Nídia – 95 MINDJERES (Príncipe)
In Berlin konnte man Nídia im vergangenen Herbst im Haus der Kulturen der Welt erleben, zum Ende der Amtszeit von Detlef Diederichsen, der dort das Musikprogramm gestaltete. In ihrem DJ-Set tat die Lissabonner Produzentin scheinbar wenig mehr, als ein paar Synkopen in den Raum zu werfen, die sich zu Loops formten, dabei stets mutationsoffen blieben und mit sanfter Nötigung für Bewegung unter den Anwesenden im Saal sorgten. Auf 95 MINDJERES, 95 Frauen, ihrem dritten Album, geht sie ganz ähnlich vor und kreiert elf kompakte Batida-Grooves, afroportugiesische Rhythmen, deren Kraft aus ihren präzise gesetzten Akzenten herrührt. Wuchtige Sounds hat sie dafür nicht nötig. Wie der Titel der Platte andeutet, geht es Nídia in der Musik um Freiheitskämpferinnen, namentlich Teodora Gomes und Titina Silá, die während der sechziger und siebziger Jahre im Unabhängigkeitskrieg gegen die portugiesische Kolonialherrschaft in Guinea-Bissau kämpften. Dieser kämpferische Geist macht sich in den Tracks alles andere als martialisch, sondern vielmehr in ansteckend komplexer Gestalt, damit aber durchgehend energisch bemerkbar. Was bloß einer der großen Vorzüge dieser Platte ist. Tim Caspar Boehme
Pangaea – Changing Channels (Hessle Audio)
16 Jahre nach seinem ersten Release für Hessle Audio veröffentlicht der Label-Mitbegründer Kevin McAuley aka Pangaea sein zweites Album. Eine von seinen regelmäßigen DJ-Sets inspirierte LP, die Groove und Funktionalität in den Vordergrund stellt, ohne dafür Abstriche in der persönlichen Note zu machen. Was immer noch klar seinen Ursprung im Südlondoner Untergrund der frühen 2000er Jahre hat, durfte sich über die Jahre allerhand bei Techno und House abschauen, glänzt dabei immer noch durch massive Basslines und galoppierende, synkopierte Beats, die sowohl bei UK-Heads für feuchte Augen sorgen als auch jeden Kontinental-Shuffler zum Tanzen bringen werden. Während sein erstes Album In Drum Play den Fokus auf technische Experimente setzte, schämt sich Changing Channels nicht, auf Klimax getrimmte Peaktime-Banger am laufenden Band zu präsentieren. Gechoppte R’n’B-Vocals kommen genauso ungeniert zum Einsatz wie gigantische Breakdowns (wie im Titeltrack, der schon als Vorabsingle den vergangenen Festivalsommer dominierte). Bei solcher Ehrlichkeit kann man dem Album seine Geradlinigkeit nicht ankreiden, sondern will eher Pangea dazu gratulieren, sich selbst nicht im Weg gestanden zu haben – um ein vielleicht anspruchsvolleres, dafür aber keinesfalls so unterhaltsames Dancefloor-Album zu produzieren. Leopold Hutter
Portable – Augmented Dreams (Circus Company)
Alan Abrahams war immer schon ein sehr eigener Produzent. Jahre bevor sie selbstverständlich in die hiesige Clubmusik aufgenommen wurden, arbeitete er mit afrikanischen Rhythmen, die seine Portable-Platten im Rückblick zu unauffällig weitsichtigen Angelegenheiten machten. Und nachdem die Augmented Reality schon eine Weile zum Alltag gehört, fragt er sich aktuell, wie es eigentlich um die Augmented Dreams steht. Erweiterungen und Fortschritte, die nicht ohne Folgen für die Träumer zu haben sind. Im wie eine Einleitung angelegten „The Pull of Dreams” singt er zu Beats mit Streichern im Hintergrund: „Your dreams had a price, and this