4T Thieves – Raven’s Cottage (Rednetic)
Samplen und gesampelt werden: Bereits 1998 hatten Boards of Canada mit dem Titel ihres Albums Music Has The Right To Children nicht zuletzt wohl auch die Rechtmäßigkeit der Aneignungs- und Emanzipationsbewegung proklamiert, die ein Musikstück erfährt, nachdem es vom Urheber in die Öffentlichkeit entlassen wurde. Dass der finnische Producer 4T Thieves deren hauntologisch-psychedelische Downbeat-, IDM- und Ambient-Soundästhetik aufgreift, ist somit mehr als nur legitim: Der Betreiber des Kahvi Collective hat mit seinem Free-Online-Label dem Kosmos der elektronischen Musik in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine kostenfrei nutzbare Bibliothek mit nahezu 500 Einträgen geschenkt; mit den elf Tracks von Raven’s Cottage, das er nun seinem zweistelligen Katalog eigener Longplayer hinzufügt, erweist er sich einmal mehr als würdiger Sachwalter des BoC-Erbes. Die rostzerfressenen, zerknüllten Beats, die wolkig-sphärischen Pads, die Unbestimmbarkeit der meist unkenntlich gemachten Samples – all das finden Fans dieser Musik, die den Rückspiegelblick der Nostalgie immer schon als Produktionsmittel nutzbar gemacht hat, auch bei 4T Thieves. Allein: Neu kann daran im Jahr 2021 kaum noch etwas wirken. Ätherische Soundscapes für Lost-Places-Fotoblogger und Digital-Romantiker – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Harry Schmidt
Anthony Naples – Chameleon (ANS)
Fällt zugegebenermaßen ein bisschen schwer, bei dem Titel Chameleon das damit verbundene Angebot auszuschlagen, den New Yorker Produzenten Anthony Naples gleich mit als, nun, wandlungsfähigen Musiker zu charakterisieren. Nach Alben, die sich mehr (Fog FM) oder weniger (Take Me With You) auf der Tanzfläche abspielten, dreht sich diesmal alles vor allem um das Musikmachen selbst. Denn Naples hat sich im Studio zu seinen elektronischen Geräten ein paar Instrumente hinzugenommen: Gitarre, Bass, Schlagzeug, um seine eigene Band zu simulieren. Entspannt geht es dabei zu, fließend, im Englischen würde das Wort silky ganz gut passen. Wobei er an der Gitarre zwar lässig wirkt, andererseits aber vorwiegend unverbindliche Stimmungen einfängt. Ironischerweise ist er genau in den Momenten am einnehmendsten, in denen er seine Synthesizer kreiseln lässt wie in „Hydra”. Aber wer weiß, vielleicht läuft sich Naples ja gerade warm für etwas völlig anderes. Tim Caspar Boehme
Aria Rostami – Maramar (Intimate Inanimate)
Einen ganz neuen Ansatz verfolgt Aria Rostami hier. Das ist vor allem für jene eine Umstellung, die sich gerade mit dem Sound des in New York lebenden Musikers vertraut gemacht haben. Also auch für mich. Seit 2011 veröffentlicht Rostami ambiente Soundscapes auf Labels wie Dark Entries, Spring Theory, Glacial Movements oder eben Intimate Inanimate, seinem eigenen. Er ist auch fleißig. Maramar ist das vierte Release im Format eines Albums, das ich für das Jahr 2021 zählen kann. Die letzten beiden Jahre waren ähnlich produktiv. Zwei Releases muss man hier hervorheben: der gemeinsam mit seinem Kollegen Daniel Blomquist verantwortete Beitrag zur tollen Sketch-For-Winter-Reihe auf Geographic North und sein Solo-Release Several Days From Now You Will Be Invited To Complete An Online Survey.
