Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2023. Alle Artikel findet ihr hier.
Neel – The 808 Archive (NON Series)
Minimalismus mal (wieder) anders. Und, das sei vorab verraten, großartig umgesetzt. Dabei sollte man den EP-Titel nicht allzu wörtlich nehmen, pure Roland 808-Ästhetik ist auf dieser Veröffentlichung auf dem ebenso tollen spanischen Label Non Series nicht zu erwarten. Aber konsequente Reduktion, gegen die 80 Prozent aller Minimal-Techno-Produktionen wirken wie opulente Opern.
Die vier Tracks konzentrieren sich jeweils über etwas mehr als fünf Minuten auf eine kurze Beat-Sequenz, dazu kommt in erwartbaren Abständen ein weiteres, meist ebenfalls rhythmisches Element. Fertig. Und wunderbar. Weil scheinbar unter größter Inspiration entstanden – ein Geschenk für den Künstler wie auch für uns, die wir daran teilhaben dürfen.
Für die, die den größeren Überblick schätzen und ungerne recherchieren: Giuseppe Tillieci alias Neel musiziert auch zusammen mit Donato Dozzy als Voices From The Lake, Non Series wiederum wird betrieben von Manuel Anós alias Psyk. Gibt’s übrigens auch auf Vinyl. Mathias Schaffhäuser
Identified Patient – Elevator Music for Headbangers (Nerve Collect)
Du steigst in den Aufzug. Du drückst die Zwei. Die Türen schließen sich. Plötzlich fällt das Licht aus, alles ist finster. Über dir beginnt es zu rauschen. Von der Seite pressen sich Bässe in deinen Bauch. Langsam checkst du: Das ist kein Aufzug, das ist nicht normal! Du hämmerst auf den Notrufschalter, am anderen Ende meldet sich: Identified Patient.
Der Tulpen-DJ und Windmühlen-Producer hat mit Elevator Music For Headbangers einen Ausraster-Vorschlag für den wohltemperierten Wandtapeten-Wurlitzer abgeliefert. Sechs Bänger schreien nach Werktags-Eskapaden auf dem Weg in den 38. Stock! Stehst du auf den Rumble, den Doc Scott Mitte der Neunziger durch den Jungle jagte – treat your nasty habit!
„Walk With Me” ist die Ed-Rush-geprüfte Industrielauge unter den musikgewordenen Energydrinks. Bei „You Are The Loop” drückt der Dickdarm fünf Minuten länger. Weil „The Fun Never Stops”, eskaliert man zum „Dead Demo” und wobblet über den Aufzugboden wie ein verzweifelter Fisch auf dem Festland. Dazu klaustrophobieren MF-Doom-Gedächtnissamples bis zum Nervenzusammenbruch. Am Ende kauert man in der Ecke und wartet. Und hofft. Und weint. Bis man sich schwört, nie mehr Ketamin zu konsumieren! Christoph Benkeser
JakoJako – Verve EP (Mute)
Auf ihrem Mute-Debüt präsentiert die Berlinerin Sibel Jacqueline Koçer alias JakoJako eigentlich nur Techno. Das machen viele, und das ist allein nicht deshalb speziell, weil sie eine Meisterin am Modularsynthesizer ist. Auch ist ihr Techno herkömmlich, aber dennoch genuin. Er hat mehr Ambient. Mehr musikalische Tiefe. In ihm wachsen Songs, obwohl sie gar nicht ausgespielt werden. Er hat eine gewisse Verve, vor allem in seiner bezaubernden Dynamik, seinen Melodien und Sounds. Rhythmisch ist das mal nah, mal fernab einer normalen, soliden Technotrack-Architektur.
