Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2025. Alle Texte findet ihr hier.
Wieder ein Jahr rum, auch auf dem Dancefloor und in der immer aufgeblähteren Podcast-Sphäre. Damit ihr zumindest ein wenig den Überblick behaltet, haben wir euch zehn erinnerungswürdige Sets aus der Unübersichtlichkeit gefischt.
Altinbas – Church of Endzeit, San Francisco 04-04-2025
Die Sonne geht über der Golden Gate Bridge auf und San Francisco tanzt zu den hypnotischen Techno Grooves von Altinbas. Der belgisch-türkische DJ und Producer leutet den Frühling ein und feiert mit diesem Mix sein Debüt in der „Belle of the Bay“. Claps und schnelle Hi-Hats kommen hier nicht zu kurz, zwischendurch erklingt das „Piuh Piuh“ einer Science-Fiction-Pistole wie in einem Cartoon. Zukunftserzählungen und -anmutungen ziehen sich durch das gesamte Set – immer wieder tauchen in den Melodien Töne auf, die man aus Sci-Fi-Filmen kennt. Bevor es im letzten Abschnitt nochmal groovig wird, darf sich das Publikum kurz ausruhen. Augen zu und: Tagträumen. Bevor Altinbas die Hörer:innen in der Traumebene verliert, zieht er das Tempo wieder an und rüttelt sie wach. Mit dem typischen „Altinbas-Sound“, den er selbst als „cosmic-themed and forward-thinking“ bezeichnet, wird die Menge aus dem Abend entlassen. Die Türen der Cable Cars gehen auf, ab geht’s nach Hause. Jacob Runge

Azu Tiwaline – Orb Podcast 097 (Orb Mag)
Azu Tiwaline kann für sich beanspruchen, was so viele Pressetexte über so viele Künstler:innen gerne behaupten: Eine eigene Klangsprache entwickelt zu haben. Ganz ohne übertriebenen Ethno-Kitsch und generalisierende Klischees lässt sich über die Tunesierin sagen, dass ihre Musik ihre Herkunft atmet: Weitläufig, dumpf pulsierend und stets in Bewegung, spiegeln ihre Produktionen die Unendlichkeit, Schönheit und Kargheit von Wüstenlandschaften.
Auch ihr Mix fürs Orb Mag entwickelt eine Sogwirkung, wenngleich in anderer Manier. Über eine Stunde hinweg fährt sie alle majestätischen Register der Ambientmusik auf, quasi ohne Spannungsabfall, mit vollem Fokus. Grobkörnig und taktil krachen im ersten Drittel Jóhann Jóhannssons Streicher in die Noise-Abgründe von Ghost Dubs. Der Rest der Tracklist liest sich wie ein All-Star-Treffen aufmerksamkeitsbeanspruchender beatloser Musik. Tiwaline selbst & Al Wootton liefern dumpfes Dub-Grollen, Andrew Pekler fein perlende Elektroakustik, Sigur Rós die größtmögliche Elegie, Caterina Barbieri später noch ihren Genreklassiker „Fantas”. Ein Track nach dem anderen fügt sich in eine Ästhetik, die bei aller Schwerfälligkeit Schwebezustände zulässt, alles ist, aber kein Easy Listening. Azu Tiwaline liefert hier ein Ambient-Set ab, das sich extrem nah an der Perfektion bewegt. Maximilian Fritz

Floating Points @ The Lot Radio 11.07.2025
Live aus Greenpoint, Brooklyn, New York City. Floating Points wurde in das wiedereröffnete The Lot Radio eingeladen. 29 Grad hatte es an diesem Mittwoch in der Stadt, und genauso heiß servierte der promovierte Neurowissenschaftler seine Tracks.
Das Set fängt souly und funky an. Die ersten drei Tracks sind allesamt Singles auf Platte. Man könnte meinen, Floating Points wäre gerade von einer Digging-Tour aus dem Academy Record Annex die sechs Minuten zum The Lot Radio rübergelaufen und probiert jetzt seine Finds aus. Im Set ist auch ein kleines Easter Egg versteckt: Die erste Stunde sitzt Four Tet im Hintergrund und lauscht der Darbietung. Nach einer Stunde verschwindet er dann durch die Tür.
Musikalisch zwängt sich der Mancunian in kein Korsett. Nach einem unglaublichen kongolesischen Track folgt ein Bossa-Nova-Hit. Eine halbe Stunde später geht das Set in eine schöne housige Richtung. Immer mal wieder werden einzelne Tracks durch das Mikrofon angesagt. Zwischendurch ein toller Dub Track, dann wieder feinster Disco.
Das letzte Drittel ist nun ganz der elektronischen Musik gewidmet. Es wird schneller und härter. Von Jungle bis Groove mischt Floating Points vieles gekonnt. Nach zwei kurzen Stunden endet das Spektakel mit einem schön luftigen Lovers-Rock-Record. Der Kreis ist geschlossen, man floatet zum Ende hin. Eine elegante Klangreise unter der Leitung eines stilistisch ungebundenen Genies. Ferdinand Görig

