Was waren die Gassenhauer und die Gamechanger der 2010er? Wir haben 10 Tracks ausgewählt, ohne die das Techno-Jahrzehnt anders geklungen hätte. Laura Aha, Max Fritz, Kristoffer Cornils und Alexis Waltz haben sich in der GROOVE-Redaktion darüber unterhalten, wie diese Tracks Sound und Szene verändert haben.

Wax – No. 30003 (B) (2010)

Alexis: Shed steht repräsentativ für das gesamte Jahrzehnt, dafür, dass die 2010er viel stärker von den 1990ern gezehrt haben als von den 2000ern, an die sie zeitlich unmittelbar angeknüpft haben.

Kristoffer: René Pawlowitz hatte ein irres Jahrzehnt. Die Nummer ist und bleibt vermutlich aber seine größte. Da werden Erinnerungen ans Horst Krzbrg wach. Vor allem aber denke ich mir: Kaum jemand hat es damals geschafft, dermaßen weit nach vorne vorzugreifen, indem er sich in der Vergangenheit bedient hat.

Alexis: Eine Wiederholung, die doch keine ist.

Kristoffer: Genau! Da steckt Hardwax-Geschichte drin, Dub Techno, das alles. Dockte natürlich an Dubstep an, das damals gerade in der UK-Version am Abschmieren war und langsam in den USA die Main Stages in seiner Skrillex-Variante eroberte.

Alexis: Stimmt, mit Dubstep stecken auch die 2000er mit drin.

Max: Horst Krzbrg, das Jahr 2010, das sind für mich alles keine Bezugsgrößen. Dub Techno höre ich natürlich trotzdem raus und bin auch als Musikkonsument der späteren 2010er natürlich nicht an dem Track vorbeigekommen. Bis heute auch eine Nummer, die einem der unerbittliche YouTube-Algorithmus immer wieder zum Fraß vorwirft.

Kristoffer: Schon interessant eigentlich, dass wir nur einen wirklich Berliner Track in dieser Auswahl haben. Es gab kein „Subzero” für die Zehnerjahre, scheint mir. Techno-Hits waren da – „Mixtion”, „I Wanna Go Bang” und so weiter. Aber es fehlte das dezidiert hauptstädtische Element. Shed hat es hier in Perfektion in einen Track gegossen. Eine Hymne, die Richtung Zukunft schaut, sicherlich, aber vor allem eine Verbeugung vor Mark Ernestus und Moritz von Oswald.

Alexis: Klar, der Track ist seine Basic Channel- und besonders Maurizio-Hommage. Aber was war genau Sheds individueller Beitrag? Ihm geht es um Maximierung und Vereinfachung. Aus der Distanz den Masterplan der Neunziger nochmal eindeutiger auf den Punkt bringen.

Kristoffer: Ja, und um mehr nicht. Das ist ja Tolle.

Max: Klar, die Basic Channel-Referenz begreife ich. Aber ist das damit dann das einzig dezidiert Berlinerische?

Kristoffer: Sheds Techno schert sich ja herzlich wenig ums Business und, so pathetisch das klingt, das ist seiner Musik auch anzuhören. Da steckt noch ein Underground-Verständnis drin, das bis heute unterschreibbar bleibt und in einer Berliner Tradition steht.

Laura: Da ich 2010 noch nicht so deep im Technogame drin war, musste ich mich hier ganz klassisch über Recherche annähern. Fand dabei aber interessant, dass der Track bei RA zum Release als „one of his least charismatic” abgeurteilt wurde, neun Jahre später dann als totaler Klassiker bewertet wurde. Wurde er gleich von Anfang an als so bedeutend wahrgenommen?

Kristoffer: Nicht nur das, ein Track wie dieser funktioniert eben auch im Berghain-Kontext. Das lief da rauf und runter. Nur vielleicht auf -2. Er ist für Sheds Verhältnisse natürlich schon unglaublich straight und, wie Alexis schon richtig meinte, simpel. Ich denke, das wird vielleicht die Kritik abgeturnt haben.

Max: Spannend, wie man sich als Rezensent wohl irren kann. Das ist Sound, der einfach nicht stört und eben aber auch nicht langweilig wird.

Alexis: Gute Frage, warum es im Berlin der 2010er keine Techno-Hits mehr gab. Wahrscheinlich waren das dann Tale of Us. Das Berlin der 2010er ist eben eine Hub der Zugereisten. Oder Techno-Klassizismus.

Kristoffer: Ha, ja! Und Pawlowitz als Brandenburger – wenn ich das recht in Erinnerung habe – war da eben der naheliegendste Retter der Hardwax-Tradition. Hat sich bewiesen, funktioniert immer noch.

Alexis: Pawlowitz hat alle Kapitel der 1990er, die für ihn wichtig waren, nach seiner Methode durchgearbeitet. Da steckt ja auch die implizite These drin, das Berlin heute nur noch geil sein kann, wenn es sich auf die Neunziger bezieht.

Kristoffer: Und diese Bassline, hach. Da wird zugleich das UK-Revival ab 2013 antizipiert. Das sind Töne, wie sie heute beispielsweise Mark wieder aus dem Keller geholt hat.

Alexis: Guter Punkt. Interessant auch, wie wichtig er für Producer war, die in Foren darüber diskutierten, wie er die Snares oder die Bassdrums hinbekommen hat. Das ist so faszinierend wie selbstbezogen.

Kristoffer: Es war eher ein Nebenprojekt und wurde dementsprechend auch unter einem anderen Pseudonym veröffentlicht. Das pflegt Pawlowitz ja weiterhin: Releases anonym veröffentlichen. Ich würde den Track vermutlich so nicht ins Shed-Werk einordnen, weil es zum Wax-Oeuvre gehört.

Laura: Wo siehst du da den Unterschied, Kristoffer?

Kristoffer: Shed ist in seiner Machart breakiger, das hier… Nun ja, das ist eben ein dubbiger Techno-Track mit maximalem Groove. Das sind schon zwei verschiedene Schubladen. Einen Track wie diesen findest du nicht unbedingt auf einem Shed-Album. Genauso wie du einen Head-High-Track nicht auf einer Shed-LP finden würdest.

Max: Wollte gerade Head High noch in den Raum werfen. Das ist da definitiv näher dran, wenn’s auch deutlich sauberer klingt.

Laura: Aber wieso findet ihr den eigentlich so prägend für das Jahrzehnt? Dub Techno war doch eigentlich eher ein Nullerjahre-Ding, welche Relevanz hatte der Sound 2010 überhaupt noch?

Kristoffer: Klar. Jedes Pseudonym enthält seine eigene Poetik. Dieses hier ist wahnsinnig direkt, funktional – und bringt damit glaube ich schon Techno anno 2010 gut auf den Punkt. Das Berghain war gerade endgültig zum beliebtesten Club der Welt aufgestiegen, Berlin Calling hatte den Easy-Jet-Tourismus-Wahn nochmal angekurbelt und so weiter. Ein bahnbrechendes Jahr eigentlich, und der Sound des Ganzen findet sich hier in Reinform.