Das Letzte kann mit Gehör auf Maramar als soundtechnische Brücke verstanden werden. Denn die dort noch vorsichtig aufblitzende Beschäftigung mit Beats ist hier nun eine ausgeleuchtete Beschäftigung mit Beats. Mit Breakbeats in erster Linie, deren wilde Sprünge durch elegische Flächen oder zuckersüße Melodien konterkariert werden. Sie sind die Grundierung für die kunterbunte Intensität der Tracks, wie mir mit Blick auf das Artwork gerade einzuleuchten beginnt. Das gilt insbesondere für den ersten Teil der 43 Minuten, die einer rasanten Dynamik folgen. Die Partikel huschen mitunter so schnell durch diese brainwashy Architektonik, dass die Konturen verschwimmen und es in Momenten beliebig wird. Im zweiten Teil hingegen setzt Aria Rostami mit „Dawn” und dem abschließenden Drone „Going”, Akzente der Ruhe. Da öffnen sich die Ohren wieder für die vielen Details in dieser Musik. Sebastian Hinz
Chris Carter – Electronic Ambient Remixes One (Mute) (Re-Release)
Gemeinsam mit Cosey Fanni Tutti hatte Chris Carter bereits im Jahr 2000 diese Tracks veröffentlicht. Es handelt sich um Ambient-Bearbeitungen von Stücken, die beide abseits ihrer Hauptgruppe Throbbing Gristle produziert hatten. In der Anmutung besticht eine MDMA-artige Grundwärme. Alles verwischt: Das stehende Trommelmuster in „Elektrodub 2” durch lange Echo-Fahnen, die „Clouds” durch silbrige Klangfarben-Filter, und in „Slomo” verlaufen Rassel-Klänge wie Sanduhren an den Konturen.
Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung war Carter bereits an die 50 Jahre alt, insofern bedeuten diese Eigen-Remixe auch ein schönes biografisches Moment: Indem sie zeigen, wie wichtig Techno für viele Musiker*innen gewesen ist, selbst wenn sie schon 20 Jahre früher auf gar nicht so kleinen Bühnen gestanden hatten. Ästhetische Standpunkte wurden weitergedacht oder gleich über den Haufen geschmissen, es musste technifiziert werden im Sinne von digitalisiert, und zwar nicht nur, weil sich immer mehr Leute diese Sampler leisten konnten, sondern eben auch, weil die Kollektiverfahrung von Rausch und Erschöpfung und Sound des Ravens so hinreißend war.
In Stücken wie „Beat” oder „Poptone” bleiben die Risse sichtbar, die sich durch Carters Schaffen mit Throbbing Gristle, Chris & Cosey oder eben seine Solo-Tracks ziehen: Ein „So nicht!” rauscht durch die Glücksbärchi-Landschaft. Und das macht diese Sammlung an einem Stück hörenswert und unterscheidet sie von etlichen Ambient-Veröffentlichungen. Christoph Braun
Comtron – The Roaring Twenties (Magnetron Music)
Fatima Yamaha und Rimer London alias Comtron machen es einem mit ihrem ersten Stück auf The Roaring Twenties nicht gerade leicht: „Tarxan”, das im Titel nur augenzwinkernd-unambitioniert verschleiert, um was es hier wirklich geht, bringt ihn tatsächlich – den ikonischen Tarzan-Schrei, den so gut wie jede*r kennt, und der natürlich extrem polarisiert. Für die einen (möglicherweise überwiegend jüngeren, für die Tarzan keine allzu große Rolle spielt im Pop-Diskurs) ein guter Gag, für andere ein eindeutiges No-Go (weil viel zu oft gehört, sowohl in unzähligen Filmen als auch schon gesamplet, persifliert und durch alle erdenklichen Wölfe gedreht).
Jedoch transportiert bereits dieser Track eine bestimmte, dem Album durchgehend innewohnende Magie, die auch die No-Go-Fraktion trotz nicht unerheblicher Abwehrreaktionen weiterhören lassen dürfte. Dass das zweite Stück „Robert Palmer” heißt, könnte tatsächlich als Schritt, als Geste in Richtung dieser Hörer*innen interpretiert werden, oder auch als (augenzwinkernde!) Hinterlist – hat der Track doch so überhaupt gar nichts mit dem verstorbenen Pop-Crooner zu tun (remember „Johnny and Mary”, um nur einen seiner großen Hits zu nennen). Im Gegenteil, das Stück ist eher verhalten und sachte experimentell und erzeugt durch diesen Stimmungswandel einen gewissen Neustart – ein sehr eigentümlicher Albumbeginn, aber, das wird sich in seinem weiteren Verlauf noch zeigen, ein total stimmiger.