Aber die verwendeten Signale – Acid-Tupfer, Detroit-Strings, Dub-Chords, Trance-Arpeggios – lassen trotz offener Herangehensweise am Ende nur Techno als Gerne zu. Allerdings einer, der neu klingt. In dem irgendwie ein echtes und kein Maschinenherz schlägt. Er will in dunkle Räume. Aber nicht allein, um Menschen tanzen zu lassen. Er evoziert ebenso Bilder, die jenseits der Schwarz-Weiß-Welten des Hightech-Nightlife eine romantische Utopie heraufbeschwören, in der sich Exzess wieder in eine wirklich heilsame Entität verwandelt. Michael Leuffen
Dez Andrés – Back In My Space (Beretta Music)
Vor elf Jahren samplete, zerschnipselte, dehnte und arrangierte Dez Andrés in klassisch-rau-deeper Detroit-Manier den Jazz-Fusion-Track „Time Is Teacher” von Dexter Wansel. Der war als Keyboarder der Bands MFSB und Instant Funk ab Mitte der Siebziger einer der Protagonisten des Sound Of Philadelphia und somit des Disco der ersten Stunde. In den Neunzigern sampleten Wansel unzählige Hip-Hop-Künstler:innen. Mit den ikonischen Strings auf Wansels Album Voyager produzierte Andrés den Deep-House-Klassiker „New For U”. Davor nahm er bereits zusammen mit der Detroiter House-Legende Moodymann auf. Und auch Discoeinflüsse sind in Andrés’ neuen Produktionen – wenn auch für den Second-Floor etwas aufgeräumt-funktionaler – deutlich erkennbar.
So samplet „Don’t Be Fooled” den New-Romantic- und Blue-Eyed-Soul-Track „Twilight World” der britischen Smooth-Jazz-Gruppe Swing Out Sister aus dem Jahr 1987, die ihrerseits wiederum im Jahr 1994 den Philly-Soul-Hit „La-La Means I Love You” der Delfonics coverte. Die transatlantischen Feedbackschleifen sind also noch intakt. „Back In My Space” könnte auch im Hinterhof beim Barbecue laufen und „Back To Nature” verweist mit dem schweren Basslauf auf P-Funk. Der wiederum zeigt DJ Dez’ Hip-Hop-Nähe. Als Sample-House-Scheibe ist diese 12-Inch ein stimmiges DJ-Tool. Mirko Hecktor
Fantastic Man – Visions of Dance Vol. 2 (Superconscious)
Mic Newman alias Fantastic Man ist vielleicht einer der unterbewertetsten House-Produzenten da draußen. Seit gut zehn Jahren veröffentlicht der gebürtige Australier regelmäßig solide Clubtracks, die irgendwie sonnig klingen, eine gewisse Weichheit an den Tag legen und dabei doch gehörig reinhauen. Diesen bescheidenen Spagat legt er auch bei der zweiten Ausgabe seiner Visions of Dance hin, die wieder auf dem eigenen Label Superconscious erscheint.
Oldschool-Breaks und Pianos, gesüßt mit Vocals auf „Beyond Control”, wild funkende Orgeln und Basslines in „Hyper.Sonic”, dazu köchelnder Subbass und Conga-Samples für „Sparticle Boom!”: Jeder dieser Tracks hat genug Seele, um über den Toolstatus erhaben zu sein, drängt sich aber auch nicht gleich in den Vordergrund. Im Gegenteil: der balearische Acid-Banger „West Coast” macht zum Schluss nochmal deutlich, wie Fantastic Man diesen Stil des unauffälligen Hits perfektioniert hat. Leopold Hutter
Lisene – Square One EP (Craigie Knowes)
Lisene läutert Leeds. Dort kommt der Mann her. Dort baut er seine Beats. Zur Verfügung stehen ihm dieselben Methoden, mit denen seine Heroes vor 35 Jahren feierlich die Kellerdisse eröffneten. Drumcomputer, Synthesizer, Halligalli! Ach ja, Lisene steht auf Techno, der 1994 auf Djax-Up-Beats rauskam. Er fährt aber auch auf Electro aus den Neunzigern ab. Wer seine Bässe inspiziert, wird außerdem Reste von Psy und fluoreszierender Wandfarbe entdecken. Das ist nicht so schlimm. Lisene weiß schließlich, wie sich aus vollgekritzelten Mandalas konzentriertes Gefahrengut pressen lässt.
