Sansibar (Alle Fotos: Presse)
„Electro wirft dich aus der Welt, zerrt dich ins Universum des Tracks. Er liefert eine robotische Elektrizität”, heißt es im wegweisenden Buch More Brilliant Than The Sun des Birminghamer Techno-Philosophen Kodwo Eshun. Anzunehmen, dass Eshun heute, gut 20 Jahre später, auch seine Freude hätte, denn mit Sansibar gibt es neues Futter für die Futurhythmaschine, die in dem Fall retrofuturistisch anmutet.
Hinter Sansibar verbirgt sich der finnische Produzent Sunny Seppä, der in seinen Tracks den Sound früher Electro-Produktionen mit Hi-Fi-Sounddesign kombiniert und sich mit seinen kosmischen Synths gern in andere Dimensionen spaced. GROOVE-Autorin Shilla Strelka sprach mit dem Musiker über Roots und Cyborgs, seinen Bezug zu Detroit und darüber, wie politisch seine Sounds sind.
Electro ist wieder im Kommen. Das Genre, das in den 1980ern als Electronic Funk mit Acts wie Kraftwerk, Mantronix und Cybotron seine Initialzündung erfahren hat und sich in den 1990er Jahren mit Drexciya vom Club-Kontext emanzipierte, erlebt seit einigen Jahren ein Revival. Jüngere DJs wie Helena Hauff oder klassische Vetreter wie DJ Stingray bringen den Sound zurück auf den Dancefloor und verschieben die gesamte Clubszene damit weg vom linearen Techno-Beat hin zu synkopierten Rhythmen. Das Genre selbst ist unwahrscheinlich variabel, kann genauso dark wie uplifting sein, sich Richtung Techno und House, aber auch Industrial und Wave bewegen. Stilprägend sind die Hinwendung zur Melodie – der Soul – und die gebrochenen Rhythmen.
Zwischen Detroit und Helsinki
Denkt man an Finnland, denkt man zuerst mal an Sähkö und Pan Sonic, an Sinuswellen-Techno und Modular-Synths. „Ich bin schon seit den späten Teenagerjahren großer Fan der ganzen Sähkö-Recordings-Crew”, bestätigt Sansibar im Interview, „aber es gibt so viel großartige elektronische Musik aus Finnland.” Acts wie Mono Junk, Mr. Velcro Fastener und Imatran Voima prägen die lokale Szene und beeinflussen auch ihn.
Wohnort:
Helsinki
Seit wann am Produzieren:
2014
Dein erster richtiger Gig:
Als Sansibar 2015
Was auf deinem Hospitality Rider nicht fehlen darf:
Lauwarmes Wasser und feuchte Zigaretten
Diesen Track höre ich in letzter Zeit gerne:
Gil Scott-Heron – Angola, Louisiana
In Helsinki geboren, führte ihn sein Weg über unterschiedliche Genres zur elektronischen Musik. Er ist als Bassgitarrist in Metal-, Punk- und Indie-Bands und unter dem Synonym SPS im Ambient- und Noise-Kontext aktiv. Auch Gitarre und Schlagzeug hat er gespielt, bevor er sich vor sechs Jahren von der Bandmusik abwendet und als Sansibar solo zu produzieren beginnt. „Ich habe angefangen, in meinem Schlafzimmer mit einer Gitarre, SP404, Alpha Juno und gecrackter Ableton-Live-Software herumzuprobieren.”
Seit dieser Zeit produziert Seppä konstant. Mit einem Release pro Quartal hat er einen beachtlichen Output. „Ich habe einige Zeit in meinem Studio gewohnt, also hatte ich nichts anderes zu tun, als Sounds zu produzieren. Ich denke, dass ich durch diese Erfahrung in gewisser Weise auch süchtig danach geworden bin. Ich glaube, dass ich ungesund viel Zeit im Studio verbringe”, lacht er.
Sein Setup besteht mittlerweile aus Laptop, diversen Analog-Synths, Samplern und Drum Machine. Die Roland-Maschinen spielen eine zentrale Rolle in seinen Tracks, aus ihnen filtert er Sequenzen, Ambient-Scapes und Beats. Von bouncy Tracks wie „Game Over” oder atmosphärischen Nummern wie „Liquid Programming” zu den trancigen Acid-Synths in „Sissi” grenzt sein Electro an die verschiedenen Spielarten von Techno. Die Wärme der analogen Sounds kombiniert er mit der digitalen Crispness des Sounddesigns. „Ich liebe es, sowohl analog als auch digital zu arbeiten. Für mich ist der Computer genauso inspirierend wie ein physisches Instrument.”
