Biemsix – Find Your Own Meaning LP (Symbolism Ltd.)
Obwohl Ben Sims’ Label Symbolism nun schon seit mehr als 20 Jahren eine der tragenden Säulen des Floor-Driven-Techno darstellt, gibt es immer noch Premieren, die es für ihn und sein Label zu feiern gilt. Dass Techno hervorragend auf EPs funktioniert, zeigen aberhunderte denkwürdige Releases, die sich in unser aller Plattenschränke befinden. Nur geht es eben auch anders, meint Marco Bianchino, der als Biemsix produziert und veröffentlicht. Der junge italienische Künstler liefert auf Symbolism einen 14 Tracks umfassenden Longplayer ab, der zumindest dazu einlädt, den Status Quo als solchen zu hinterfragen. Quantität und Qualität sprechen auf jeden Fall für das gewählte Format. Herrlich unaufgeregt arbeitet sich der Künstler von einem stilistischen Einfluss zum nächsten. Von Detroit aus geht es schnurstracks über London ins Berlin der späten Nullerjahre und wieder zurück.
Dabei besticht er vor allem mit einem überdurchschnittlichem Gespür für Melodien und deren Einbindung in seine Track-Arrangements. Die Arbeiten an sich wirken jedoch leider allzu steril, und mehr als ein kleiner Zeh wird nie in die jeweilige Periode eingetaucht. Jeder Moment scheint wohl durchdacht und perfekt konzipiert – was gleichzeitig Kompliment als auch Kritikpunkt ist. Denn in Verbindung mit digitalen Aufnahme- und Produktionstechniken, geht so die natürliche Schönheit und Energie zu oft verloren. Man kann erahnen, wie die farbenfrohen Balken in der DAW wieder und wieder herumgeschoben werden, bis alles genau so ist, wie es Bianchino vorschwebt. Nur haben die langsam Staub ansetzenden Platten genau deshalb ihre wohlverdienten Plätze in unseren Schränken gefunden, weil sie die Natürlichkeit, Imperfektion und Balance haben, die diesem Album fehlt. Wenn Biemsix das noch findet, kann Magisches passieren. Am untypischen Format scheiterte es jedenfalls nicht. Andreas Cevatli
Foodman – Yasuragi Land (Hyperdub)
Foodman ist die englische Übersetzung von Shokuhin Matsuri – diesen Künstlernamen hat sich der Japaner Takahide Higuchi gegeben. Higuchi, der mit einer extrem verspielten Juke-Variante von sich reden macht, sagt über sich selbst, er sei eher ein selbsternannter Künstler denn ein Musiker. Sein Alias Foodman verrät es schon: Eine der großen Leidenschaften des Produzenten aus der japanischen Zweimillionenstadt Nagoya ist die Kochkunst, was vielleicht daran liegt, dass seine Eltern einen Yakitori-Laden besaßen. Yakitori, das sind diese japanischen Grillspießchen, die mit Fleisch, Fisch oder Gemüse zubereitet werden. Essen ist denn auch eine der beiden Hauptinspirationen des neuen Foodman-Albums Yasuragi Land. Takahide Higuchi lebt am Rand von Nagoya in der Nähe seiner Eltern, um die er sich kümmert. Eine seiner Ablenkungen im vergangenen Pandemie-Jahr waren Ausflüge zu den Autobahnraststätten der Michinoeki-Kette, wo man, wie er herausfand, hervorragend essen kann.
