Text: Arno Raffeiner, Fotos: Richard Bellia
Erstmals erschienen in GROOVE 123 (März/April 2010)
Teil eins | Teil zwei | Teil drei
Betrachtet man die fortschreitende Nutzung – manche würden wohl sagen: „Plünderung“ – des klassischen Repertoires durch Pop und speziell elektronische Musik (prominentes Beispiel: Wolfgang Voigts Projekt Gas, erste Veröffentlichung 1995) kann Not For Piano als ein diesem Trend entgegengesetztes Programm gelten: Techno als Aufhänger für ein Soloklavier-Album. Gleichzeitig lässt sich die Unternehmung als Versuch verstehen, die Grundkonstanten elektronischer Tanzmusik außer Kraft zu setzen. Sound wird als Signifikant fast bedeutungslos, wenn nur mehr ein einziges akustisches Instrument zum Einsatz gelangt. Die allzeit verlässliche 4/4-Bassdrum, über die sich Rhythmik und Funktionalität vorrangig mitteilen, wird ersatzlos gestrichen. Was dabei rauskommt? Überaus konzentrierte Studien des Klaviers als Repetitionsmaschine. Und wie bringt das elektronische Tanzmusik weiter nach vorn? Die Antwort auf diese Frage blieb das Album vorerst schuldig.
Selbst wenn es Tristano allein am Klavier nicht unbedingt schaffte, einem Klassiker wie „Strings Of Life“ neue Seiten abzugewinnen, so erregte seine Musik doch viel Aufsehen – gerade in Zirkeln, die mit Klassik bis dahin nichts am Hut hatten. Auch Agoria, dessen Mutter immerhin Mezzosopranistin an der Oper war, hat sich erst vor einigen Jahren in diese Richtung orientiert, woran Tristano als erster Künstler seines Labels vermutlich nicht ganz unschuldig ist. „Meine Erweckung als Teenager waren Platten von Jeff Mills, Inner City, Laurent Garnier. Ich war total blind für alle andere Musik außer Techno. Aber mit Ende zwanzig habe ich mich wieder geöffnet, und zwar für alles Mögliche.“ Inzwischen ist Agoria überzeugt davon, dass eine neue Generation mit einem anderen Hintergrund elektronische Musik neu erfinden wird. „Clubmusik wurde ursprünglich hauptsächlich von DJs produziert. Aber klassische Musiker werden in der elektronischen Musik den nächsten Schritt machen. Sie werden viel mehr Musikalität einbringen, mehr Melodie, mehr Inspiration. Es wird genau das sein, was wir jetzt brauchen.“
Wie das allerdings so ist mit nächsten Schritten: Oft geht es zwei nach vorne, aber dann auch wieder einen zurück. Aufgang machen Musik, die von den Abstraktionswelten gängiger Tanzmusik wiederum ziemlich abstrahiert, sich also vom elektronisch Unbestimmten und Vagen – nennen wir es die Freiheit im Raster – wieder entfernt und dadurch ungewohnt, ähm, konkret wird. Das ist schon in der Grundidee angelegt. Die Klaviere von Tristano und Khalifé klingen eben: wie Klaviere. Schließlich ist genau das der Dreh, der Aufgang auch in Klassik-, Jazz- oder sonstigen Zusammenhängen anschlussfähig und diskussionswürdig, ja, auch aufregend macht; der ein anderes Publikum anspricht und neue Interessen erregt oder befriedigt. Stichworte: Genussfähigkeit, Handarbeit, Sehnsucht nach Abwechslung und Authentizität.