Sansibar zählt zu einem der up-and-coming-Acts einer neuen Generation von Electro-Produzent*innen. Im Interview zeigt er sich danach gefragt aber zurückhaltend: „Wenn ich Musik für Clubs mache, ist es mir egal, ob die Leute sie als House, Techno, Electro, Jungle, Garage, Ambient oder was auch immer wahrnehmen. Das heißt nicht, dass ich die Unterschiede zwischen bestimmten Genres nicht sehe. Es ist nur so, dass ich, wenn ich spiele und kreativ bin, versuche, mich nicht einzuschränken. Es ist einfach Musik, die ich mag. Aber was ich besonders an Electro schätze, sind die Breakbeat-artigen Rhythmen, die Raum für manipulierte Basslines und spacige Soundscapes bieten. Ich glaube, dieses einzigartige Gefühl kommt von der futuristischen elektronischen Funkyness, die mit einer fast paranoiden Atmosphäre einhergeht.”
Mit seinem 2019 erschienenen Debütalbum Targeted Individuals knüpft Sansibar an das Detroiter Sound-Kontinuum an, indem er den frühen Sound der Techno-Gründerväter mit atmosphärischem Acid, Breakbeat-lastigem IDM und glasklarem Sounddesign fusioniert. „Für mich entspringt das Musikmachen und das Ethos im Techno in gewisser Weise dem Bedürfnis, einen Flow oder eine bestimmte Harmonie zu finden, und dem Verlangen, den Dingen einen Sinn zu geben, sich zu emanzipieren, wenn man so will. Ich denke, das ist auch einer der Hauptgründe, warum Techno zeitlos und futuristisch zugleich klingt.”
Das Album beinhaltet viele Querverweise – Tracks wie „Meri” oder „Transfixion” weisen klare Referenzen zu Drexciya auf, während sich Nummern wie „4DigitCode” an den Proto-Techno-Pionieren Kraftwerk orientieren. Ob er dem Cyborg-Konzept der frühen Produzenten etwas abgewinnen kann? „Ja! Wenn ich Musik mit Maschinen mache, gehe ich in einen automatic mode, in dem ich nicht nachdenken, urteilen oder analysieren muss. Ich handle einfach intuitiv.”
Musik als Selbstermächtigung
Kinky Breakbeats, dynamische Bass-Lines, kosmische Scapes und prägnante Vocal-Snippets bilden das Rückgrat seiner Tracks. Sein Gespür für melodische Klarheit und konzise Strukturen machen die Nummern so elegant. Die von ihm eingesprochenen Vocals werden durch den Vocoder gefiltert. „Ich verwende viele Samples und Snippets aus unterschiedlichen Quellen, aber meistens handelt es sich um meine eigene Stimme. Normalerweise benötige ich dafür auch nicht viel Zeit. Ich schnappe mir das Mikro und probiere herum.”
Auf jeden Fall hätte er eine verdammt lange Liste an Worten, Zitaten und Sätzen, auf die er zurückgreifen kann. Auf die Frage, ob sich dahinter tiefere Botschaften verbergen, meint der Musiker: „Es gibt immer eine Bedeutung oder eine Intention hinter den Vocals, die mir irgendwie wichtig ist. Manchmal kommt das vielleicht nicht rüber, aber ich finde es auch gut, dass Leute ihre eigenen Ideen und Assoziationen einbringen können, ohne dass ich das viel erkläre.”
Ähnlich wie die Pioniere aus der Motorenstadt ist auch Sansibar von Sci-Fi-Konzepten beeinflusst. „Ich finde Technologie, Sci-Fi und utopische und dystopische Realitäten sehr inspirierend. Es regt mich an, die Entwicklung der Gesellschaft aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ich sehe die Verbindung von Sci-Fi und Techno in der Art und Weise, wie die Musik gemacht wird, und in der Ästhetik des Imaginären in der Musik. Ich denke, da gibt es eine untrennbare Verbindung. In gewisser Weise ist es Musik, die die Sinne zu neuen Utopien anregt.”
Auf die Frage, was es eigentlich mit seinem Namen auf sich hat, meint Seppä: „Sansibar war mein Spitzname als Kind, aber der Name ist auch inspiriert von John Okello und der Sansibar-Revolution im Jahr 1964.” Damals wurden dort die arabischstämmigen Sansibari und deren Sultanat entmachtet, und Sansibar wurde Republik.
Wie politisch er in Folge seine Musik sieht? „Nicht politisch zu sein, ist an sich schon eine politische Entscheidung. Ich denke, wenn ein*e Künstler*in sagt, dass er oder sie nicht politisch ist, werden nur die bereits bestehenden sozialen und politischen Strukturen verstärkt. Unter diesem Aspekt ist Musik für mich immer politisch. Für mich ist Musik die stärkste künstlerische Ausdrucksform, um zur Selbstermächtigung zu gelangen.”