Die zweite Inspiration, die sich wie ein roter Faden durch Yasuragi Land zieht, sind Besuche in Spas, in Japan Sentō genannt. Während andere Leute gerne Gras rauchten, ginge er eben lieber in ein Sentō, die Wirkung sei vergleichbar, findet Higuchi. In seinen irre wuseligen, mit winzigen Samples gespickten Tracks nimmt er gerne Bezug auf die Freuden und Klänge des Alltags. Yasuragi Land mag rastlos und auch mal sperrig wirken, jede Form von Grimm oder Bitterkeit ist der Musik von Foodman allerdings vollkommen fremd. Humor und Spieltrieb sind hier die nimmermüden Triebfedern. Manchmal klingt das wie ein Orchester aus Spieluhren, das mit 160 Beats pro Minute musiziert. Man denkt an Actionfiguren, die im Kinderzimmer eine Footwork-Choreographie tanzen. Im nächsten Moment huschen Exotica-Motive mit Marimbas und Südseegitarren durchs Bild.
Wie in beinahe allen Tracks von Foodman sind Momente aber extrem flüchtig. Die nächste Idee liegt auf der Lauer. Überhaupt: Gitarrensounds. Sie sind neben der Tatsache, dass Yasuragi Land ganz ohne Bässe auskommt, die Neuerung dieses Foodman-Longplayers. Takahide Higuchi war früher mal mit Freunden als Straßenmusiker unterwegs, daher seine Verbindung zur Gitarre. Zur Musik kam er jedoch recht spät. Erst in seinem letzten Schuljahr begann er sich für Musik und dann auch das Musikmachen zu interessieren, schuld war das Playstation-Spiel Depth. Und so ist es wenig überraschend, dass der Micro-Juke-Sound auf Yasuragi Land über weite Strecken eben auch wie ein Game-Soundtrack klingt. Mit niedlichen Figuren, die ständig wuseln. Holger Klein
Gudrun Gut + Mabe Fratti – Let’s Talk About The Weather (Umor Rex)
Wetter erlebt jede*r täglich, es kann nicht anders, als da zu sein, und ist einer der beliebtesten Smalltalk-Aufhänger. Doch wann war das letzte Mal, dass man das Wetter richtig wahrgenommen, mit ganzer Aufmerksamkeit gespürt oder gehört hat? Meistens ist es dann doch nur ein Nebenprodukt des Alltags, außer eine Klimakatastrophe erschüttert die Welt für kurze Zeit. Anders ist es bei Gudrun Gut und Mabe Fratti. Auf ihrer LP Let’s Talk About the Weather geht es um nichts anderes als Temperatur, Aggregatzustände, Wind und Sonne. Etwas im alltäglichen Leben meist Triviales wie das Wetter wurde musikalisch aufbereitet. Dabei entstand das Konzept des Albums aus genau diesen fast schon banalen Unterhaltungen über das Wetter, die Gudrun Gut und Mabe Fratti über viele 1000 Kilometer zwischen Mexiko City und Berlin hinweg pflegten.
Während Fratti sich den Vocals der Platte widmete und Gut die Field Recordings aus den jeweiligen Städten aufbereitete, präsentierte sich das Wetter als die große Unbekannte im Alltagstrott, das Element, das sich keinem Gusto oder Laune beugt. Die musikalische Veräußerung umfasst dichten, drängenden und gleichzeitig diesig-nebeligen Ambient mit Post-Punk-Faible, stimmungstechnisch also passend für einen zu früh geendeten Sommer. Ein Highlight ist ein verzerrt dröhnendes Cello, das besonders in „Walk” und „In D” aufblitzt. Das Herzstück der LP ist jedoch der letzte Track „Let’s Talk About The Weather”, der wiederum in vier Teile aufgeteilt ist. Dabei kommen Gesprächsfetzen über alltägliche Wettersituationen oder Klimawandel wie in Part I oder Ausschnitte aus Wetterberichten in Part III erst durch das Gemenge aus gemächlichen Drums, wabernden Synths und Straßengeräuschen wie Vogelgezwitscher oder wummernde Motoren, über das sie sich legen, zur Geltung. Durch die musikalische Aufbereitung von Wetter in Stimmungen und Geräuschkulissen bekommt das Album fast schon einen Hörspiel-Charakter. Weiter weg vom Dancefloor könnte diese Kollaboration nicht sein, fürs Deep Listening aber wie gemacht. Louisa Neitz
Jana Rush – Painful Enlightenment (Planet Mu)