Alexis: Das Originelle daran ist vielleicht, dass es gar nicht darum geht, mit den Variationen der Dubs zu arbeiten wie bei Maurizio. Stattdessen soll der Loop so fett sein, dass er den gesamten Track trägt.

Caribou – Odessa (City Slang, 2010)

Kristoffer: Birkenstock-House!

Max: Fand ich mit 16 super. Und tue das auch heute noch.

Laura: Selbes Jahr – komplett andere Ecke. Hat mich als Indiekid komplett abgeholt!

Max: Auch ein sehr emotionaler Text dabei, der auf jeden Fall mehr in der Indie-Ecke als auf dem Dancefloor was zu suchen hat.

Alexis: Auch wenn ich von Laura schon dafür (mit Recht) ausgeschimpft wurde: Caribou deckt für mich ihm Jahrzehntzusammenhang auch Four Tet und Floating Points ab: House als Mittelstandsmodell.

Kristoffer: Ich kann Caribou beziehungsweise Dan Snaith ja überhaupt nicht leiden, muss ich gestehen. Aber auch in diesem Track drückte sich etwas Musikhistorisches aus. Nachdem Indie und Dance Music in den Nullerjahren unter anderem auf DFA zusammenfanden, war das hier – na ja, eine Synthese von beidem. Sachen, die im Club ebenso funktionierten wie im Mauerpark mit voller Band im Rücken.

Alexis: Total.

Max: Absolut, hatte da jetzt weniger an den Mauerpark und mehr an die Hauptbühne des Melt gedacht, aber der Unterschied ist in dem Fall ja nur marginal.

Kristoffer: Die Röhrenhosen-Crowd fand sich plötzlich auf dem Floor wieder und die House-Heads konnten auf Studi-Partys endlich mal mit den SoWi-Leuten über ein Album reden. Tja. Nicht gut gealtert allerdings, wenn ihr mich fragt.

Max: Caribou mag ich schon leiden, obwohl ich sagen muss, dass die Alben nach Swim, auf dem „Odessa” ja auch ist, nicht mehr auf dieses Niveau gekommen sind.

Laura: Ich finde es durchaus relevant, hier aus dem Vorgespräch zu zitieren, dass hier ziemlich viele Musiker in einen Topf geworfen wurden. Allein, weil alle diese emotionalen Melodien und Pop in Dancemusic integriert haben.

Alexis: Diese muckermäßige und hochkulturelle Aneignung von House war ein großer Backlash. Nach Techhouse.

Max: Hahaha, erklär’ mir doch bitte noch mal dein Lieblingswort, Alexis. Was bedeutet „muckermäßig”?

Laura: Four Tet, Caribou, Floating Points = muckermäßig? Kenne das eher aus so einem Jazz-Kontext, jetzt bin ich auch gespannt!

Alexis: Der Mucker ist der Musiker, der seine eigene Fähigkeiten als Selbstzweck feiert, der Kunst und Handwerk verwechselt.

Max: Damals wurde ja stets darauf rumgeschrieben, dass Snaith Mathematiker ist und man das seinem Sound anhört. Das war absoluter Käse in meinen Augen, das Album ist ein akustischer Paradiesvogel.

Laura: Dann würde er ja wohl wirklich Jazz machen, wenn das hier der Fall sein sollte. Findet ihr, dass der Track Selbstzweck oder Show-Off ist?

Kristoffer: Muckermäßig ist meiner Meinung nach ein gutes Stichwort: Caribou war vor allem deswegen so erfolgreich, weil sich das Ganze eben als normale Indie-Kiste verkaufen ließ. Da spielt noch wer „echte Instrumente”. Floating Points hat das ja dann später als schlechten Azymuth-Rip-Off auf Eleainia genauso gemacht. Four Tet ist da nochmal etwas anderes, der hat ja in Bands angefangen: Fridge haben ganz netten Post-Rock gemacht, da war der 16 oder so. Paradiesvogel?

Max: Es schillert!

Kristoffer: Okay, na ja, das tut Spüli auch.

Max: Es geht nicht darum, als Snaith-Missionar aufzutreten. Fand halt das Album gut.

Alexis: Unabhängig vom ideologischen Zusammenhang ist es ein gelungenes Song eines Indie-Kids, das Soul mag.

Max: Kühl und berechnet klingt auf Swim in meinen Ohren nichts.

Kristoffer: War es vermutlich auch nicht, im Nachhinein allerdings wirkt das auf mich umso mehr wie der IKEA-Approach zum Best-of-Two-Worlds-Ergebnis: Einfach mal nach Gefühl schrauben, das Ergebnis wird schon vor einer Raufasertapete nicht weiter auffallen. Tut’s auch nicht.

Alexis: Für mich hat das nicht so viel mit elektronischer Tanzmusik zu tun. Dazu ist das ganze Mindset zu bieder und zu kontrolliert.

Max: Wie auch immer – ein passendes Exempel für die Verzahnung von sogenanntem Underground und der Indie-Kultur, deren Anhänger da wohl noch nicht ganz begriffen hatten, dass diese im Niedergang ist.

Alexis: Es ist auch ein Versuch, die Indie-Kultur zu erneuern.

Kristoffer: Ja, sicherlich. Schon ein Wendepunkt nach „Sky & Sand” und vor „Howling” oder Peggy Gou: Lyrics, Pop-Strukturen, Tanzmusik wird da sehr greifbar. Insofern: leider visionär, auf seine Art. Snaith ist einer dieser Teflon-Menschen, denen du nichts vorwerfen kannst, weil er irgendwie süß und unschuldig ist in dem, was er da macht. Aber das heißt eben nicht, dass das Resultat unbedingt überzeugt. Mich zumindest nicht. Lebe sehr gut ohne Snaith-Content in meinem Leben.

Laura: Wow, Ikea-Prinzip? Ich finde, Pop-Musik darf doch wohl auch eine integrierende Funktion zwischen Szenen haben.

Kristoffer: Kann sie, ja, aber da fände ich LCD Soundsystem schon wesentlich spannender. Weil da eben nicht nur einfach losgelegt wurde, sondern die Schnittstellenfunktion auch Thema war. James Murphy lässt sich ja viel vorwerfen, allerdings: Gedanken hat sich der Typ schon immer gemacht. Snaith hat einfach nur gemacht. Passt schon, finde ich dann aber nicht sonderlich geil.

Laura: Also können wir uns aber darauf einigen, dass dieses Album schon ein Wende- bzw. Startpunkt war?

Alexis: Zu seiner Verteidigung kann man sagen, dass er die Rockismen der Indieszene vermeidet und ungewöhnlich Groove-affin ist. Mir gefällt das Album auch.

Laura: Word.

Nina Kraviz – Ghetto Kraviz (Rekids, 2012)

Max: Kenn’ ich!

Laura: Gecko Gecko Gecko – die Lyrics-Frage wurde immer noch nicht abschließend geklärt!

Alexis: Get go.

Kristoffer: Ich weiß immer noch nicht, was sie da singt oder warum. „Summer’s gone, I have to go” … „Hit the bong”? Man weiß es nicht. Es ist aber vielleicht auch egal.

