss gemacht. Irgendwann stand ich mit nacktem Oberkörper da. So betrunken, dass ich gar nicht gemerkt hab, dass nur noch die Monitorboxen liefen. Drei Tage später rief Michael an: So geht´s gar nicht. Das meine ich mit dazulernen, dass man auch mal einen vor den Bug kriegt: jetzt mach mal nicht den Popstar.“

 

Marcel Dettmann (Foto: Lisa Khanna)

 

Heute gilt das Ostgut als Keimzelle für das Berliner Nachtleben der Gegenwart. Für Dettmann änderte sich zunächst gar nicht so viel. Zu den Gigs in Ost-Deutschland kam einmal im Monat das Ostgut dazu. Dann wurde er auch noch vom Hard Wax rekrutiert. Es war immer ein großer Traum von ihm, für diese Techno-Institution zu arbeiten. Erst da zog er nach Berlin: „Das war das Paket: Hard Wax und Ostgut. Deswegen kann ich nur sagen: Das ist wie Topf und Deckel. Ich bin die Suppe.“ Marcel packte Plattenpakete, bediente Kunden im Laden und wurde bald Einkäufer für Kontinentaleuropa: „Das war für mich das Größte. Ich wollte alles aufsaugen.“

Dettmann fing vergleichsweise spät an zu produzieren. Seine erste Platte veröffentlichte er 2006, nachdem er bereits zwölf Jahre lang als DJ aktiv war. Bis heute sind sechszehn Maxis, ein Album und diverse Remixe erschienen. Seine Tracks handeln wie seine Sets von Düsterkeit, Dirtyness, Monotonie, Futurismus, Fremdartigkeit und Partyspaß. Sie beziehen den Klangkosmos der Hard Wax-Schule auf die Erfahrung im Club.

An Ostgut Ton-Veröffentlichungen geht Dettmann überlegter ran, sie sollen auch einem experimentellen Anspruch genügen. Releases auf dem eigenen Label Marcel Dettmann Records (MDR) oder auf 50 Weapons entstehen oft spontan. Dettmann erstaunt der Erfolg seiner aktuellen 50Weapons-Single „Linux“: Die dreckige, punkige Chicago-Nummer ist schon vor sechs Jahren entstanden.

Der Ausgangspunkt für sein neues Album war „Aim“: Das Grundgerüst dieses Tracks wurde in einer Session mit Shed produziert. Dettmann hat es weiterverarbeitet. Die mit diesem Stück eingeschlagene Richtung schien noch mehr Potenzial zu haben. Es gab aber keinen festen Plan, ein ganzes Album zu veröffentlichen. Wenn sich die „Aim“-Sessions als unproduktiv erwiesen hätten, wäre jetzt keines rausgekommen. Immer wieder betont Dettmann, wie wichtig das Zuhören beim Produzieren ist.

Als nächstes Projekt steht eine MDR-Compilation mit neuen Tracks aller Künstler an, die Ende des Jahres erscheinen soll. Ferner will er mit Modeselektor ins Studio gehen. Bis jetzt ist dieses Vorhaben (ebenso wie weitere Sessions mit Shed) an den übervollen Kalendern beider Seiten gescheitert.

Der DJ als Gefühlsmensch

Für das schwule Stammpublikum ist es noch zu früh. Unter Berliner Ravern hat es sich schon lange eingebürgert, erst am Sonntag in die Party einzusteigen. So bleibt die Crowd sehr gemischt. Iberische Hochleistungstänzer und Westdeutsche Oberschüler teilen nicht mehr und nicht weniger als ihre Lust zu feiern, ihre Neugierde auf den Laden und die Musik. Dass sie in ihrem Leben noch nie zusammen gefeiert haben und wahrscheinlich auch nie wieder zusammen feiern werden, erzeugt eine bestimmte Anonymität, aber einen einmaligen Moment. Dettmann beendet das Deep-Techno-Kapitel mit „Backstage Frigde“ von Tim Wolff. Die Grooves bekommen jetzt eine andere Färbung: kompakter, gradliniger, fordernder. Einer der Höhepunkte des Sets ist eine irrwitzige Acid-Nummer, die den quitschigen Acid-Sounds ihre Vertracktheit nimmt und sie ins Ravige öffnet. Im Display steht nur Rod: „Das ist ein unveröffentlichter Track von Benny Rodrigues, den er mir gegeben hat.“

Die Unberechenbarkeit, die Dettmann als Jugendlicher an Rok oder Jonzon geliebt hat, entsteht heute nicht nur durch den Kontrast von bekannt und unbekannt, sondern auch durch den von alt und neu: Marcel Dettmann (Foto: Lisa Khanna)„Zwischendrin ein Track, den du vor Ewigkeiten das letzte Mal gehört hast. Dann spielst du den drei, vier Mal. Du verbindest ja auch was mit ´ner Platte – egal, ob du sie irgendwo gehört oder selbst aufgelegt hast. Zu jeder Platte gibt es ein Bild, wie ein Urlaubsfoto.“