Die Platte geht an die Grenze. Und darüber hinaus. Was die Chicagoer Footwork-Produzentin Jana Rush auf ihrem zweiten Album präsentiert, ist mit dem Titel Painful Enlightenment ziemlich treffend zusammengefasst. Nicht unbedingt einfach zu hören, wie sie ihre pistolenschusstrockenen Beats mit Dingen verbindet wie einem Free-Jazz-Saxofonsolo, Orgasmusstöhnen oder Gitarrenfiguren, die komplett gegen den Groove der restlichen Elemente gehen. Für Jana Rush selbst ist die Musik kein Footwork mehr. Ob man das ebenfalls so sieht, hängt vermutlich von der Strenge ab, die man an Genres und Grenzen legt. Die Hochgeschwindigkeitsstotterbeats des Footwork gibt es jedenfalls – oder doch nicht? Sie sind auf ein Minimum zurückgefahren, was von ihnen übrig geblieben ist, genügt aber, um Fliehkräfte zu erzeugen, an denen sich die übrigen Elemente abarbeiten können. Die Wirkung ist paradox: Obwohl Jana Rush ihre Tracks höchst sparsam produziert, erzeugt sie mit innerem Zerren eine Spannung, deren Heftigkeit einem schon einiges abverlangt. Eine Grenzerfahrung. Man kann sogar versuchen, dabei zu tanzen. Tim Caspar Boehme
Jorum – Bloodwood Moon (Hypnus)
Den ungestümen Regungen der Natur einen artgerechten Score verleihen – das haben schon viele versucht, in so ziemlich jedem Genre, egal in welcher Dekade. Die Meisten sind daran gescheitert, haben sich übernommen, zu groß oder klein gedacht. Gerade im Bereich elektronischer Musik gibt es dafür immer wieder Beispiele, die hier besser unerwähnt bleiben. Beim schwedischen Label Hypnus erscheinen seit Mitte der Zehnerjahre allerdings Alben, die zeitgenössischen Techno als ähnlich mächtig wie Verschiebungen tektonischer Platten begreifen und tatsächlich dementsprechend klingen. Von Luigi Tozzi und BLNDR über Feral, Primal Code und Mohlao bis zu Birds ov Paradise und Härdstedt droppen hier in regelmäßigen Abständen einige der fähigsten Produzierenden im Bereich Ambient- und Dub Techno ihre Ideen jenes Styles, der immer wieder passende Begleitmusik für abgefahrene BBC-Dokus in doppelter Geschwindigkeit sein könnte.
Bloodwood Moon zählt auf dem Level zweifellos zu den denkwürdigsten Veröffentlichungen eines Backkatalogs, dem es beileibe nicht an solchen mangelt. Alexander Berg (Dorisburg) und Sebastian Mullaert (Wa Wu We) beschwören hier als Jorum in gut einer Stunde und sechs ausufernden Tracks die tellurische Wucht langwieriger Prozesse in unserer Biosphäre – von der billiardenfachen Vermehrung endloser Algenteppiche über das Aufbäumen himmelhoher Gebirge bis zum darwinistischen Kampf allen prokaryotischen Lebens. Die Beatprogrammierung entfaltet sich dabei stets ominös und in scheinbar endlosen Räumen, hallt und verschwimmt am dunklen Horizont. Melodische Themen werden darunter nie mehr als angedeutet, klingen opak und wie aus einer Jahrhunderte alten Signalübertragung – als hörte man Voices From The Lake im Keller der Sleep Research Facility jammen. Also unterm Strich weitgehend von Clubtauglichkeit entschlackter Techno, dem eine meterdicke Atmosphäre alles bedeutet. Zu Recht. Nils Schlechtriemen
Mano Le Tough – At The Moment (Pampa)
„Poesie ist die Sprache der Krise.” Das Zitat von Stéphane Mallarmé begleitete Niall Mannion alias Mano Le Tough im Produktionsprozess seines Albums At The Moment. Für den in Zürich lebenden Iren funktionieren Krisenzeiten wie kreative Katalysatoren. Ihn würden mehr schlechte als gute Zeiten zum Produzieren anregen, sagt er selbst. Und die Pandemie muss wohl wie eine Art Superkatalysator gewirkt haben. In der Isolation des Lockdowns ist eine LP entstanden, die sich weniger über ein konkretes Konzept definiert als über die Fülle an Stilen und Klangelementen, die sich auf ihr tummeln. Viele Soundeffekte treten nur für kurze Zeit innerhalb eines Tracks zum Vorschein, bevor sie wieder verschwinden, wie beispielsweise ein kurzes Field Recording mit Applaus auf dem Opener „Man of Aran”.