Laura: I have come home.

Max: Letztens auch erst gelesen, dass sie da ja eine Live-Tour gespielt hat mit dem Album. Das stelle ich mir kompliziert vor. Will sagen: Glaube nicht, dass das auf Dauer unterhalten konnte. Ich glaube tatsächlich, dass die Lyrics echt zweitrangig sind, ja. Wirkt auch irgendwie arg zusammengenäht, der Track. Wie auch immer – finde ihn auch bis heute gut.

Alexis: Es war ihr Jahrzehnt. Visionär für die 2010er, weil Nina Kraviz erkannt hat, dass Nischenstile wie Ghettohouse (oder Footwork, Trance, Electro) eine Kraft und ein Potenzial besitzen, das traditioneller House und Techno heute nicht mehr haben.

Kristoffer: Interessanterweise wurde genau der Titel ja letztens erst im Rahmen des Cornrow-Gates wieder unter die Lupe genommen. Dabei ist das „Ghetto” im Titel natürlich vor allem Referenz auf den maßgeblichen Einfluss des Stücks beziehungsweise Kraviz’ Sound in dieser Zeit. Es gibt ja so schöne Geschichten davon, wie alte Chicago-Heroen auf Tour in Sibirien Halt machten und dann war dann plötzlich diese Zahnarzthelferin, die noch jede Katalognummer ihrer Dance Mania-Releases im Schlaf aufsagen konnte. Ein Mythos vielleicht, aber natürlich steckt wahnsinnig viel Chicago in dieser Nummer.

Max: Der frühe Beginn der Breakbeat-Hochkonjunktur, die inzwischen mit voller Wucht eingetroffen ist?

Kristoffer: Breakbeats!? Sorry, nein! Ghetto House, von vorne bis hinten. Fast schon retro, aber gerade durch diese spooky Synths irgendwie sehr anders als der entschlackte Dance Mania-Sound. Passte natürlich super bei Rekids rein, das Ding.

Alexis: Klar, eine relativ blecherne Computer-Produktion, aber blechern klangen viele alte Produktionen auch. Und wie sie mit ihrer Stimme arbeitet und mit dem sonderbar für sich stehenden Pad ist sehr individuell. Diesen Individualismus finde ich bei Kraviz wichtig und auch typisch für das Jahrzehnt: Sie ist nicht als Teil einer Szene groß geworden. Sie ist eine Selbstschöpfung, sie hat sich ihr eigenes Referenzsystem aufgebaut.

Kristoffer: Footwork war ja einer der Hypes des Jahrzehnts und da besteht natürlich schon eine Verwandtschaft, die sich hier vor allem im Umgang mit Vocals offenbart. Das ist schon näher bei Traxman oder sogar RP Boo als bei, sagen wir, Jamie Principle.

Max: Sicher Ghetto House, trotzdem außerhalb des Four-to-the-Floor-Schemas. Footwork ist da ein guter (weil besserer, hehe) Referenzpunkt.

Laura: Fand diese Debatte in Anbetracht dessen, dass wir grade festgestellt haben, dass die Lyrics total egal und wahrscheinlich irgendwie nebenbei improvisiert wurden, auch etwas komisch. Ich glaube kaum, dass da eine politische Botschaft versteckt war.

Alexis: Den Ghetto House-Sound einer kleinen Szene aus Chicago auf der anderen Seite des Erdballs aufzunehmen hat eine politische Dimension – unabhängig davon wie das gemeint war.

Kristoffer: Es ging da um eine Genrereferenz, die natürlich aber Bezug auf die Schwarze Community Chicagos aufmacht.

Alexis: Politisch erinnert es auch an „Where It’s At”, das Derrick Carter-Cover/ Remake von Âme, Dixon & Henrik Schwarz, es ist eine weitere Aneignung afroamerikanischer Musik durch weiße Künstler*innen.

Laura: Losgelöst von ihrer Person steht diese Debatte aber auch stellvertretend für ein Jahrzehnt, in dem etwa die Awareness für solche Themen gewachsen ist. Ich würde behaupten, dass noch nie so viel über identitätspolitische Diskurse gesprochen wurde und marginalisierte Personen in den künstlerischen Fokus gerückt sind wie in den 2010er Jahren. Das kann man ja mal positiv hervorheben.

Kristoffer: Klar, „Ghetto Kraviz” ist als Track in dieser Hinsicht schon aus einer anderen Zeit und würde heute so nicht gemacht werden. Vor allem, weil sich Ghetto House nun auch nicht als Retro-Trend durchsetzen konnte. Aber das hat Kraviz ja groß gemacht: Schon damals war sie auf weiter Flur allein mit dieser Blaupause. Und ist nun ganz anders, setzt die Trends selber. Fast schon wieder ironisch, aber eigentlich ging es für sie musikalisch dann nach Russland zurück, zu hartem Techno und Trance. Heutzutage wäre ein Track wie dieser in einem Kraviz-Set ja schon eher verwunderlich. Oder auf einem Trip-Release.

Frank Wiedemann feat. Ry X – Howling (Innervisions, 2012)

Alexis: Frank Wiedemann emanzipiert sich von seinem Âme-Partner Kristian Raedle mit diesem Crossover zwischen Deep House und Rockballade.

Kristoffer: „Sky & Sand”, Teil II: „Howling” war der Megahit auf selbst den integren Dancefloors und konnte dennoch selbst die Leute abholen, die noch nie einen Club von innen gesehen haben. Die Machart des Tracks ist interessant. Mehr als ein Edit ist das nicht, nur Drums und eine Bassline, hier dieses Sonargeräusch und der Rest folgt der Pop-Formel. Genial. Nie zuvor oder danach so viele Tränen auf den Panorama Bar-Floor fallen gesehen. Wenn nicht gerade Dettmann „Idiotique” von Radiohead aufgelegt hat, heißt das.

Laura: Finde in der Tat Radiohead in diesem Zusammenhang eine gute Referenz.

Kristoffer: Ich muss ja gestehen, dass ich diesen Track immer noch oder besser gesagt wieder ganz gerne mag. Auch der ist visionär: So funktionierte Dance-Pop wie von etwa Lykke Li das Jahrzehnt über. Große Melodien, viel Tamtam, an der Basis aber komplett simpel. Wie „Sky & Sand” eben.

Alexis: Das stimmt, „Sky & Sand” war der Dammbruch zwischen Schlager und Clubkultur.

Laura: Lass das mal nicht Justus Köhncke hören, Alexis!

Alexis: Justus meint eine andere, speziellere Art von Schlager.

Kristoffer: Ha! Köhncke ist natürlich camp, das hier ist todernst.

Laura: Ich glaube, das macht für mich auch den Cringe-Faktor bei diesem Track hier aus. Dieser todernste Gestus.

Alexis: Interessant, dass dir das gefällt, Kristoffer. Mir gibt das nicht so viel. Bei „Sky & Sand” war noch so eine Rave-Melancholie drin. Das Zarte im Harten, wie Paul Kalkbrenner sagte.