Lux – Nachtipod live from NACHTI 2025 (Nachti)
An diesem Morgen hat jeder Zeit. Die noch wachen Eulen, die wie glückselige Zombies von einem Bein aufs andere stapfen und eine immer tiefere Kuhle in den Sand treiben. Die Lerchen, die sich den willigen Geist und das schwache Fleisch vergnügt ansehen und sich grinsend im silbrigen Abglanz des dubbigen Tech-House suhlen. Und Lux, die das Treiben in der Voliere diktiert, ohnehin. Alleine dafür, wie lange sie den Convextion-Remix von Steffis „Irreversible Cessation” laufen lässt, gebührt Lob. Sie spielt ihr Set am Nachti-Sonntag von 6 bis 8 Uhr morgens und damit einen der wichtigsten Slots des Festivals. Nach ihr werden Richard Akingbehin und Sevensol weiter am Dub-Techno-Rad drehen, bevor Sonja Moonear mit brachialem Tech-House das Ende im Schullandheim Olganitz einläutet. Noch aber sind die Gedanken frei, der Blick über den See gelegentlich von der Nebelmaschine getrübt, die Luft im Morgengrauen unerbittlich kalt. Gut, wenn eine DJ weiß, wie man zumindest das Innerste wärmt. Maximilian Fritz

Perfo – Reclaim Your City 647 (Reclaim Your City)
So vielfältig wie der Sommer in Berlin ist auch das Repertoire von Perfo. In seinem Mix für Reclaim Your City zeigt er gekonnt, dass er sich auf die Gegebenheiten im Club einstellen kann: Sei es die Spielzeit oder die Stimmung des Publikums. Ob langanhaltend und ruhig oder groovy-mitreißend: Beim Hören wird klar – er kann alles.
Wie kürzlich bei seinem Opening-Set im Berghain führt er langsam an die Substanz. Der Match der Tracks ist on point und die Harmonie auf seiner Seite. „L’expérimental, distillé jusqu’à la quintessence”, heißt es in einem Kommentar, der es ganz gut auf den Punkt bringt: Der Franzose reduziert das Experimentelle auf seine Quintessenz und balanciert zwischen roher Detroit‑Ästhetik und einer verspielten, sinnlichen Note. Es wird auf das Wesentliche reduziert, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Wie in seinem Schaffen als Producer auf Labels wie MORD, 47 oder Hayes zeigt er: Komplexität und Minimalismus schließen sich nicht aus. Jacob Runge

PLO Man – RA.988 (Resident Advisor)
Soundcloud-Profil und Website sind abgeschaltet, auf Spotify gibt es keinen einzigen Track von ihm, auf Instagram war er nie. Man kennt PLO Man als Macher von Acting Press, dem Berliner Label, das ähnlich wie Acido oder SUED für einen verschrobenen, analogen House-Sound steht. Er hat sich auch als Producer und besonders als DJ einen Namen gemacht, wo er mit seinen liebevoll produzierten, thematisch ausgerichteten Mixtapes Akzente setzt, die oft nur bei einer einzigen Veranstaltung erhältlich sind. Durch seinen RA-Mix zieht sich der puristische Minimal-House-Sound der Zweitausender von Kotai + Mo, Baby Ford, Zip oder Ricardo Villalobos, der mit einem unveröffentlichten Track vertreten ist.
Deren Stücke versenken sich mit einer heute ungewohnten Konzentration in mehr oder weniger seltsamen Loops, die nach und nach das Zeitgefühl nehmen. PLO Man lässt sich aber nicht von dieser Dynamik der Entgrenzung forttragen, sondern stellt unwahrscheinliche Verbindungen zu Musik außerhalb des Perlon-Kosmos her. So verbindet er in wenigen Minuten den meditativen Groove von Rhythm & Sound mit den humorigen Vocals von Moodymann, den komplexen Rhythmusgebilden seines eigenen Alias SnPLO und dem melancholischen Tech-House von Burger Ink, um bei den minimalen Meisterwerken von Wolfgang Voigt und Stefan Schwander zu landen. „In dieser Musik stecken viele Erinnerungen”, schreibt PLO Man über den Mix. „Freunde, Orte, Erlebnisse. Ich wollte all die Menschen, die ich in meinem Leben liebe, mit Musik würdigen, die mich an sie und unsere Beziehungen erinnert.” Alexis Waltz

