burger
burger

DIE TECHNO-DIALEKTIK

Zwei Thesen, zwei Antithesen

- Advertisement -
- Advertisement -

Illustration: Super Quiet
Erstmals erschienen in Groove 158 (Januar/Februar 2016)

 

2015 war ein langweiliges Jahr im Techno

Langeweile war 2015 das (in-)offizielle Konsensgefühl. Am Lautesten bemängelte vielleicht Levon Vincent die zunehmende Eintönigkeit: Als er via Facebook mitteilte, dass er von all der „angry music“ angeödet sei, stimmten ihm nicht nur KiNK oder Steve Bug zu. „Es fühlt sich so an, als wären alle Technohits bereits geschrieben“, sagte auch Rødhad, der den Wiedererkennungswert heutiger Technotracks vermisse. Wenn man als DJ wöchentlich mit 300 Promos zugeballert wird, bekommt der Homogenitätsverdacht natürlich eine Menge Munition. Die Behauptung, dass der sogenannte „Funeral Techno“ (Dustin Zahn) in einer ermattenden Overload-Situation stecke, lässt sich jedenfalls nicht von der Hand weisen. Im Techno fehlten dieses Jahr sicherlich die großen Überraschungen. Dafür ist das Mehr an Labels und Releases für einen Qualitätsanstieg im Mittelbauch verantwortlich. Der Durchschnitt ist deutlich besser geworden – immerhin.

 

2015 war ein spannendes Jahr im Techno

Richtig, es fehlten die großen und neuen Reize im Genre. Aber Moment, braucht es diese überhaupt? Weil Techno die letzte große Revolution der Musikgeschichte war, wird die Debatte über fehlende Innovationen eben auch nicht das erste Mal geführt. Dass Techno gerade dann überzeugt, wenn er sich auf seine Wurzeln besinnt, zeigten 2015 die tollen Alben von Patrice Scott, Amir Alexander und Basic Soul Unit. Für das Überangebot der für den Berghain-Floor produzierten Tools sollte jedenfalls nicht die Fortschrittsmaxime angesetzt werden: techno is techno is techno. Viel spannender waren jene Arbeiten, mit ihrem forschenden Gusto quasi-neue Expeditionen wagten. Stellvertretend waren hierfür auch Matrixxman und Shackleton, weil sie sich des Urgedankens – Techno als futuristisches Statement – zwar bewusst sind, und trotzdem verweigerten sich ihre Produktionen einer lediglich post-apokalyptischen Ästhetik.

 

Der Underground ist tot!

Beinahe alle Ecken der elektronischen Musik werden heute, wie noch nie zuvor, mit einer kommerziellen Geschwindigkeit durchleuchtet, angeboten und konsumiert. Es ist beeindruckend, respektive erschreckend, wie viel Content heute um Leute, die elektronische Musik machen und auflegen, generiert wird. Neben der hauptsächlichen Kultur, die auf den Dancefloors und in Plattenläden stattfindet und zelebriert wird, ist eine tägliche Onlinekultur entstanden, die alles und jeden unter ein voyeuristisches Mikroskop zerrt. Die Folge: Ein omnipräsenter Dauerzustand des Too Much-Seins. Und weil DJs denken, dass es die Masse will, machen sie fleißig mit. Keine Woche vergeht ohne Selfie, ohne das obligatorische Flughafen-Foto. Die größten Narzissten investieren heute weitaus mehr Energie in ihre Social-Media-Inszenierung als im Studio. Und da jeder nur noch einen Moment einfangen will, um ihn mit anderen zu teilen, statt ihn auch tatsächlich zu erleben, ist ein spürbarer Verdruss entstanden – Stichwort: Müdigkeitsgesellschaft. Sicherlich, über den Underground zu sinnieren, ist ohnehin müßig: Alles eine Frage der Perspektive. Trotzdem befinden wir uns wohl inmitten einer (weiteren) Übergangsphase. Auch die Technoblase ist weiter am Wachsen und der Aufmerksamkeitswahn sollte uns alle mal wieder an eine Weisheit erinnern: Die Liebe wächst mit der Entfernung.

 

Der Underground ist tot – lang lebe der Underground!

Die dröge Uniformität, die Techno in Kleidung, Artwork und Klang nachgesagt wird, könnte auch für seine nihilistische Kraft stehen. Die Umwertung aller Werte als selbstheilender Prozess, der sich in der Geschichte nicht nur im Techno zeigte? Mit anderen Worten: Jeder Boom oder jede Mangelsituation kreiert unweigerlich ein Gegengewicht, einen neuen Underground, der qua seines Wesens leiser, unprätentiöser und trotz des digitalen Zeitalters gerade nicht im Internet zu finden sein könnte. Sondern auf den zahlreichen Partyreihen, wo engmaschige Netzwerke entstehen, wo aus Gästen gerne mal Künstler werden. Stellvertretend für die unbekannten Neuen machen etwa From Another Mind, Partyreihe und Label aus Stuttgart, sowie das offene Kollektiv ∑ (Summe) aus Berlin große Hoffnungen. Gerade auch das anonyme ∑-Grüppchen zieht mit quasi analogen Werten beeindruckenden Schleifen im Facebook-losen Raum. Und wer weiß, vielleicht wird ja 2016 Electro als das „neue“ große Ding wieder erstarken wird. Den einen Underground wird es sowieso nicht (mehr) geben, sondern wie immer schon: Eher Künstler mit unterschiedlichen Werten, Zielen und Visionen. Sicherlich adaptiert Techno (mal wieder) Pop-Mechanismen. Doch die nächste Generation lebt, arbeitet demütig am eigenen Sound und denkt mitunter nicht nur an den schnellen Erfolg, sondern an die Essenz: Nachhaltigkeit!

In diesem Text

Weiterlesen

Features

Paranoid London: Mit praktisch nichts sehr viel erreichen

Groove+ Chicago-Sound, eine illustre Truppe von Sängern und turbulente Auftritte machen Paranoid London zu einem herausragenden britischen House-Act. Lest hier unser Porträt.

Mein Plattenschrank: Answer Code Request

Groove+ Answer Code Request sticht mit seiner Vorliebe für sphärische Breakbeats im Techno heraus – uns stellt er seine Lieblingsplatten vor.

TSVI: „Es muss nicht immer total verrückt sein”

Groove+ In Porträt verrät der Wahllondoner TSVI, wie sein einzigartiger Stilmix entsteht – und wie er als Anunaku Festival-Banger kredenzt.