Square One sind vier vergessene Freudentränen, die einem über die Wangen kullern, während man sich in Gran Turismo 3 einen Werks-Mazda schnappt und über die Nordschleife holzt. Das Wartezimmer ist deine Kindheit. Der Soundtrack ihre Erinnerung. Gut, dass es mit den Schotten von Craigie Knowes noch Labels gibt, die solche Spezialanfertigungen zu schätzen wissen. Christoph Benkeser
Amor Satyr – Transfer (Seilscheibenpfleiler)
Nach vielen erfolgreichen Co-Veröffentlichungen mit Siu Mata meldet sich der französische DJ und Produzent Amor Satyr mit der Solo-EP Transfer auf dem Berliner Traditionslabel Seilscheibenpfeiler zurück. Mit jedem Release wird der Stil von Satyr freier, bunter und technoider – allzeit bereit für den Einsatz auf den Festivalbühnen der Welt. Transfer ist eine Platte auf höchstem Produktionsniveau. Peak-Time-Breaks knallen auf hitzige Techno-Perkussion und gechoppte Reggaeton-Vocals auf Trance-Flächen. Die Tracks leben dabei von einem permanenten Spannungsaufbau, einem massiven Bass und ihrem teils tooligen Charakter. Die Hymne mit dem größten Ohrwurmpotenzial ist das B2-Stück „Bebe”, das durch sein einprägsames Vocal begeistert. Vincent Frisch
Bruce – Not (Timedance)
Sein Techno war abstrakt, seine leisere Elektronik wendig: der in Bristol ansässige Produzenten Larry McCarthy alias Bruce schätzt die Vielseitigkeit und hat auf Veröffentlichungen für Labels wie Hessle Audio, Idle Hands oder Timedance Genres wie Ambient, Broken Beat, abstrakte Elektronik oder Techno durch. Alles stets ohne Gesang. Das ist nun Geschichte. Zumindest für seine neue EP Not und das Album, das ihr folgt. Heute steht seine Stimme im Mittelpunkt und zieht die Musik, die sie umgibt, in ihren Bann. Pop, digital, vertrackt, mutig, hymnisch.
Songs wie „Antler” verbinden verdrehtes Source-Direct-Breakbeat-Drama mit emotionalem Gesang zu einer labyrinthischen Suspense. Ein dramatischer Tune wie „Lassoo” koppelt offene elektronische Sounds an sanft eindringlichen Gesang, der keinem klassischen Songschema folgt. Seine Geschichten sind persönlich, und genau deshalb universell. Pop ohne Scheuklappen. Einer, der keiner sein will. Elektronische Experimente jenseits der Stromlinien. Verfeinert mit einer Stimme, die zuweilen an Anohni, David Sylvian oder Jeff Buckley erinnert. Je nach Erinnerungsbild. Je nach Gemütslage. Auch das Cover ist mythisch, ganz so wie die Musik. Michael Leuffen
E.R.P. – Untitled (Apnea)
Das Schaffen von Gerard Hanson alias E.R.P. reicht zurück in die frühen Nullerjahre, eine EP wird auf Discogs sogar auf 1996 datiert. Electro bildet über den gesamten Zeitraum die stilistische Klammer und spielt auch auf Untitled eine wichtige Rolle. Zwei Electro- und zwei Disco-infizierte Four-to-the-Floor-Tracks wechseln sich ab, und zumindest die ersten drei sind kompositorisch eng miteinander verwandt. In einem Rutsch gehört, wirken sie wie Variationen eines Themas – Tonart, Sounds und sogar Bassfiguren sind offensichtlich aufeinander bezogen, ähnlich wie in Soundtracks, in denen dieses Stilmittel leitmotivisch eingesetzt wird, um Figuren der Geschichte mit Sounds oder Melodien zu verknüpfen.