Kristoffer: Vor allem steckt in dem Track alles, was Innervisions zu einem dermaßen wichtigen Label machte – mit Vocals obendrauf. Die großen Harmonien, die Spannungsbögen, die Melancholie.

Max: Auch ordentlich schmierig. Der Track ist wohl für so ziemlich alle Künstler*innen verantwortlich, die heute noch mit Hut am Mikrofon stehen und organische und elektronische Klänge mischen. Monolink zum Beispiel.

Kristoffer: „Sky & Sand” dagegen klingt für mich heutzutage komplett aseptisch. Hier ist noch etwas mehr Reibung drin, was die Vocals anbelangt. Das Authentizitätsverlangen von Menschen, die sonst eher Bon Iver hörten, wurde auch gleich mitbedient.

Laura: Für mich steht der Sound auch stellvertretend dafür, wohin sich die Festivallandschaft zu der Zeit entwickelt hat. Glamping. Yoga. Wohlfühl-Oase.

Max: Total! Sacred Ground.

Kristoffer: Ja, hier kommt einiges zusammen. Recondites Karriere wäre vermutlich ohne den Erfolg von „Howling” nicht möglich gewesen. Andere Mittel, selbes Prinzip.

Max: Ebenso, Recondite ist halt weniger Glitzer und kein Vollbart.

Alexis: Total. Besser ist Innervisions nicht auf den Punkt zu bringen. Koze hat die Innervisions-Philosophie mal schön charakterisiert: Dance Music als Einkehr ins Innere, als moralische Läuterung. Nicht als etwas, das kommunikativ ist, das nach Außen geht, das sozial ist, das sich verbinden will.

Kristoffer: Das Sacred Ground ist als Festival ein gutes Stichwort. Der Rückzug ins Provinzielle, der als Eklektizismus betrieben wird. Pop und Dance! Die Nils-Frahm-Lösung.

Laura: Biedermeier-House.

Kristoffer: Ja. Obwohl, und das war vielleicht das Schöne daran und da bringe ich meine subjektive Erfahrung ins Spiel: Da wurde halt zusammen geheult, wenn der aufgelegt wurde. Hast du heutzutage auch eher selten.

Max: Von Lykke Li zu Nils Frahm, eine enorme Bandbreite.

Kristoffer: Und dennoch eigentlich dasselbe Rezept, ja.

Floorplan aka Robert Hood – Never Grow Old (Re-Plant) (M-Plant, 2014)

Max: Der erste schnelle Track der Auswahl. 2014.

Kristoffer: Robert Hood ist von UR natürlich abgesehen der einzige Detroiter der alten Garde, der in diesem Jahrzehnt nicht komplett größenwahnsinnig geworden ist. Jeff Mills widmete sich seinem Orchesterquatsch und, na ja, von Carl Craig brauchen wir hier gar nicht anfangen. Paradise war ein wahnsinnig gutes Album und der Re-Plant von diesem Stück ist ein Hit, Hit, Hit. Soul und Techno, eine uralte Gleichung, die nirgendwo sonst so gut funktioniert hat. Oder besser: Soul als Techno.

Laura: Aber da verläuft die Grenze zwischen Techno und House schon ziemlich schmal, hätte das jetzt nicht als Techno bezeichnet.

Max: Extrem wandelbar auch, fand in Ricardos Sets seinen Platz wie auch in Plattenkoffern deutlich housigerer, melodischerer DJs.

Alexis: Viele Detroit-Artists waren nur vergleichsweise kurz als Producer aktiv oder haben sich, wie du sagst, Kristoffer, auf sonderbare Nebenschauplätze begeben. Robert Hood hat weitergemacht und ein weit verzweigtes Ouevre erschaffen, das durch und durch Clubmusik ist.

Kristoffer: An die Jüngeren: Wie habt ihr den Track erlebt?

Laura: Also mein Robert Hood-Moment war definitiv sein Set in dieser Kirche in Berlin, inklusive Predigt. Diese Energie seiner Tracks hat so etwas unmittelbar Mitreißendes, Spirituelles auf eine Art. Und so hab ich den Track damals auch zum ersten Mal gehört.

Max: Puh, wie habe ich den erlebt. Wahrscheinlich als absoluten Konsens, der aufgrund seiner Geschmackssicherheit und des zeremoniellen Gospel-Charakters immer imstande war, als kleinster gemeinsamer Nenner zu funktionieren. Auch für so ziemlich jeden Floor geeignet, Open Air wie drinnen.

Kristoffer: Ich glaube einfach, dass „Never Grow Old” das Kernversprechen von Techno und House – denn ja, das bewegt sich in der Mitte – in eine Sprache überführen konnte, die sowohl Techno wie House in den letzten zehn Jahren verlernt haben: Dance Music als zeitloses Projekt. Es ist ja kein Zufall, dass ausgerechnet eine Ode an die Infantilität so ein Konsenshit wurde. Das ist natürlich ambivalent in Hinsicht auf die Geschichte von Techno und gesamtgesellschaftlich gesprochen. Aber dieses Freiheitsgefühl, welches uns Techno einst versprach, das sprüht aus jedem Takt.

Max: Klar, obwohl er dieses Gemeinschaftsgefühl ja auch wirklich aus dem Gospel zieht. Ich verbinde damit jetzt allerdings nichts wirklich Konkretes. Ein weiteres Musterbeispiel dafür, dass wir hier eigentlich ausschließlich Sachen behandeln, die logischerweise extrem gut zugänglich sind.

Alexis: Das Gemeinschaftsgefühl zieht der Track ebenso sehr aus dem Gospel wie aus dem Minimalismus, den er mit Klassikern wie Minimal Nation oder Internal Empire geprägt hat. Hoods Sampling-Arbeit wirkt in ihrer Unvermitteltheit immer noch lebendig und überraschend.

Laura: Glaube, mit so einem Sample kann man aber auch einfach nichts falsch machen. Ebenso wie Gladys Knight und Koze. Den wir ja in dieser Liste leider nicht erwähnen nach langem Hin und Her. Auch nebenbei noch mal ein schöner Fingerzeig in Richtung Aretha Franklin, ein großer Verlust des vergangen Jahrzehnts.

Max: Ohne das Franklin-Sample würde das nur halb so gut funktionieren.

Alexis: An dem Track gibt es nichts, was altern könnte.

Max: Literally.

Kristoffer: Klar, das Sample trägt den Track. Sonst wäre das höchstens ein regulärer Hood. Aber auch wie hier mit dem Vinyl-Knistern des Samples als rhythmisches Element gearbeitet wird, ist große Kunst. Sehr detroitig, Omar-S hat das in seinen Hip Hop-Produktionen ähnlich gut drauf.

Alexis: Majestätisch, zugleich extrem flink und beweglich.

Kristoffer: Allerdings müssen wir auch sagen: Das war in diesem Jahrzehnt auch der Peak für Hood. Danach pendelte es sich im besseren Mittelfeld ein. Handschrift ja, überragend große Kunst nein.

Max: Stimmt. Obwohl ich mir auch gut vorstellen kann, dass die Vocals selbsternannte Heads ziemlich abschrecken.

Laura: Inwiefern?