Das trägt zu einem etwas zerstückelten Charakter des Albums bei, das an Stellen durch das hohe Maß an kurz auftretenden Elementen haltlos klingen mag. Obwohl meist in einer House-Ästhetik gehalten, verlieren sich Tracks wie „Aye Aye Mi Mi” doch auf der 2000er Indie-Pop Schiene und „Together” lehnt sich mit euphorisierend rauschenden Synths und hochgepitchten Vocals arg an EDM an. Gleichzeitig bestechen andere Tracks genau durch dieses Genre- beziehungsweise Effekt-Konglomerat, das anscheinend keine Grenzen kennt. „Pompeii” schlägt die House-Richtung ein, wobei zuerst klimpernde, wie ein Windspiel klingende Perkussionen und später zischende bis galaktisch zirpende Synths dem Track eine verspielte Note geben. Und mit „No Road Without A Turn” schafft es Mannion vom dubbigen Reggae-Einschlag über kosmisches Scheppern und Arpeggios bis zu Folk-Electronica zu gelangen, mitsamt weichen Akkorden einer akustischen und dem angenehm zähen Solo einer elektronischen Gitarre. Der ständige Wechsel von Genres als auch Soundeffekten passiert hier fließend. Doch was an mancher Stelle funktioniert, wird Mannion an anderer zum Verhängnis. Louisa Neitz
Minder – Telepathy (Sneaker Social Club)
Bei einem 100 Minuten langen Debüt kann man versucht sein, ein wenig Größenwahn zu vermuten. Der mag wohl auch im Spiel sein beim ersten Album von Minder. Die Länge hat in diesem Fall aber vor allem mit dem Format zu tun. In der Tradition der rave tape packs, die mit ihren unförmigen Hüllen, meistens selbst gestaltet, Teil der britischen rave culture waren, hat Minder das Album nach einem der damals einschlägigen Label Telepathy genannt und auf zwei Kassetten aufgeteilt, die in einer zitronengelben Hülle ihr Zuhause haben. Minder hat allerdings nicht allein feiergeschichtsträchtige Verpackungsideen, sondern vor allem interessante Ansätze bei der Fortführung des Drum’n’Bass-Modells. Besonders seine Beats gefallen mit kunstvoller Kaputtheit und diversen Variationen der Amen-Break-Basis. Ein starker Auftakt ist „Lips” mit stoisch zischendem Beat, unter dem ein Bass Treibsand-artig hin und her wabbelt, während eine schüchterne Stimme „Let me feel your lips” dazu singt. Auf die volle Länge hingegen trägt das Innovationspotenzial von Telepathy vielleicht nicht ganz. Dafür sind einige Nummern dann doch zu formelhaft geraten. Ist eben eine ganz schöne Menge Material. Andererseits bleibt dieses Doppeltape musikalisch dem Hardcore-Gedanken konsequent treu. Auch das ein stilvoller Tribut. Tim Caspar Boehme