Leider war nicht zu erfahren, ob Hanson eine Hommage an Moviescores im Sinn hatte oder die Stücke sogar konkret für einen Film geschrieben wurden. So oder so, die Bilder entstehen ja bekanntlich größtenteils im Kopf, und diese EP ist ein fulminanter Kopfkino-Trigger. Mathias Schaffhäuser
Rene Wise – Lucky Number 7 (Bassiani)
Der Titeltrack von Rene Wises neuer EP auf Bassiani macht seinem Namen alle Ehre. Techno von der Insel im positiven Overdrive. Wer sich auf das Floor-Monster einlässt, muss tanzen. Kopfnicken reicht hier einfach nicht. Die Bassdrum macht keine Gefangenen. Geschickt eingestreute Claps, Vocals und Synths werden von Klangflächen abgerundet. So übersichtlich die Ingredenzien scheinen, so geschickt verwebt der weise Mr. Wise diese zur Lucky Number. Das Geheimnis des Glücks liegt in der rollenden Bassdrum, die trocken und dubby ihr Eigenleben entwickelt. Ob das Tempo im Verlauf des Tracks zunimmt, oder nur aufgrund der geschickt verwobenen Sounds zuzunehmen scheint, bleibt ein Geheimnis. Ebenfalls auf der Vier-Track-EP: „Sucker Punch”, „Devil In The Saloon” und „Gorilla”. Trotz verschiedener Rhythmik gilt auch hier: ausgefuchste Bassdrums vom Feinsten. Liron Klangwart
Second Storey – Disrupted Dialect (Mechatronica)
Seit er um 2013 herum seinen Nome de Guerre von Al Tourettes zu Second Storey änderte, ist Alec Storey auf einer Reise, deren Ziel es zu sein scheint, Electro wieder als das futuristischste Tanzmusik-Genre zu etablieren. Dabei ist seine Route geradlinig, die Musik eher nicht – im Gegenteil. Gebrochen, abgebogen, Schlenker gefahren werden hier an jeder Ecke. Nur eines tut Storey sicherlich nie: Umkehren. Die Reise geht straight nach vorne, in die Zukunft. Im Grunde ist sie da schon angekommen.
Eckig sind dann auch die Beats, die klingen, als wären sie von Androiden für ihresgleichen entworfen worden. Die einen in kubistischen Tanz-Bewegungen über den Dancefloor grooven lassen. Roboterhaft auch die kühl – jedoch nicht kalt – klirrenden, glänzend verchromten Klänge der Soundpalette. Wen wundert’s – ein Rädchen greift hier natürlich perfekt ins andere. Doch bevor nun jemand denkt: Klingt ja eher anstrengend, wie Musik, die man sich wie ein abstraktes Gemälde erst erarbeiten muss: Mitnichten! This shit is hot! Versprüht Funkyness in rasend-riesigem Funkenregen. Stehenbleiben ist auf dieser Autobahn, die vom Düsseldorfer Kling-Klang-Studio über Detroits Autofabriken und New Dance Shows, vorbei an britischen Electronica-Schafweiden direkt ins Gehirn des Zuhörers führt, sicherlich nicht. Tim Lorenz
Polygonia – Otro Mundo (Bambe)
Das ist nicht zu viel versprochen: Mit ihrer EP Otro Mundo begibt sich die Münchner Produzentin Lindsey Wang alias Polygonia allemal in eine andere Welt. Ein Geflecht aus Stimmen und kaum zu durchdringenden Patterns treibt mühelos, doch mit steter Kraft im Titeltrack voran, man könnte sich mit dem Körper dazu bewegen, mitgezogen ist man so oder so. Hinterher hat man gar nicht gemerkt, dass fast sieben Minuten vergangen sind. Geradliniger der Einstieg bei „Mind Alteration”, dessen stoische Kickdrum nach und nach in einen polyrhythmischen Strudel aus diversen perkussiven Sounds hineingerät, der gut zum Stil von Kollege Bambounou passt, auf dessen Label Bambe die Platte erscheint. Ähnlich bewusstseinsverändernd der Sog in „Implosion of the Known”, bei dem die dauermutierenden Knarzfrequenzen wie durch Granularsynthese erzeugt klingen. Alles sehr feingliedrig gebaut, ohne dass es demonstrativ angestrengt wirkt. Sondern vielmehr kraftvoll leicht. Tim Caspar Boehme