Max: Na ja, die wollen wohl eher den „regulären Hood”, den Kristoffer gerade ansprach.

Alexis: Toll, wie er nur mit einem kurzen Schnipsel des Songs arbeitet, den Call & Response-Teil dann aber komplett laufen lässt.

Kristoffer: Ja! Komm, besser kannst du einen Floor nicht zum Überkochen bringen. Außer mit einem „You Make Me Feel (Mighty Real)”-Acapella vielleicht. Und dann auch nur, wenn du Honey Dijon bist. Es ist dennoch schon eine recht … offensichtliche Wahl. Aber wenn wir daran denken, dass neben Koze auch Midland und Hidden Spheres sowie Rising Sun dieses eine Gladys Knight-Sample verwurstet haben: zumindest nicht ganz so offensichtlich.

Alexis: Er hat auch mit sehr obskurem Gospel Zeug gearbeitet, das ist schon etwas anderes, als wenn sich Koze einem Popklassiker annimmt.

Max: Klar. Was neben der Message auch etwas auf der Strecke bleibt: Extrem dichte Produktion, die keine Verschnaufpause lässt. Da tut sich immer was.

Fatima Yamaha – What’s A Girl To Do (Dekmantel, 2004, Reissue 2015)

Max: Okay, kann zunächst jemand was zur Geschichte erzählen?

Alexis: Ja, bitte!

Max: Nur sehr wenige wissen ja, dass diese Fatima Yamaha ja eigentlich ein Typ aus – ja, woher eigentlich? – ist.

Kristoffer: Niederlande! Mit arabischen und vielleicht auch japanischen Wurzeln, irgendwie so setzte sich das Pseudonym zusammen. 2004 wurde dieser Track erstveröffentlicht, dann … Ich glaube, Ben UFO hat den Track wieder ins kollektive Bewusstsein gespielt. Reissue 2015 auf Dekmantel, die komplette Festivalsaison drehte sich darum und Biceps Dominica-Edit.

Laura: Total, bei mir ist dieser Track auch untrennbar mit „Gotta Let You Go” verbunden, Nachtiville 2015 rauf und runter.

Max: Gibt auch einen geradlinigeren Edit von DJ Haus, wenn ich nicht irre.

Kristoffer: Eine tolle Open Air-Bude. Schon interessant aber, dass ein elf Jahre altes Stück fast noch besser mit so viel Abstand funktionieren konnte.

Max: Eine Synth-Line zur Unsterblichkeit.

Alexis: Für mich ist das die Dekmantel-Nummer par excellence. Ein entkoppelter Disco-Vibe in losen, analogen Lo-Fi-Klängen umgesetzt.

Kristoffer: Electro! Aber die nette Variante, fast schon eher Synth Pop, New Romantics eigentlich.

Laura: Legte auf eine Art mit dem Lost in Translation-Sample auch schon den Grundstein für diese Lo-Fi-Schiene, oder?

Kristoffer: Interessanter Gedanke. Die Zutaten sind zumindest schon irgendwie da.

Max: Stimmt, von Scarlett Johansson zu Winona Ryder ist es nur ein kleiner Sprung.

Kristoffer: Ein Track, zu dem sich recht wenig sagen ließe, hätte er nicht diese Geschichte: Da ist sofort klar, warum das geil und zeitlos ist. Bescheidenheits-House, auch sehr poppig eigentlich, nur ohne das … Trommelwirbel … Muckertum.

Max: Stell’s mir als Künstler in dem Fall aber auch schwierig vor. Fatima Yamahas komplettes Live-Set ist ja auf diesen Closer hin konzipiert.

Alexis: Ja ohne das Pathos. Es hat eine Modernität und Klarheit, die heute selten zu finden ist.

Kristoffer: Ja, so geil abzuliefern rächt sich immer.

Laura: Hier liegen totale Leichtigkeit und tiefe Melancholie auch ganz nah beieinander – Popformel.

DJ Boring – Winona (E-Beamz, 2016)

Max: Der Sprung ist tatsächlich nur ein kleiner. Hier kommt Winona auch schon zu Wort. Gute Reihenfolge!

Kristoffer: Interessant, dass von dem direkt vorangehendem Phänomen – Outsider House – eigentlich kein wirklicher Track über bleibt. Aber der hier? DJ Sidebar hat den uns allen auf YouTube serviert und irgendwann blieb’s hängen.

Laura: Der Track, der den YouTube-Algorithmus gesprengt hat. Eine Zeit lang war das wirklich immer der nächste Track, egal was man sich angehört hat.

Max: Inzwischen übrigens bei 5,6 Millionen Klicks.


Kristoffer: Das scheint mir alles ewig lange her und ich find’s schade, dass wir die Expertin dafür – Cristina Plett – gerade nicht am Tisch haben. Die hat das gesamte Phänomen mal schön in der Groove aufgedröselt.

Laura: Warum eigentlich Meme-House? Ich hätte das jetzt als Lo-Fi-House bezeichnet. Was ja dann auch ziemlich schnell zum Unwort wurde.

Max: Die Grenze ist da nicht wirklich existent, oder? Finde Lo-Fi-House aber auch passender.

Laura: Aber woher der Meme-Bezug? Das erschließt sich mir nicht.

Alexis: Weil er sich so an das popkulturelle Artefakt Winona Ryder hängt wie ein Meme. Wie Ross From Friends als Alias.

Kristoffer: Ja, das war eher kontextuell. Ross From Friends, Winona, Bezüge auf Friends und Doge-Memes auf White Labels – da gab es eine Ballung von nicht ganz so ernst gemeinten House-Tracks, die alle ähnlich funktionierten. Mall Grab mit seinen Alicia Keys-Tracks wäre ein anderes Beispiel. Diese tongue-in-cheek-Geste wurde schnell als Memefizierung von House interpretiert.

Max: Das Prädikat Lo-Fi schlägt sich bei der ganzen Strömung aber vor allem in den Hi-Hats und Cymbals nieder. Und natürlich der Umfunktionierung von Vocals – weg vom melodischen Element hin zum erzählerischen.

Kristoffer: Alles mittlerweile komplett gestorben, scheint mir, oder zumindest sind die Produzenten – nur Jungs, soweit ich mich erinnere – mittlerweile in den, naja, E-Bereich von Dance Music übergewechselt. Ross From Friends wäre das populärste Beispiel.

Max: DJ Seinfeld, DJ Boring, es gibt sie schon noch.

Kristoffer: Und was macht DJ Boring mittlerweile? Nicht mehr dieselbe Musik.

Max: Machen nur alle was anderes. Genau.

Alexis: Zum ersten Mal benutzt die Clubmusik die Mainstream-Popkultur als kulturellen Bezugsrahmen. Nicht mehr nur in Form von Samples, die vorkommen, weil sie musikalisch passen.

Max: Wirklich? Steile These.

Kristoffer: Wir hatten ja noch Andrès’ „New For U” in der engeren Auswahl für diese Liste, der Liebling der Discogs-Algorithmen. Da liegen schon Welten dazwischen. „Winona” funktioniert noch, aber ist das noch im Club zu hören? Ich denke nicht.

