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TSVI: „Es muss nicht immer total verrückt sein”

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Die Clubmusik wird nun durch und durch global. Die verschiedensten ethnischen Musikrichtungen etwa aus dem Libanon, Kolumbien oder Indonesien mischen sich mit den Techno- oder Breakbeat-Grooves der Metropolen. Zu dieser Bewegung gehört neben Labels wie TraTraTrax oder Nerve Collect und Acts wie Nick León und DJ Plead auch TSVI.

Der Wahl-Londoner mit italienischen Wurzeln fährt dabei mehrgleisig. Die wilden Stilgebilde, die Guglielmo Barzacchini unter diesem Alias veröffentlicht, werden von den geradlinigen Clubtracks als Anunaku flankiert. Gleichzeitig macht er auch noch als Mitbetreiber von Nervous Horizon von sich reden, einem der produktivsten Labels in diesem Zusammenhang. Barzacchini gewährte GROOVE-Autor Leopold Hutter einen kurzen, aber intensiven Einblick in ein Musikleben, das kaum Auszeiten kennt.

Es ist noch früh, als ich TSVI in seinem Londoner Apartment erreiche. An einem grauen, kalten Februarmorgen sitzt Guglielmo Barzacchini, so sein bürgerlicher Name, in Hoodie und Beanie vor seinem Morgenkaffee, während wir über seine Musik und seine Karriere sprechen.

Morgens früh wach zu sein ist für Gu (so nennen ihn die meisten) keine Ausnahme. Er ist einer dieser Produzenten, die am liebsten gleich als erstes ins Studio gehen und mit klarem Kopf einige Stunden arbeiten. Keine verkifften, endlosen Mitternachts-Sessions, dafür ein disziplinierter, regelmäßiger Arbeitsablauf. Deshalb gefällt es ihm auch in London, er schätzt das produktive Klima.

TSVI (Foto: Suleika Mueller)
TSVI (Foto: Suleika Mueller)

Zuerst geht es um sein Label Nervous Horizon, das er mit den Kollegen Wallwork und Federico Ciampolini seit 2015 betreibt und auf dem gerade seine neue Mediterraneo EP (Review) erschienen ist. Darauf vereint er Einflüsse aus Lateinamerika mit seiner italienischen Herkunft, ebenso fließen frühe Inspirationen vom Aufwachsen am Mittelmeer mit ein.

Doch dazu später mehr, erst mal sprechen wir über die Abkehr vom Vinyl bei Nervous Horizon — eine wichtige Entscheidung für ein Label, das versucht, ständig am Zahn der Zeit und ihr vielleicht sogar einen Schritt voraus zu sein. Denn seit der Umstellung auf digitale Vertriebswege gibt es die Möglichkeit, viel schneller zu veröffentlichen. Man muss nicht mehr auf überfüllte Presswerke warten und kann die Musik direkt aus dem Studio in die Clubs bringen. Vinyl funktioniere zwar immer noch für Genres wie House und Techno, die ja irgendwie zeitlos seien, so TSVI, doch die brandaktuelle Clubmusik von ihm und seinen Kolleg:innen muss taufrisch und so bald wie möglich auf die USB-Sticks. Und in Plattensammlungen findet man die funktionalen Tracks seines Labels wahrscheinlich sowieso eher weniger.

„Alle kannten mich nur als den Typen für funktionale Clubtracks. Ich wollte mich endlich weiterentwickeln.”

TSVI

Denn für Barzacchini und seinesgleichen geht es hauptsächlich um perkussive, zweckmäßige Clubmusik, die sich stark von regionalen Nischen beeinflussen lässt. Von Gqom aus Südafrika etwa, Kuduro aus Angola, lateinamerikanischen Rhythmen oder Samples aus dem Mittleren Osten — TSVI selbst nennt das einen „Melting Pot”, der sich im Roster des Labels widerspiegele, das sich über den gesamten Globus verteilt: „Bei uns gibt es kaum Leute aus London, fast jede:r Künstler:in kommt von einem anderen Ort der Erde.” Das ist für ihn so was wie das Manifest von Nervous Horizon.