DJ Heartstring & Narciss – Why Can’t We Live Forever (Polydor)
Ja, komm, jetzt Major! Narciss und die Heartstrings machen Mukke für Polydor, da haben schon andere Sstars wie Helene, Karel und Matthias Seh-ich-echt-so-gut-aus-Reim ihre Rente gesichert. Deshalb passt das wie der Fernsehgarten zur dritten Hüfte. Und weil die Leute gerne gute Laune haben, geht das auch gut rein, rein, rein. Vier Songs, ach was: Ein richtige schnuckeliges Medley, wie das Barbara Schöneberger stellvertretend für Andrea Kiewel moderieren würde, schenken uns Narciss und die Heartstrings hier. Man schunkelt mietfrei mit und klatscht auf die 1 und 2 und die 3 und die 4. Schon kommt Stimmung auf. Bis irgend so ein Jens mit vollgepisstem Hosenbein von der Seite reingrölt: DAS HIER HAT NICHTS MIT SCHLAGER ZU TUN!!! Ja, gut, das killt jetzt natürlich ein bisschen den Vibe. Aber liebe Leute, machen wir uns nichts draus! So jung komma nimma zamm, carpe diem, party hard! Denn irgendwann ist es vorbei, dann ist derdiedas Rizz raus und man stellt sich große Fragen: Lieferando oder Wolt, ARD oder das Zweite, Why Can’t We Live Forever? Christoph Benkeser
VA – Draaimolen x Nous’klaer Audio present Aura (Nous’klaer Audio)
Das Draaimolen ist so was wie das bestgehütete Festival-Geheimnis unserer niederländischen Nachbarn. Weitab vom Hype rund um Amsterdam, Dekmantel und Co. wird im beschaulichen Tilburg bereits seit 2012 gefeiert, was das Zeug hält. Dabei stehen nicht nur künstlerische Ansprüche im Vordergrund (Live-AVs & Überraschungs-b2bs zum Beispiel), auch das Rotterdamer Label Nous’klaer Audio hat sich nunmehr schon seit fünf Jahren auf dem Draaimolen eingebracht. Aus einem Label-Showcase ist mittlerweile die selbst gehostete Aura-Stage geworden. Sechs der Künstler:innen, die dieses Jahr dort gespielt haben, sind nun mit jeweils einem Track auf dieser Vinyl-only-EP vertreten.
Oceanics Beitrag sollte ursprünglich der Themesong zur letztjährigen Auflage des Festivals werden und klingt dementsprechend ähnlich wie sein auf selbst aufgenommen Vocals basiertes Album Choral Feeling aus demselben Jahr – nur dass es in diesem Fall tatsächlich die Stimmen der Draaimolen-Crew sind! Nicola Cruz überrascht mit einem kraftvollen, retrofuturistisch groovenden Hybriden aus Electro und Tech-House, während das Duo aus Human Space Machine und Mary Lake einen basslastigen IDM-Halftime-Stepper (man denke an dBridge/Instra:mental) abliefert.
Auf der Flip geben die Schweden Arkajo und Dorisburg ihren von düsteren Tribal-Drums getriebenen Signature Sound zum Besten. Evigt Mörker bleibt deep und weird mit zurückhaltendem polyrhythmischen Techno, und zum Schluss präsentiert Newcomerin Lenxi ihre eigenen Vocals über einem an Uffie erinnernden, glitchigen Synth-Pop-Track. Leopold Hutter
Hörbeispiele findet ihr in den einschlägigen Stores.