Max: War „Winona” je Thema im Club? Das ganze Lo-Fi-Zeug ist ja Stoner Sound oder insgesamt eher für die eigenen vier Wände gedacht, oder?

Laura: Dieses Genre ist dann einfach echt sehr schnell tatsächlich selbst zum Meme geworden. Kann ich mir auch gar nicht mehr im Club vorstellen. Na ja, so Afterhour-Sound, morgens auf einem Festival oder so.

Kristoffer: Es orientiert sich dezidiert am Neunziger-Mainstream. Das war die große Falle, in welche die Zehnerjahre allgemein gerannt sind, vor allem natürlich im Dance-Rahmen. „Ghetto Kraviz” deutete das ebenfalls schon an. Der Rest? Hust, Conceptronica. Ansonsten unveränderte Neuauflagen: Electro, Acid, Hardcore, Gabber. Lo-Fi oder Meme House war dagegen allerdings eine Eintagsfliege.

Alexis: Der Lo-Fi-Ansatz war auch eine Antithese zu den überproduzierten Deep House-Entwürfen der Zeit, etwa von Tale of Us oder Maceo Plex.

Max: Ja, und der ist mir da immer noch lieber. Auch 2019.

Kristoffer: Fair, gehe ich mit.

Alexis: Interessant finde ich noch die Parallelen zum 2000er Minimal von Labels wie Workshop.

Max: Okay, die kann ich nicht nachvollziehen, weil schlicht zu wenig informiert.

Alexis: Meme House ist auch das misslungene 2000er Revival, von dem manche Leute bis heute träumen, das aber nicht stattfinden will.

Traumprinz – 2 The Sky (Metatron’s What If There’s No End And No Beginning Mix) (Giegling, 2016)

Kristoffer: Aber auch beim nächsten Gast sind die Neunziger natürlich die Referenz. Fun fact: Irgendwann habe ich mal scherzhaft über die Groove-Facebook-Seite einen alten Moby-Track gepostet mit den Worten, dass sein neues Zeug als Traumprinz ja auch nicht übel sei und … na ja, die Leute haben’s gefressen. Das war schon bezeichnend, nicht nur in Hinsicht auf meine Fähigkeiten als Community-Manager.

Laura: Episch. Und schlägt irgendwie emotional schon wieder in dieselbe Kerbe. Was war da los in den 2010ern?

Max: Siedle ich automatisch in der Nähe dieses sehr berühmten Sotofett-Tracks aus derselben Zeit an, wenngleich der etwas verzerrter war.

Alexis: Traumprinz ist ein Gegenentwurf zu DJ Seinfeld: Dem eher beliebigen Bezug zu 2000er Minimal House setzt er einen sehr spezifischen 1990er Bezug entgegen.

Kristoffer: Traumprinz ist der Burial der Zehnerjahre. So ein Sound, auf den sich alle einigen können, weil er sich aus der Vergangenheit zehrt und nebenbei noch schwer metaphorisch überladen ist. Sehr viele christliche Motive, Rave-als-Erlösungs-Shit, die ganze Fuhre. Ist natürlich toll und hat ansonsten nur Rising Sun besser gemacht in diesem Jahrzehnt.

Alexis: Treffende Charakterisierung.

Max: Stimmt, da gibt’s viele Kruzifixe in der Motivik, wenn ich nicht irre.

Kristoffer: Ja, vielleicht ist Traumprinz auch der Kanye West oder Kendrick Lamar der Rave-Szene. Das ist alles ultrachristlich. Was schon wieder ganz gut an klassischen House andockt mit seiner ständigen Bezugnahme auf Erlösung. Siehe eben auch Floorplan, das Kindliche ist ein zentrales Thema von Traumprinz unter seinen vielen Pseudonymen. Warum hören wir eigentlich den hier und nicht “All The Things”? Vielleicht einfach, weil dieser Backbeat mit seinem Klimperpiano mehr bietet.

Alexis: Meine Wahl wäre „Oh Ah” gewesen.

Laura: Hatte irgendwie was Puristisches, faceless-Techno reloaded, die ganze Vinyl-only-Nummer, die handgestempelten Artworks, der Kollektivgedanke, da haben Giegling schon den Nerv der Zeit getroffen.

Kristoffer: Ja, sicherlich. Da wurde ein Gefühl von Authentizität geboten, das angesichts zunehmender Professionalisierung nicht mehr so ohne Weiteres gegeben war.

Max: Auch bezeichnend: die Tracks, die wir hier haben, würden auf einem Dancefloor höchstens nach Sonnenaufgang laufen und beschwören Einigkeit, Einkehr. Von rohem Rave oder dergleichen bleibt wenig hängen. Das ist ja alles im Zeichen der Katharsis.

Laura: Das Original dazu war doch diese ravige Nummer, oder, Alexis?

Alexis: Das war „Oh Ah”. Das Sample von dieser Nummer ist von Mary J. Blige.

Laura: Aber auch eine gewisse Weltflucht, ein Augenverschließen vor der kapitalistischen Realität. Aber Techno darf ja auch mal Eskapismus sein.

Kristoffer: Soul-Sample im Zentrum des Ganzen, smart gearbeitet, das macht sonst niemand so gut wie er. Dieser Schluckaufrhythmus kommt mit dieser extrem monotonen Repetitivität zusammen natürlich sehr gut. Das ist Rave in seiner nacktesten Form. Mehr noch: Hier wird ein Heilsversprechen abgegeben. 2 The Sky, wir transzendieren gemeinsam auf dem Floor! Toll! Dass es nicht in der Realität verwurzelt ist, darin liegt ja der Gewinn des Stücks.

Max: Wenn zum Rave keine Geschwindigkeit gehört, dann ja.

Kristoffer: Rave im Sinne von, du hast das Stichwort selbst gegeben, kollektive Katharsis. Eskapismus nannte das Laura. Das stimmt beides.

Max: Akzeptiert!

Alexis: Total. Er macht etwas sehr Eigenes damit, das mit seiner bittersüßen Emotionalität auch durch und durch zeitgemäß ist.

Peggy Gou – It Makes You Forget (Itgehane) (Ninja Tune, 2018)

Alexis: Mit diesem Track hat Peggy Gou etwas geschafft, das 2018 niemandem gelungen ist: einen modernen Housetrack zu produzieren, der nicht nostalgisch oder beliebig klingt.

Max: Ist das also etwas Neues, wie man so schön sagt?

Kristoffer: Witzig, dass du das sagst: Mir gegenüber meinte ein Produzent mal, dass Peggy Gous Tracks klängen wie Smallville-12″s vor zehn Jahren. Vielleicht aber nicht unbedingt der, hier steckt ja … eine Menge drin.

Max: Muss auch sagen, dass ich den cool fand. Ein Meilenstein des Ninja Tune-Siegeszugs letztes Jahr.

Alexis: Ja, z.B. 2000er-Dachterrassen-House.

Max: Und auch eine Prise… Salsa? Haha.