Dettmann hat seine Crowd vom ersten bis zum letzten Moment. Sie will den ganzen Arm, er gibt ihr einen Finger nach dem anderen. Während der Ambient-Phase wollen sie Grooves, in der Basic Channel-Sequenz Hits. Dettmann scheint unbeirrbar und frei von Irritationsmomenten. Weit gefehlt: „Ich liebe das Berghain so: da kannst du einfach spielen, frei Schnauze und alles, was du willst. Wenn ich in der Panorama Bar spiele, denke ich: uh, bloß nicht zu hart. Wenn ich im Amnesia spiele, auf dem Technofloor, denke ich: bloß nicht zu soft. Das ist total bescheuert. Es gibt auch das Fettnäpfchen, wo du denkst: das war hier jetzt aber der falsche Track. Es gibt ja so Momente, wo du die Leute so hast. Dann spielst du das nächste Stück, und du denkst: der passt jetzt nicht. Du bist wahrscheinlich der einzige, der das denkt. Mich nervt das wahnsinnig, wenn das so verkopft wird. Da ist es am besten, nicht an die Leute zu denken, sondern sich zu fragen, was man selbst am liebsten hören würde.“

Die meiste Zeit verbringt der Travelling-DJ allein, in Warteräumen am Flughafen, in Hotelzimmern. Er tritt meist hinter das DJ-Pult, wenn die Party schon im vollen Gang ist. Innerhalb weniger Momente macht er den Sprung von draußen ins Zentrum der Party: „Es wird schwierig, wenn der erste Abend am Wochenende schon wahnsinnig gut läuft. Sprich, du wirklich ‘ne großartige Party hattest. Dann bist du schon auf einem ganz anderen Level. Wenn die nächste Party dann nur ein bisschen schwächer ist, wirft es dich raus. Da reicht schon eine springende Nadel. Das ist schwer nachzuvollziehen. Ich bin da ein wahnsinniger Gefühlsmensch.“

Die Aufgabe des DJs ist paradox: Er muss sich auf das Publikum einlassen und doch den roten Faden vorgeben. Seine Arbeit geht in dem Moment auf. Die Aufmerksamkeit für einen DJ wird aber doch von dem Ruf bestimmt, der ihm vorauseilt, der bewirkt, dass er überhaupt gebucht wird. Mit seinem Namen, seiner Geschichte, seinen Releases steht Dettmann für etwas, zu dem er sich immer wieder neu in Beziehung setzen muss: „Genau das will ich ja nicht. Was ist denn Berghain-Techno? Sind die Tracks, die ich gespielt habe, Berghain-Techno? Klar ist das für die Orientierung der Leute wichtig. Aber ein DJ ist idealerweise divers.“

 

„Bei Tracks geht es am Ende darum, dass man den Menschen raus hört.“

 

Samstag von fünf bis sieben im Ushuaïa, ab Mitternacht im Berghain, am Sonntag bei „Tea in the Park” in Glasgow, am Montag bei Cocoon im Amnesia auf Ibiza, am Dienstag auf der Cocoon Afterhour am Strand mit Frau und Kind: „Die war ganz chillig, nicht so wie man sich eine Afterhour vorstellt“. Am Mittwoch findet unser Interview direkt nach seiner Ankunft in Berlin statt. Am nächsten Tag um zwei geht es nach Portugal. Sein Limit liegt bei sechs Gigs in Folge. „Wenn man sich dann noch vorstellt, dass so ein Berghain-Closing mit zwölf Stunden dazu kommt, bist du platt. Ausgelaugt. Nicht nur körperlich, weil du so viel geflogen bist und so viel laute Musik gehört hast. Weil du so viele Eindrücke hattest: Orte, Menschen, Restaurants. Der Montag ist für mich und meine Familie dann der Sonntag. Wir versuchen einen Tag lang, die Handys und Laptops aus zu machen. Höchstens abends beim Glas Wein gucken, ob wichtige E-Mails reingekommen sind. Das ist für unsere Familie wichtig, dass man auch mal in den Zoo fährt.“

Die geile Melo

Im vierten Teil des Sets wird Dettmann reduzierter, konzentrierter. Ritzi Lees „Reverse Processed“ ist in dieser Phase ein Höhepunkt: „Das spiel ich gern und oft.“ Nach viereinhalb Stunden ist Untolds „Motion The Dance“ der vorletzte Track: „Die spiele ich seit einem Jahr fast in jedem Set, die ist großartig. Reduziert, dann wieder sehr melodiös. Die Dubstep-Jungs sind meistens sehr aufgeräumt. Als Technoproduzent kommt man immer an den Punkt, wo es matschig wird. Wo man aufräumen muss. Obwohl man gar nicht so viele Spuren hat. Bass und Bassdrum zu kombinieren ist die Kunst – das Problem haben diese Leute nicht. Die gebrochene Kickdrum gibt dem Bass mehr Raum.“ Als letztes spielt er „010x“ von Benjamin Damage, das an Sheds „Inner City“-Interpretation erinnert. Es ist poppig, aber doch spröde, eingängig aber doch tiefsinnig. Dettmann tippt die Chords in die Luft: „Das ist, was mich an Musik anmacht. Dass ein Stück verschiedene Stimmungen beinhalten kann. Man kann aber auch einfach nur ´ne Kickdrum durchlaufen lassen und auf eine Busspur ein Delay legen – und das ist dann schon der Track. Ein Problem ist, dass du irgendwann zu sehr Nerd wirst und Sachen zu banal findest. Am Ende geht es darum, dass man den Menschen raus hört. Es geht um den Mut, Persönlichkeit reinzubringen, eine Stimmung einzufangen. Wenn du ´ne geile Melo drin hast, lass sie drin und mach den Track fertig. Sag nicht: Ist das jetzt zu melodiös?“

 


Download: Marcel DettmannGroove Podcast 22

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