Sandwell District – Bleep Mix #297 (Bleep)
Anfang März nahmen Sandwell District nach mehr als zehn Jahren wieder einen Mix auf. Dave Sumner und Karl O’Connor mischten darin unveröffentlichte Tracks aus ihrem Umfeld, etwa von Tropic of Cancer oder Stefanie Parnow, mit Lieblingssongs des verstorbenen Mitstreiters Juan Mendez, zum Beispiel von Psychic TV, Grace Jones und Galaxie 500. Dabei ging es darum, die Wurzeln des eigenen Technosounds in der Avantgarde-Elektronik der Siebziger, im Postpunk und Synthpop zu unterstreichen.
Ihr vorgestern veröffentlichter Bleep-Mix verortet sich dagegen ganz und gar im Techno-Kosmos. Allein schon diese klaren konzeptuellen Setzungen machen die beiden Mixe interessanter als vieles andere, was derzeit erscheint. Im Bleep-Mix entfesseln Sandwell District ihren Technosturm durch peitschende Claps, die von einer pulsierenden Basswalze unterfüttert sind. Die Qualität des Mixes liegt nun darin, dass sie von diesem Loop-Gebet nur selten abweichen, sich aber doch den Raum geben, eine düstere und dennoch in die Zukunft weisende Psychedelik zu entwickeln. Alexis Waltz

STAUB #135 (STAUB)
Die STAUB steht seit über zehn Jahren zuvorderst für stabilen Techno – und löst das Anonymitätsgebot des Genres ohne zwanghaftes Coolness-Gehabe ein. Wer spielt, ist unklar, viel Geheimniskrämerei gibt’s trotzdem nicht. Wer Lust hat, kommt, wer nicht, nicht.
Und wer auf der letzten STAUB zur ersteren Fraktion gehörte, darf sich glücklich schätzen: Dieser Mitschnitt voller ungezähmtem Techno fängt den Geist einer guten Nacht im Club ein. Logisch, ist ja auch vor Ort passiert. Los geht’s mit Dub-Chords, die dem Set noch so etwas wie eine melodische Struktur geben. Nach knapp 25 Minuten poltert eine aggressiv gemixte Kick in den Vordergrund, und die Abtastphase endet abrupt. Nun regiert acht Minuten das Chaos. Acid, Abnutzung, Geschrabbel. Und just, als sich das Set selbst aufzufressen droht, beweist der:die enigmatische DJ das so vielgepriesene Gefühl für den richtigen Track zur richtigen Zeit und hält mit einer geradlinigen Dub-Techno-Peitsche Kurs. Diese Wellenbewegungen kennzeichnen das Set: Immer wieder schlägt das Atzigkeitsbarometer bis in den roten Bereich aus, gen Ende platzt es dank muskulöser Digitalbässe und strapaziöser Synths beinahe. Man wäre gern dabei gewesen. Maximilian Fritz

The Trip – Feel My Bicep Mixtape 270 (FMB)
Im Oktober weiter durch den Sommer tanzen? Genau das gelingt The Trip mit ihrem Set für Feel My Bicep. Wie gewohnt bekommt man eine geballte Ladung verschiedener Subgenres des Tech-House um die Ohren geschlagen. Einschlägige Elemente aus UKG, Progressive und Deep House treffen hier aufeinander – einfach vorwärts treibender Power House. Nach einem gediegenen Einstieg erhöht sich das gefühlte Tempo der Tracks um ein Vielfaches. Ekstatische Vocals treffen nun auf deepe Basslines, die durch den Raum schweben lassen. Unterbrochen wird das Ganze von brasilianischen Percussions, bevor schließlich Wohlfühl-House aus dem Set entlässt. Wie vielseitig The Trip verschiedene Nuancen einsetzen, zeigt sich auch in den Produktionen des Duos, bestehend aus Max van Dijk und Oliver Hiam. Sind sie mit Papa Nugs noch ins Jahr gestartet, beendet The Trip den diesjährigen Partysommer mit ihrer EP Clubdance 2025 und puren Ibiza-Vibes! Michael Sarvi

Yamour – Nachtipod (Callshop Radio)
Von der Traufe in den Regen – das waren die Prognosen für das Wetter zum Nachtdigital Festival 2025. Doch es kam anders: Sonne pur! Der verregnete Sommer machte endlich eine Pause. Ob es daran lag, dass sich alle Raver:innen in Olganitz zu einem Sonnentanz zu Yamours Set verabredet hatten, bleibt im Verborgenen. Fest steht jedoch, dass Yamour mit ihrem Set für den Nachti-Podcast Dub- und Deephouse-Tracks raffiniert mit Techno kombiniert. Den Höhepunkt erreicht das Set, als sich die prägnanten Layer des Acid-House-Klassikers „Chime” langsam und nahtlos in die vorangegangene Bassline einfügen.
Die Mitorganisatorin des Good2U Festivals stellt erneut den stilsicheren Einsatz ihrer Plattensammlung unter Beweis. Sie versteht es, Spannung aufzubauen, ohne den Flow zu brechen, und führt die Crowd mit feinem Gespür durch ein Set, das gleichermaßen euphorisch wie fokussiert ist. Ein Mix, der lange nachhallt – und Erinnerungen weckt an Sonnenschein im Techno-Schullandheim Olganitz – obwohl er nicht dort entstanden ist. Michael Sarvi