Kristoffer: Persönlich höre ich da viele Achtziger-Referenzen in der Melodieführung raus, sowohl Chicago wie auch Synth-Pop und andere Geschichten. Westafrika, Highlife? Irgendwie. Aber klar, poppiger und zeitgemäßer ging’s wohl dennoch kaum. Und die Acid-Lines erden das Ganze wieder bei der Kernzielgruppe.

Alexis: Es sind viele Ethno-Einflüsse drin, die aber nie explizit ausformuliert werden wie bei zahllosen Tracks, die mit Samples arbeiten.

Laura: Sie hat sowieso in vielerlei Hinsicht etwas Neues eingebracht: eine neue Art des Fantums (man denke an all den Merch, den ihre treuen Fans für sie machen!), eine neue Nutzung von Social Media und Marketing, aber auch einen gewissen Lifestyle-Aspekt – und das meine ich gar nicht unbedingt negativ!

Kristoffer: Gou hat natürlich die interessanteste Karriere von allen hingelegt. Ihre ersten EPs auf Rekids und Phonica waren ja alle an der Schnittstelle von Chicago und Detroit angesiedelt, sehr auskennerisch, sehr DJ-friendly. Das hier aber war natürlich ein Pop-Hit, der ans Trashige borderte, im Grunde dann aber wieder perfekt in die Zeit passte. Schon sehr spannend. Der Song geht mir allerdings nach drei Minuten total auf die Nerven, das ist der Heavy-Rotation-im-öffentlich-rechtlichen-Radio-während-des-Frankreich-Urlaubs-1998-Sound, den ich echt über habe.

Max: Das Organische ist auch ein wichtiger Eckpfeiler. Womit sie natürlich auch nicht nur die Kernzielgruppe abholt, sondern links und rechts noch Leute mitnimmt.

Alexis: Vielleicht ist das Geniale an Peggy Gou, dass bei ihr Luxus und Konsumismus nicht billig wirken wie sonst sehr oft.

Laura: Ich würde das nicht als „Ethno” bezeichnen, sie bringt ja wirklich auch ihr Cultural Heritage in die Musik ein.

Max: Korrekt!

Alexis: Mit den Salsa-Einflüssen?

Max: Obwohl ich jetzt nicht weiß, was, bis auf die Vocals, südkoreanisch daran sein soll. Vocals, die ich nicht verstehe, habe ich auch ansonsten zuhauf. Fun Fact: Nach „Odessa” der zweite Track, der im FIFA-Soundtrack war. Wohl nicht umsonst.

Kristoffer: Ha! Da hätte ich Yaeji lieber gehört, wenn wir schon bei Koreanischsprachigem sind. Aber das zieht als Vergleich auch nicht, Gou hat schon einen sehr spezifischen Sound, anders als Yaeji. Weil eben nicht nur Deep House-Rap à la Galcher Lustwerk das Vorbild ist, sondern so ziemlich alles, was sich in dreieinhalb Minuten nur so verwursten lässt.

Laura: Ich bin wirklich gespannt, wie sich ihre Karriere weiterentwickelt, wie lange das wohl trägt?

Kristoffer: Gute Frage. Ich denke noch eine Weile, allerdings vielleicht nicht als Produzentin und eher als DJ und Werbegesicht. Oder war die Nachfolgesingle ähnlich erfolgreich? Nicht, oder?

Laura: Meinte das auch bezogen auf ihre anderen Tracks, dieser ist dafür vielleicht ein schlechtes Beispiel. Aber „Hungboo” z.B.

Alexis: Sie ist eine Meisterin der Integration. Wie sie hier in den Popsong noch die Acid-Line reinwebt, ist sie auf ihrem Insta zugleich Model, Musikerin, DJ, Influencerin, Designerin, Lifestyler – und Autoverkäuferin.

Max: Ich verstehe nur nicht, wieso das bei ihr Qualitätsmerkmal und bei anderen Sellout ist. Sprich: Wie schafft sie es, stets noch als integer rüberzukommen oder zumindest bezeichnet zu werden, wohingegen eine Amelie Lens schon in ganz andere Sphären gedrängt wurde?

Alexis: Ich finde, sie hat eine völlig neue Art erschaffen Musik mit Außermusikalischem zu verbinden. Dixon oder Nina Kraviz wirken dagegen in der Beziehung eher plump.

Kristoffer: Integration ist ein gutes Stichwort. Peggy Gou ist die erste Künstlerin, bei der der Sound integer und das Sellout selbstverständlich ist. Das macht sie auf eine Art wegweisend.

Max: Und der Unterschied liegt nur im Sound?

Kristoffer: Es gibt keinen großen, würde ich behaupten. Wenn das hier eine Single aus den Achtzigern wäre, irgendwas aus der Karibik, Palms Trax würde es rauf und runter spielen und alle fänden’s geil.

Max: Hahaha, das Palms Trax-Beispiel ist extrem einleuchtend. Leider.

Alexis: Bei Peggy Gou ist originell, dass sie dialektisch arbeitet: genauso wie sie in ihren Sets kitischige und derbe Momente in Beziehung setzt, bilden Mode und Marken dann auch eine Gegenthese zur Musik. Amelie Lens oder Charlotte de Witte beißen sich an ihrem Techno-Kern fest und wirken dann zum Teil steif – obwohl sie viel weniger (oder gar nicht?) mit Marken wie Porsche oder Louis Vuitton kollaborieren.

Laura: Noch so eine Jahrzehnt-Beobachtung: Die Über-Frauen im Pop, die alles gleichzeitig handlen und voranschreiten. Wo wir vor unserem Gespräch noch über Beyoncé sprachen – aber da gab es echt einige. Und da zähle ich Peggy Gou definitiv dazu.

Kristoffer: Ja, sie ist die Beyoncé der Dance-Welt, nur eben ohne sozialpolitische Agenda.

Laura: Das stimmt, Kristoffer, dazu hat sie sich bislang nicht hinreißen lassen! Aber das macht man ja in unserer Szene irgendwie eh nicht so oft. Während sich Rap und Pop gerade enorm politisieren, ist es bei uns dann doch oft eher leise.

Kristoffer: Naja, die Zehnerjahre waren im Dance-Bereich extrem politisch! Nur eben nicht im oberen Prozent, zu dem auch Peggy Gou, quasi von Null auf Hundert, mittlerweile gehört. Da wird lieber geschwiegen.

Max: Thema für eine Masterarbeit. Aber kurz zur Musik: Was sagt das über 2018 aus? Beliebigkeit?

Kristoffer: Hm, gute Frage! Ich denke, dass damit endgültig der Bogen zum Mainstream gespannt wurde. Gou ist mittlerweile das Gesicht von zigtausend Werbekampagnen, nicht unähnlich zu dem, was Instagram-Influencer*innen so tun. Die Musik scheint da eher Vehikel oder sogar Beiwerk zu sein, eine Visitenkarte mehr als ein USP. Können wir jetzt schlimm finden, müssen wir aber gar nicht. Letztlich spiegelt sich darin nur wider, wo Dance Music in diesem Jahrzehnt hinging: ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Schacke – Kisloty People (КЛУБ, 2019)

Alexis: Schacke steht hier stellvertretend für die junge, ruppige Techno-Generation, die die Musik genreübergreifend denkt und Schranz, Acid, Trance und Breakbeat zu einem düsteren, explosiven Sound verarbeitet.