Das ist allerdings der Punkt, an dem die Musiker selbst entschieden widersprechen. „Die Einzigartigkeit unseres Projekts basiert ja gerade auf dem Klavier, auf der Tatsache, dass man damit so unterschiedliche Dinge spielen kann“, erwidert Rami Khalifé (Bild rechts) auf die Frage, ob sie nicht schon mal daran gedacht hätten, bei Aufgang ihre Flügel mal ganz wegzulassen. „Wir sind in Clubs auch schon ohne Klaviere aufgetreten. Aber das ist nicht dasselbe, für uns nicht und für das Publikum auch nicht.“ Francesco Tristano geht noch einen Schritt weiter: „Für mich ist das Klavier immer schon ein Synthesizer gewesen. Eine wahnsinnige Sound-Maschine, eine große schwarze Kiste, aus der man einfach unglaubliche Sounds ziehen kann.“ Was die beiden dabei nonchalant unterschlagen, ist, wie sie gemeinsam mit Aymeric Westrich auf der Bühne selbst zu einer Musikmaschine mutieren, dreiköpfig, sechshändig, zum Glück nicht vollkommen unfehlbar.
Kurze Phase des Klimperns
Francesco Tristano begann im Alter von fünf Jahren, mit dieser „wahnsinnigen Sound-Maschine“ herumzuspielen. Im konkreten Fall mit einer ziemlich alten Kiste, die einfach immer schon zu Hause rumstand. „Ein Trick meiner verrückten italienischen Mutter“, sagt er, der bei dieser Frau zwischen Pink Floyd und Vivaldi aufwächst, immer mit dem Lautstärke-Regler am Anschlag. Die Phase des Klimperns ist für ihn offiziell mit zwölf Jahren beendet, als er sich fest vornimmt, Konzertpianist zu werden. „Wenn man jung und begabt ist, geht das Spielen fast von selbst“, sagt er. „Man braucht kaum zu üben, um weiter klimpern zu können. Aber wenn man besser werden will, dann gibt es kein Geheimnis. Dann muss man einfach nur üben.“ Nach dieser Entscheidung gab es dann kein Zurück mehr: Tristano studierte am Konservatorium in Luxemburg, danach in Brüssel und ein Jahr in Paris. Mit 16 ging er „als kleiner Luxemburger“ nach New York und war überwältigt. „New York war meine Erziehung. So eine Stadt gibt dir unheimlich viel Energie und viele Ideen für deine Kunst. Auch abgesehen von der Juilliard School, wo ich im pianistischen Sinn gar nicht so viel gelernt habe. Juilliard bedeutet für mich: Bruce Brubaker, das ist ein genialer amerikanischer Pianist und Pädagoge, der dort mein Lehrer war, und Rami Khalifé.“ Mit dem gleichaltrigen Khalifé spielte Tristano von Anfang an viel im Duo, meist auf der Basis von Improvisationen. Sogar bei öffentlichen Konzerten spielten die beiden vollkommen aus dem Stegreif, worauf Tristano immer noch stolz ist: „Das hatte es an der Juilliard School vorher noch nie gegeben, da waren Rami und ich Pioniere in der fast hundertjährigen Geschichte dieser Schule.“
Schnell kommt für die beiden ein weiteres Fach hinzu, für das sie jedoch bevorzugt nachts, außerhalb der Institutsmauern, büffeln: House und Techno. Gemeinsam mit Aymeric Westrich, einem Schulfreund von Khalifé, der kurz nach ihnen nach New York gezogen war, zogen sie durch die Clubs, begeisterten sich für die DJ-Sets von Danny Tenaglia, entdeckten Detroit-Techno. „Wir haben zwei Jahre lang nonstop Jeff Mills und Carl Craig gehört“, erinnert sich Tristano. Im letzten Studienjahr legte er selbst einmal pro Woche in einem kleinen Laden in Downtown Manhattan auf, immer zusammen mit befreundeten Musikern und einem Keyboard neben den Plattenspielern. Das Deejaying veränderte seine Auffassung von Musik radikal. Auf die Frage hin, ob er Plattenmischen angesichts seiner erstklassigen Ausbildung nicht ein bisschen unterkomplex finde, kommt Tristano im Gegenteil ins Schwärmen. „Es geht um so viel mehr als nur um das Beatmatchen von zwei Platten. Als ich das wirklich entdeckt und gelebt habe, sind mir viele