Für Barzacchini ganz persönlich, und das lässt sich auch auf seiner Mediterraneo EP hören, ist die lateinamerikanische Szene momentan die spannendste. Besonders angetan hat es ihm das in den Neunzigern in der venezolanischen Hauptstadt Caracas entstandene Subgenre Raptor House, das wiederum eine Abwandlung vom britischen Hardhouse war, chaotisch, treibend und bunt, nur eben mit Latino-Drumfills aus diversen Genres wie Raggaeton und Co.

„Ich finde es interessant, dass die Pioniere dieses Sounds in Venezuela ihrerseits wieder vom italienischen und europäischen Trance und Techno dieser Zeit inspiriert wurden. All diese unterschiedlichen Einflüsse habe ich versucht, auf meiner EP zusammenzubringen.” Der Name Mediterraneo orientiert sich an einer kurzen Episode im Italien der Neunziger, als Mediterranean Progressive verschiedene Elemente aus Italo-Dance und Trance vereinte. Das war die Musik, mit der Barzacchini im italienischen Pisa aufwuchs, die damals von Künstlern wie Gigi D’Agostino und Mauro Picotto vorangetrieben wurde, lange bevor sich diese dem EDM-Mainstream verschreiben sollten. „Die EP versucht, den speziellen Vibe dieser Tage, sogar mit italienischen Vocals, einzufangen und mit zeitgenössischen Einflüssen aus Raptor House oder auch Techno zu verbinden. Damit ist sie eigentlich wie jedes andere Nervous-Horizon-Release ein Abbild dessen, was mich während der Schaffensphase am meisten interessiert hat.”

Entstanden ist die EP vor einem Jahr, als TSVI endlich aus einer hartnäckigen, fast dreijährigen Schreibblockade herauskam. Weil sich Clubmusik in einer Pandemie nunmal schlecht schreiben lässt, aber auch, weil er mit starken Selbstzweifeln als Musiker zu kämpfen hatte: „Ich wollte mich endlich weiterentwickeln. Alle kannten mich nur als den Typen für funktionale Clubtracks. Ich wollte auch mal richtige Instrumente ausprobieren, vielleicht sogar selbst singen. Aber es war ja die Pandemie, alle haben plötzlich in ihren Schlafzimmern Ambientmusik gemacht! Das war schon eine recht komische Zeit.” 

TSVI (Foto: Suleika Mueller)
TSVI (Foto: Suleika Mueller)

Aber keine der von ihm eingeschlagenen neuen Richtungen wollte ihm so richtig gefallen. Dann endlich, Anfang 2023, befreite er sich von den beschränkenden Gedanken und gestattete sich, wieder Spaß im Studio zu haben. Die Mediterraneo EP ist das Ergebnis dieses Comebacks. Auch bei seiner Rückkehr in die Clubs als DJ spürte er : „Dance Music ist nunmal das, was ich richtig gut kann! Ich dachte damals immer, es müsse irgendwann noch komplexer werden; ich bräuchte Gitarren, Gesang und so weiter.” Damals hatte ihm Kollegin Avalon Emerson gerade die Demos zu ihrem Live-Band-Projekt (Review) geschickt. „Aber jetzt akzeptiere ich meine eigenen Grenzen und genieße es wieder, Tracks einfach für den Club zu machen.”

Das bedeutet keineswegs, dass Gu keine Lust mehr auf Experimente hat. Er macht jeden Tag Musik. Und wenn es an Inspiration für einen Track mangelt, wird eben an Patches herumgebastelt, werden neue VSTs und Plugins getestet oder die Sample-Datenbank aufgeräumt.