Denn The Roaring Twenties ist durchgehend ein kurioses und eigenartig liebenswürdiges Album zwischen High-Speed-Easy-Listening, Meta-Pop, Gimmick-Techno und Unbenennbarem – immer fußend auf großem Pop-Potenzial. Dieses manifestiert sich im housigen dritten Track in einer eingängigen und gezielt eingesetzten Synthie-Melodie, in „Speakeasy” in Chords und Harmonien, die eine Assoziation zu dem Doobie-Brothers-Hit „What A Fool Believes” aufpoppen lassen, oder in „Com Torn” in Form einer Synthesizer-Solostimme, die den Part des Leadgesangs übernimmt. Begleitet wird diese Hookline von souverän den Backing-Vocals-Job erledigenden Akkorden, und zusammen mit einem Bass, der auch in einem Track der britischen Rave-Haudegen Slam eine gute Figur machen würde, wickelt dieses Stück heimtückisch um den Finger und entführt in eine fiktive 80er-Disco-Welt, die es so leider nie gab.
Auf diesem sowohl abwechslungsreichen als auch hohen Niveau sind alle weiteren Tracks angesiedelt – bleibt eigentlich nur noch, sich vor dem diesen Geist assoziativ erfassenden Titel des Albums zu verneigen, der von Schelmenhaftigkeit bis Nerd-Genialität alles umarmt, was diesen Longplayer ausmacht und der eigentlich eine weitere Abhandlung verdient hätte. Mathias Schaffhäuser
CYRK – Escaping Earth (Childhood)
Electro, wir sprechen hier von diesem irre traditionelle Genre, das bereits fast so alt ist wie der Blues, gilt ja eher als ziemlich maskuline Angelegenheit. Und tatsächlich, oft stecken mehr oder minder weltabgewandte Männer ganz unterschiedlichen Alters hinter Electro-Platten. Man stellt sich vor, wie sie mit mitten im Sommer in abgedunkelten Räumen die Zukunft von einst ganz neu erschaffen wollen und einen synkopierten Beat nach dem anderen ins Rollen bringen. Wie das Berliner Duo CYRK die Sache handhabt, wissen wir nicht. Männer sind Sami Sahraoui und Pascal Hetzel aber schon.
Speziell der Belgier Sahraoui ist schon eine ganze Weile aktiv und beschäftigte sich in den Nullerjahren mit diesem für jene Zeit so typischen Sound zwischen House und Minimal. Doch diese alten Geschichten muss man ja nicht aufwärmen. Als CYRK gehen die beiden seit einigen Jahren dem Traditions-Genre Electro nach, manchmal sagt ein Italo-Disco-Arpeggio auch ganz freundlich vaffanculo. Auf ihrem Debütalbum Escaping Earth interpretieren sie Electro dann doch sehr weltumarmend, ja fast zärtlich, und das, obwohl sie diese Welt doch hinter sich lassen und viel weiter fliegen wollen als Richard Branson oder Elon Musk.
„4.3 Lightyears” dreht zunächst langsame Pirouetten in der Schwerelosigkeit, „Random Destinations” interpretiert sodann die eigene Ziellosigkeit mit jeder Menge Vehemenz. Schnitt. Wir sind auf dem Mars und erleben im Track „Harpers of Mars” etwas, von dem der NASA-Rover bisher nicht zu berichten wusste: Harfenspieler. Doch dann die Ernüchterung: „No Intelligent Life”. Wie machen die das mit den Harfen? Abflug. Die „Intergalactic Refugees” tanzen noch ein klein wenig bezirzt eine Runde Electric Boogie. Am Wegesrand blicken wir auf Planeten in Gefahr und stranden schließlich im Unbekannten. Mit dem Wehklagen von 303s verabschiedet uns dieses außergewöhnlich gute und gar nicht ausgesprochen maskulin daherkommende Electro-Album wieder in den irdischen Alltag. In dem immerhin die Spätsommersonne lacht. Holger Klein