is what we had to pay.” Wobei es ihm nicht allein um technische Errungenschaften geht, auch das Ende des Kolonialismus spielt auf seinem jüngsten Album eine Rolle. Der Ton seiner Tracks reicht von skeptisch-zögernd bis unterschwellig unheilschwanger. Oder, wie in „The Color of Static”, als befreites Geflecht von bleependen Kleinstmelodien, durch Abrahams’ Synkopen zusätzlich belebt. Alan Abrahams hält mit Portable weiter Kurs, und das ist in seinem Fall eine gute Sache. Tim Caspar Boehme
Polito – Collapse Phase (Butter Sessions)
Das australische Quartett Polito hat erst zwei EPs bei Butter Sessionsveröffentlicht, nun erscheint bei dem Label aus Melbourne der erste Langspieler. Die Truppe besteht aus jeweils zwei für Musik und Tanz zuständigen Personen. Ihr modulares Hardware-Setup kann auch in den Aufnahmen zu Collapse Phase herausgehört werden, deren vielschichtige Loops eine gewisse Live-Dynamik innewohnt. So startet die Platte atmosphärisch und mit Anleihen von Psy-Dub, bevor die Breakbeats langsam dem geraden Stampf von Techno Platz machen. Die an 90s-IDM angelehnten Momente gehören zu den Highlights des neun Tracks umfassenden Albums, während auch der Dancefloor mit an Jeff Mills erinnernden 909-Loops genügend Achtung bekommt. Das feinfühlige Sounddesign und ein gutes Gespür für die Addition oder Subtraktion von Spannungselementen gehört zu den Kernkompetenzen von Polito und transportiert so mit Leichtigkeit einen über die gesamte LP tragenden Vibe. Ob quirlige Synth-Passagen, hypnotischer Dubstep-Techno oder Downtempo-Acid-Roller – Polito haben bereits ihre eigene Handschrift entwickelt, von der gerne mehr kommen darf. Leopold Hutter
Shackleton/Zimpel with S. Belmannu – In The Cell Of Dream (!K7)
Als der nordenglische Produzent Sam Shackleton vor drei Jahren mit Primal Forms seine erste Kollaboration mit dem polnischen Experimentalisten Wacław Zimpel veröffentlichte, ergab das eine zündende Mischung: Beide Partner hatten ihre jeweiligen Wurzeln – Dubstep und Garage beziehungsweise. Free Jazz – weit hinter sich gelassen. Zusammen machten sie unerhörte elektronische Klangsuiten, irgendwo zwischen Trance und Ritual, die es als Exkursionen in unbekannte Klanglandschaften in sich hatten. Erfreulich daher, dass die musikalischen Forschungsreisen mit In The Cell Of Dreams fortgesetzt werden, wobei das Duo sich mit dem indischen Sänger Siddhartha Belmannu noch einen Mitreisenden ins divers besetzte Boot geholt hat. Mit seiner über drei Oktaven reichenden Stimme liefert Belmannu eine spannende Ergänzung zu den elektronischen Exerzitien von Shackleton und den geloopten Klarinetten-Sounds von Zimbel. Mal auf Hindu, mal auf Englisch wird eine mystische Geschichte erzählt, die sich schwerelos mit den elektronischen Drones verwebt. In The Cell Of Dreams enthält drei Klangmantras zwischen 15 und 20 Minuten, welche die drei distinkten musikalischen Schichten zu einem singulären Klangfluss vereinigen, der konzentriertes Zuhören sowohl erfordert wie belohnt. Wer eher Hintergrundmusik sucht, ist bei Shackleton und Zimpel samt Belmannu definitiv an der falschen Adresse. Uwe Schütte
Superabundance – Extrasolar (Future Times)