„Diese Herangehensweise gibt mir eine bestimmte Freiheit vom eigenen Anspruch, jedesmal neue Genre-Grenzen zu verschieben.”

TSVI

Beim Produzieren beginnt er meistens mit den Drums. Dann geht es darum, die Beziehung zwischen Bass und Sub zu finden. „Wenn das funktioniert, bin ich schon mal auf einem guten Weg”, lächelt er. Für die Perkussion nutzt er meistens Samples: „Etwa alle zwei Wochen versuche ich einen ganzen Tag nur dafür freizuhalten. Statt Musik zu machen, gehe ich auf YouTube auf die Suche nach Samples. Ich sample tatsächlich viel aus Anleitungsvideos für Trommler. Super ist, wenn die mit richtig guten Mikros aufgenommen wurden und es keine Hintergrundgeräusche gibt. Ich bin wirklich ein Sample-Fanatiker, mein Archiv ist riesig — eigentlich viel zu groß!”

Deshalb brauche es ab und zu die Restriktionen. Dazu dient sein zweites Projekt mit Clubfokus, Anunaku. Dann ist schon mal klar: „Ok, heute wird es ein Anunaku-Track. Ein simpler Groove reicht, ich muss nicht ewig durch meine Samples skippen.” Denn wo es für TSVI-Tracks eigentlich keine Regeln gibt, darf sich Anunaku nur im abgesteckten Bereich um die 130 BPM austoben. Die Tracks sind auch im Arrangement linearer und länger, sie bewegen sich außerdem klar im Gefilde zwischen House, Techno und Breaks.

Alles ist ein wenig simpler gestrickt, nichts ist zu komplex — das macht es für Gu viel leichter, seine Kreativität im Zaum zu halten: „Ich höre sonst so viel verschiedenes Zeug und mache dann am liebsten immer alles gleichzeitig. Ohne Regeln wie diese wären die Anunaku-Tracks nie entstanden. Diese Herangehensweise gibt mir eine bestimmte Freiheit vom eigenen Anspruch, jedes mal neue Genre-Grenzen zu verschieben. Es muss eben nicht immer total verrückt sein. Das ist das Schöne daran, so ein zweites Projekt zu haben. Ich kann mich dann einfach mal entspannen und einen Track basteln, der auf Sommerfestivals auf der Mainstage laufen kann.”

Um allerdings Stücke wie auf der Mediterraneo EP zu bauen, die sich nach Techno, Trance, Italo und lateinamerikanischen Rhythmen anhören, braucht er keine entsprechenden Samples aus dem Originalkontext, sondern nur das Wissen um den jeweiligen regionalen Groove. Es geht nur um das bewusste Einsetzen der perkussiven Elemente, die einen Vibe erzeugen und zum Beispiel einen typischen Dembow-Rhythmus aus dem Reggaeton nachbilden.

TSVI (Foto: Suleika Mueller)
TSVI (Foto: Suleika Mueller)

Was nach der EP als nächstes ansteht? Diverse Veröffentlichungen von bereits auf Nervous Horizon vertretenen Acts, erklärt Barzacchini voller Vorfreude. Besonders nächstes Jahr werde groß, denn dann feiert das Label sein Zehnjähriges, wahrscheinlich mit einer Art Jubiläums-Compilation.

Für TSVI selbst steht fest, dass er jeden Tag in seinem Leben Musik produzieren will. Doch dabei macht ihm manchmal der sich wieder füllende Tourkalender einen Strich durch die Rechnung. Deshalb sei es wichtig, eine Bookingagentur zu haben, die das auch verstehe: „Ich bin in erster Linie Produzent. Wenn zu viele Gigs im Monat reinkommen und dadurch meine Routine im Studio auf der Strecke bleibt, fühle ich mich nicht gut. Das Musikmachen ist als Prozess für mich wichtig. Wenn ich das nicht mehr tun könnte, wüsste ich nicht, wohin mit mir.”

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