Laura: Einer der wenigen Konsenstracks des Jahres auf jeden Fall. Irgendwie muss ich da auch immer ein bisschen an t.A.T.u. denken.

Alexis: Hehe, ja. Und an „Born Slippy”.

Max: Obwohl der in seinem Œuvre schon nochmal deutlich raussticht.

Kristoffer: Resident Advisor hat diesen Track zum Track des Jahres 2019 erhoben und ich würde schon sagen: verdient. Verdient nicht für das Stück, sondern eine Dance-Community, die sich mittlerweile nur noch auf die Neunziger zu beziehen scheint. Das ist Eurodance mit den Mitteln von Schranz und Acid, korrekt.

Laura: Aber trotzdem klingt es total frisch, das würde man im Club ja trotzdem nicht für einen alten Track aus den Neunzigern halten, oder?

Kristoffer: Nein, weil es zwei Dinge zusammenbringt, die zuvor nur getrennt existierten: „seriöser” Acid Techno aus den Neunzigern und Eurodance aus, na ja, den Neunzigern. Aber es funktioniert in einem Rahmen, der vom Trance-Revival vorgeprägt wurde. Komplette Euphorie, total auf Droge, megahirnlos und genauso gemeint. Funktioniert in diesem Kontext. Ich will gar nicht so tun, als würde er mir nicht gefallen, das tut er. Aber er ist als Track schon sehr entlarvend.

Max: Absolut. Wobei der Rest von Schacke sich zumindest nicht so offensichtlich auf Vocals verlässt. Auch die nächste EP wird ja wieder deutlich Groove-getriebener sein.

Kristoffer: Andererseits halte ich das Stück für eine schöne Reaktion auf die Bierernstigkeit, die Techno in den Zehnerjahren regierte. Selbst Blawans „Why They Hide Their Bodies Under My Garage”, eigentlich ein humoresker Track, der hier ebenso seinen Platz hätte finden können, wurde ja sehr ernsthaft rezipiert. Das hier allerdings ist bunt und druff und vollkommener Overdrive.

Alexis: Mit Trance und Eurodance rehabilitieren die Kids Sounds, die damals nicht ernstgenommen wurden, weil sie zu poppig, zu kommerziell, zu billig, zu prollig waren.

Laura: Stichwort Gabber!

Max: Irgendwie das leuchtendste Resultat aus dem Bermudadreieck zwischen Skandinavien, Osteuropa und Säule.

Kristoffer: Aus einer kulturkritischen Perspektive stehe ich dem Ganzen pessimistisch gegenüber: Hier wird der Untergang einer Utopie laut. Techno nicht mehr als sozial progressive Kraft, sondern als reiner, inhaltsleerer Exzess. Andererseits: Na ja, so waren eben die Zehnerjahre. Passt schon! Insofern ist „Kisloty People” vielleicht schlicht die Rache von Techno an sich selbst.

Alexis: Wobei Schacke einen sehr spezifischen, überraschend minimalistischen und nüchternen Sound hat, der bei „Make Them Remember” noch deutlicher rauskam.

Max: Ja! Das ist für mich halt die maximale Leistung des Sounds, den VTSS, SPFDJ, Courtesy und Konsorten in den letzten Jahren groß gemacht haben.

Kristoffer: Wir müssen das vielleicht noch direkt in Kopenhagen einfrieden, das sich ja in den letzten fünf Jahren als eine Dance-Hauptstadt Europas etablieren konnte. Da steht so eine Form von Musik natürlich im krassen Gegensatz zum Hygge-Lifestyle, den du in jedem Kiosk in die Fresse gedrückt bekommst. Underworld sind eventuell ein guter Vergleich, weil Dänemark natürlich ebenso wenig Hedonismus zulässt wie Großbritannien zu den Zeiten, obwohl es natürlich jenseits des offiziellen Bilds drunter und drüber geht.

Laura: Generell finde ich dieses Reclaiming von Ästhetiken, die früher trashig oder prollig waren, auch sehr typisch für das vergangene Jahrzehnt. Dass Gabber plötzlich in den Diskurs Einzug gehalten hat (siehe CTM Festival, Boiler Room, History-Piece über Thunderdome auf RA) zum Beispiel. Und in der Mode gleich mit.

Max: Das ist doch eine treffende Zusammenfassung.

Alexis: Das stimmt, das große, langfristige Potential sehe ich da aber nicht. Aber negativ finde ich es nicht. Bedingungsloser, dumpfer Exzess gehört zu Techno dazu. In den Neunzigern war es falsch, anrüchige Techno-Pop-Hybride aus dem Kanon auszuschließen, es ist fair, sie jetzt zu rehabilitieren.

Kristoffer: „Somewhere Over The Rainbow” für eine Generation, die nach der Finanzkrise ihr Abi gemacht hat.

Laura: Conceptronica versus Stumpfheit?

Alexis: Das Fazit: Die 2010er waren eine Zeit, die von der Rückbesinnung auf die 1990er zehrte. Die 2000er wollten zumindest mit den minimalen Ansätzen den Futurismus von Techno weiterverfolgen. Für die 2010er liegt die Zukunft in der Vergangenheit.

Kristoffer: Ich denke im Rückblick, dass uns die Hits abhanden kommen, zumindest die mit Halbwertszeit. Es wird nischig oder allzuzeitgenössisch, ein Track wie „Never Grow Old” scheint Ende der Zehnerjahre nicht mehr denkbar und nach „Winona” oder „Kisloty People” wird bald kein Hahn mehr krähen. Das ist okay, es muss nicht immer alles mehr als ein Quartal lang begeistern. Aber die Frage wirft sich schon auf: Wohin geht es in den nächsten zehn Jahren?

Max: Na ja, spannend wird sein, wie lange sich dieser brachiale Sound, der stets mit dem Prädikat ruppig umrissen wird, noch halten kann. Prognose: Das Loopige und Introvertiertere kann von dieser Dominanz auf Dauer nur profitieren.

Laura: Die größtmögliche Ausdifferenzierung im Mikronischen wird sicher weitergehen. An den Tracks des Jahres haben wir ja schon gesehen, dass die großen Konsensplatten eigentlich nicht mehr existieren. Zukunft ist in diesen Zeiten auch einfach generell ein schwieriges Thema.

Kristoffer: Ich denke ja, dass die gesamte Dance Music-Blase platzen wird. Soviel Mainstream-Tändelei geht auf Dauer nicht gut, es wird wieder irgendwie zurück ins Kellerloch gehen. Und der Sound wird das reflektieren, obwohl sicherlich nicht nur in seiner westlichen Prägung. Von Dancehall über Cumbia hin zu Gqom: Idealer Weise wird Dance Music im kommenden Jahrzehnt auch stiloffener in kultureller Hinsicht. Ob wir dann noch Hits haben werden? Vielleicht nicht. Aber hoffentlich noch mehr Anknüpfungspunkte jenseits des Tellerrands.

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