Extrem funky und in vollem Schwing und Schwung endet dieses Album von Superabundance. „Goth Hi Tek” fängt beinahe lieblich an und kickt hin und her, während oben ein paar niedliche Quieks statt Bleeps herumfiepen. Doch nach einer Weile entwickelt der Track gut Zug und schraubt sich in eine 143er-Techno-Nummer mit Offbeat-Anmutung. Der Break im Beat ist wie meistens auf Extrasolar eher futuristisch-elegant als straßen-roh. Produzent Max D tut sich hier zum wiederholten Mal zusammen mit dem Washingtoner House- und Techno-Buddy Jackson Ryland. Als Superabundance gelingt ihnen ein Album mit klassischer Dramaturgie und jeder Menge Hits. Selbst über das rappelnde „Crossfade Diving” mit seinen über 160 Schlägen legt sich noch eine Politur. Sie kittet die Brüche und sorgt für Zukunftsglanz. Ähnlich geht es „We XL” im Electro-Feel, „Particle Busters” mit seiner Physik-Labor-Atmo oder dem verträumten „Dex Holo”, das so auch in Studios der englischen Grafschaft Cornwall entstehen könnte. Vielseitigkeit beweisen Max D und Jackson Ryland mit „Big Deal”, das eine derbe Snare durchdekliniert. Das einläutende „Reset” schafft eine Nullstimmung (im Sinne von neutral bewerteter „Leere”), und „Sizeable Jackfuit” ist einfach ein Spiel mit Jungle und den Möglichkeiten eines zeitgemäßen Studios. Tanzfreudig und super temperiert empfiehlt sich Extrasolar also mit winkender Hand. Christoph Braun
VC-118A – Waves Of Change (Delsin)
Samuel van Dijk alias VC-118A nennt sich einen „sound designer von aquaspace”, und wer bei solch Flüssigkeitsreferenz im selbstausgestellten Produzentenszeugnis nicht schwuppsdiwupps an Drexciya denken muss, kann unlängst zur nächsten Rezension weiterziehen. Für die Verbliebenen bleibt derweil nun noch zu klären, ob Samuel van Dijk tatsächlich ähnlich ikonische Luftblasen auszustoßen vermag, ähnlich ikonisch die Ohren mit jazzigen Fluiditäten durchspülen kann, wie die schon erwähnten unsterblichen Unterwassermusikforscher aus Detroit, diese zwei kaskadierenden himmlischen Giganten, diese Schöpfer einer Bubble Metropolis auf ihrer Quest zu ihrer Wasservision – hach, lassen wir das. Es geht also um van Dijk, um eine Veröffentlichung auf Delsin, was im Zusammenspiel zwischen Künstler und Label solide klingt, die jeweiligen Diskographien betrachtend zumindest nicht allzu wohlfeil oder fad. Beide kennt man doch zumeist. Ihn, den Niederländer Van Dijk, von Veröffentlichungen auf Silent Season oder Field. Der dann mit „The Heat” auch noch solide beginnt, sphärisch, ausgewogen, herrlich hübsch, bisschen hart. All das bei schön gemäßigtem Tempo, mit feinen Texturen und Arrangement. Was den Hörer freut. Das Album Waves of Change könnte also Spaß machen. Tiefer dann. Der Niederländer lässt es bleepen, auch mal bloppen, noch reicht die Luft. Der Sounddesigner hat gut designt. Die notwendige Luft zum Atmen kommt auf dem zehn Tracks umfassenden Album vom feinen Gemisch aus altem, doch nie altbackenen Retro-Ton-Chique, auch durch die Sequenzen seiner Roland MC-101 und einem Modular, getragen von der basslastige Kick der TR-606. Dem Mann aus der Unterwasserwelt kann man kaum etwas Übles nachsagen. Butterweiche Pads steigen der Tiefenangst entgegen, anderswo ist es der strenge Fokus auf Kopfnicker-Beats, die mittels geselliger Tonwellen entschärft werden. All das ist stabil, all das ist unaufgeregt, all das macht dieses Album gut. Andreas Cevatli