Bufiman – Switch Beats EP (Cómeme)
Vor ein paar Tagen hat mich die „Promotional E-Mail from Bufiman” erreicht, in der verkündet wurde, dass seine Switch Beats EP bald auf Cómeme erscheint. Das hat mich sehr gefreut, weil ich „Ntndo Pitch” schon ewig spiele und froh bin, dass ich die EP hier erwähnen kann – auch wenn das Release erst am 15. September in voller Gänze erhältlich ist.
Weil ich in Köln aufgewachsen bin, waren Total-Confusion-Events (c/o Kompakt) meine ersten Party- und Ausgeh-Erfahrungen. Durch die enge Beziehung zwischen Kompakt und Cómeme wiederum kam ich früh mit dem südamerikanischen Label in Berührung, und kölsche Alltime-Classics wie „Jagos” von Christian S oder „Pritaya Frenesi” von Rebolledo gehören zu den ersten Platten, die ich mir zum Auflegen gekauft habe. „Pritaya Frenesi” war der Song auf meiner Myspace-Seite!
Cómeme ist jetzt 14 Jahre alt und veröffentlicht das mittlerweile 59. Release von niemand anderem als der wandelnden Maultrommel himself: Jan Schulte alias Bufiman oder auch Wolf Müller mit dem üblichen „frog-steady bufidelity sound”. Jan ist ein alter Freund, Salon-des-Amateurs-Resident und ein wahnsinnig guter Produzent, der mich mehr oder weniger seit dem Anfang meiner DJ-Karriere begleitet hat. Ich habe ihn zum ersten Mal mit 17 Jahren auflegen hören, noch Jahre, bevor ich selbst angefangen habe, im Salon des Amateurs aufzulegen. Phillip Jondo
Badsista – Gueto Club (TraTraTrax)
„Roughness, yes, yes, yes!”, ging mal eine Fernsehwerbung für Süßigkeiten, oder wenigstens so ähnlich. Und hier kommt der Sound: Alles auf die Zwölf, was irgendwie einen Beat in die Bude bringt.
Zum Beispiel bei Badsista: afro-brasilianische Rhythmus-Schule zu Beginn von „Cosmovision”, gefolgt von rudimentären, flötenähnlichen Keys, die sich hoch und runter winden durch den Kern des Tracks. Er erhält etwas Hypnotisches, Beschwörendes, mit leichtem Trance-Zustand.
„Bagunca Minha B*****” klingt zugleich nach Traum und Feier, mit dem mädchenhaften Sprechgesang von Jujuliete über einer Schwingboden-Tanzfläche. „Vem Pra Zona Leste” leitet die EP entsprechend frenetisch ein, mit magnetischen Bässen, Zufallsblinken, Überraschungsgeräuschen. Unerbittlich und göttlich funkend. In den Remixen geht es um genau jenes Eröffnungsstück; Batu mit dem Dub. DJ Marfox lässt es im „3 De La Mañana” hingegen rappeln und rappen. Guten Morgen. Christoph Braun
KiNK – For The People (Hypercolour)
Eine erste EP von KiNK für das UK-Label Hypercolour, das ja irgendwie noch für die moderne Post-Dubstep-Welle stand. Zumindest in puncto Farbenfrohheit und Rave-Attitüde für den Sommer trifft diese Platte aber richtig ins Schwarze.