Sachen klar geworden – etwa, was Minimal Music überhaupt bedeutet und dass man mit wenigen Elementen sehr viel machen kann. Ein Track ist in einem DJ-Set immer nur Teil einer größeren Struktur. Das finde ich ein sehr schönes Konzept: Die Musik geht immer weiter, wie ein Kontinuum. Das hat meine Art und Weise, Klavier zu spielen, vor allem beim Improvisieren, sehr inspiriert. Ich habe auch begonnen, klassische Konzertprogramme wie eine Setlist zu gestalten, indem ich mir Überblendungen von einer Komposition zur nächsten überlegt oder manchmal improvisierte Übergänge gespielt habe.“
Als Tristano dann nach seinem Studium in New York zurück nach Europa zieht, ist die Begegnung mit Alex Cazac und Agoria sowie das daraus entstehende erste Album schließlich der vorläufige Kulminationspunkt dieses Zusammendenkens von Strukturen der elektronischen Musik mit seiner Praxis und dem virtuosen Handwerkszeug als Pianist. Die über Infiné vermittelte Zusammenarbeit mit Carl Craig und Moritz von Oswald erscheint von hier aus wie eine logische Fortsetzung – und sie macht Tristano zu einer der zentralen Figuren der aktuellen Klassik-Techno-Liaison. Er spielt Klavierparts für Tracks von Carl Craig ein und schreibt Arrangements für das Orchester-Liveprojekt Versus, mit dem er mehrmals an der Seite von Craig und Moritz von Oswald auftritt. Letzterer wiederum verfeinert am Mischpult Tristanos Album Auricle / Bio / On, für das sich Tristano von dem Avantgardekomponisten Luciano Berio ebenso beeinflussen ließ wie von Dubtechno.
Stream: Francesco Tristano – Auricle Bio (Edit)
Aufgang gründeten die Musiker allerdings noch vor der Bekanntschaft mit den genannten Techno-Größen, und zwar dezidiert als Bastard aus virtuosem Klavierspiel und elektronischen Sounds. Wenn man der Legende glauben darf, hat der Projektname seinen Ursprung in Berlin. „2002 waren Rami und ich in den Hackeschen Höfen in Berlin-Mitte“, erzählt Tristano. „Dort gehen vom Innenhof Aufgang A, Aufgang B hoch und so weiter. Rami fragte mich, was das bedeutet, aber ich konnte ihm das Wort aus dem Deutschen nicht wirklich übersetzen: etwas, das nach oben geht. Er meinte sofort, wir könnten das benutzen. Zu dem Zeitpunkt haben wir schon seit Jahren als rein akustisches Pianoduo zusammen gespielt, und irgendwann haben wir entschieden: Aufgang wird etwas ganz Bestimmtes sein, es soll elektronische Elemente mit unserem Klavierspiel kombinieren. Aymeric war dann der Mann, der diesen elektronischen Part übernehmen sollte.“
Aufgang selbst begründen diese Entscheidung mit ihren persönlichen Erfahrungen, mit ihrer parallelen Musikerziehung am Konservatorium und im Club und nicht zuletzt mit der prinzipiellen Grenzenlosigkeit aller Klänge. Dabei lässt sich die aktuelle Techno-Klassik-Hochzeit durchaus auch als eine Sehnsucht beschreiben, die strukturellen Gründen entspringt. Die Konjunktur der Virtuosität und des vermeintlich Authentischen – der altbekannte Ruf nach handgemachter, visuell nachvollziehbarer, irgendwie „echter“ Musik – erzählt von der Suche nach Orientierung und Übersichtlichkeit in einer Zeit, in der prinzipiell alle alles machen können. Was ist denn noch gut davon, was scheiße? Was brauche ich, was nicht? So geht es auch in elektronischer Musik immer wieder neu um Legitimation, und auf irgendeine Weise quantifizierbare Kriterien sind dabei nicht ganz unpraktisch. Da kommen perfekt ausgebildete Musiker, die sich im Kontext von Klassik und/oder Jazz vielfach bewiesen haben und nun ihre Wertschätzung für schnurgerades Bummbumm ausdrücken, gerade recht. Kurz gesagt: Techno ist reif für die Musikhochschule. Die Zeit der Clubknaller mit Juilliard-Zertifikat bricht an.