Mit bunten Synths und fetzigem Vocal geht der Breakbeat-Stepper „For The People” direkt auf die Mainstage. „Ta” stampft geradliniger, kontrastiert aber dank zarter Vocals und hüpfender MDMA-Melodie – erinnert dabei an Four Tet, und wird bestimmt viel auf Festivals gespielt werden. Vetrippter und orientiert an Zweitausender-Minimal-Sounds, hier aber stämmig, mit viel Filter-Action und einem Hauch von Dub: „Kazan” auf der Flip. Den brachialen Haudrauf macht derweil das bereits auf KiNKs Social-Kanälen beworbene „Vacation”: eine Abfahrt mit Trax-Style-Sample und Rave-Stabs ohne Pardon – Partyspaß und Schweißausbrüche garantiert. Leopold Hutter
Talismann – KLINIEK 1 (Talismann)
Talismann ist mit Sicherheit das düsterste Alias des niederländischen DJs und Produzenten Guy Blanken, der sich nach der abgeschlossenen EP-Serie Percussion nun einem neuen musikalischen Zyklus widmet. Dabei ist KLINIEK, anders als der Vorgänger, keine Trilogie, sondern gliedert sich in ganze neun Teile, die ebenfalls über das nach dem Alias benannte Label erscheinen.
Der Auftakt macht deutlich, dass man kein musikalisches Novum erwarten sollte, sondern sich lieber auf Altbekanntes einstellen. Denn Talismann ist ein Meister auf seinem Gebiet und liefert schnellen, sinistren Techno, der auf dem Spektrum zwischen hypnotisch bis angriffslustig oftmals seinesgleichen sucht. Auf vier Tracks finden sich okkulte Vocals („Free Salamanca”), zerklüftete Arpeggios („Second Opinion”), introvertierte Perkussion („Anna Purple Mix”) sowie ein schaurig-schönes Interludium auf „Point Of No Return”.
Nach diesem starken Beginn bleibt daher spannend, wie das Narrativ auf den kommenden EPs weitergesponnen wird und wohin sich die omnipräsente Düsternis ihren Weg bahnt. Till Kanis
DJ bwin – Cell Phone (First Second Label)
DJ bwins „Cell Phone” ist ein so zutiefst hypnotischer wie minimalistischer Bass-Track, der sich in immer wiederkehrenden Wellen tief in die Gehörgänge fräst. Dabei bezieht er seine Magie ganz aus dem Zusammenspiel von angezerrtem Bass und sehr zurückgenommenem Percussion-Loop. Dazu ein paar unverständliche Stimmfetzen, fertig. ELLLs Voicemail-Remix glättet die Welle und ersetzt sie durch ein paar Ecken, Kanten und Abzweigungen. „Psycho” (der Tracktitel, der die Stimmung dieser EP am genauesten beschreibt) ist ein Traktor von einem Track, der holpernd über den ungepflügten Acker brummt. Bleibt als Abschlussstück „Frogger”, der Track, der sich wohl am ehesten in gewöhnliche Bass- und Dubstep-Strukturen einordnen lässt – ein Vocal-Chop-dominierter Halfstep-Track nämlich, der tief im Subfrequenz-Ozean fischt. Tim Lorenz
Priori & Al Wootton – FLAW EP (Trule)
Selten war der Titel eines Technotracks so suggestiv wie der des Openers dieser EP – „The Bell With The Wooden Tongue”. Yeah, genau so könnte sie klingen, die Glocke mit der hölzernen Zunge. Und es ist hier bewusst die Rede von Techno, denn kein anderes Genre wäre angebracht, auch wenn die drei Stücke mit geradem Beat unter der derzeit hippen 130-BPM-Grenze grooven. Entscheidend ist für Priori & Al Wootton aber nicht das Erfüllen von Fancyness, sondern ein klares Klangkonzept mit hohem Abstraktionsgrad, das für wunderbare Four-to-the-Floor-Beats sorgt, die gleichzeitig maschinell und lässig schlurfend auftreten. Mit darüber liegender Percussion, die trotz eindeutig synthetischer Generierung etwas Organisches – hier: nach subtropischem Regenwald Klingendes – hat. Nur der dritte Track fällt aus der Reihe: „Seclusion” führt zwar den Sound der EP zwar stringent weiter, groovt aber auf 166 drum’n’bass-typischen BPM spannungsgeladen, doch kontrolliert-energetisch und komplett unhysterisch der Dunkelheit entgegen. Mathias Schaffhäuser