Als ich aus den stickigen Tunneln der barcelonesischen Metro auf die imposante Plaça Espanya steige, beginnt für mich das Sónar Festival. Hinter mir der Platz mit seinen zwei hohen Türmen, vor mir eine riesige Straße, das schlossartige Palau Nacional-Museum an ihrem Ende thronend. In der Luft ein tiefes Wummern. Eine kindliche Aufregung macht sich in meinem Bauch breit. Seit 25 Jahren ist das Sónar eine feste Größe im Kulturkalender meiner Geburtsstadt Barcelona, nun bin ich endlich zum ersten Mal da. In den nächsten Tagen werde ich jedoch nicht nur das offizielle Sónar-Festival besuchen, sondern mit Labelpartys indoor und outdoor versuchen, einen Querschnitt dieser mit Off-Sónar-Events vollgepumpten Woche mitzunehmen.
Tag 1: Sónar de Día, Numbers, Odd Fantastic x Futura
Erst einmal suche ich den richtigen Eingang auf diesem riesigen Messegelände, auf dem das Festival stattfindet. Nachdem ich meine Akkreditierung abgeholt habe, spuckt mich ein breiter Gang auf dem mit Kunstrasen ausgelegten Outdoor-Bereich des Sónar de Día aus. Vom Rande der Fläche springen sofort riesige Stände von Sponsoren ins Auge: Eine Unterwäschenmarke hat eine instagramtaugliche LED-Wand mitgebracht, eine Kondommarke wirbt für safer sex und für einen Wodkahersteller blickt riesig das Gesicht einer non-binary-Person vom Plakat. Sehr viel Werbung auf sehr kleinem Raum – der erste Eindruck ist ambivalent.
Auf der SónarXS-Bühne beginnt gleich Afrodeutsche mit ihrem Liveset, also wage ich mich ins Dunkel der Messehallen hinein. Ich erwische die letzten Minuten von Catnapps aggressiver, energetischer Live-Show, die den prall gefüllten Raum um 18.30 Uhr bereits zum Kochen bringt. Man vergisst glatt, dass draußen die Sonne scheint, so fett wummern die brachialen Synthesizer ihrer Tracks. Die Argentinierin kommuniziert auf Spanisch mit dem Publikum, das tatsächlich überwiegend aus Locals zu bestehen scheint. Obwohl das Sónar bekannt ist für sein großes Stammpublikum, hatte ich mehr Partytouristen erwartet.
Die Einbettung in die Umgebung war mir bereits im Vorhinein positiv aufgefallen – auch wenn es bis 2012 im Herzen der Stadt lag, ist es noch recht zentral. Auf dem Line-Up stehen viele spanischsprachige und katalanische Künstler*innen, wie der puertoricanische Megastar des Reggaeton Bad Bunny oder die katalanische Trapperin Bad Gyal. Das Festival ist solch eine Institution, dass sogar meine über 80-jährige Oma aus Barcelona davon wusste („Na klar, das ist doch in den Nachrichten!”).
Bei Afrodeutsche fiel der „Hispano”-Faktor weg, dementsprechend loser gefüllt war die Tanzfläche, nicht weniger begeistert jedoch das Publikum. Zu ihrem moody Start schließen Leute die Augen, schwenken sich langsam hin und her. Auch später wird es trotz bouncendem Electro-Gerüst eher hypnotisch als tanzbar. Als ich wieder auf den zentralen Platz hinaustrete, treffen mich Sonne und Wärme (dank Klimaanlage im Inneren) wie einen Vampir. Inzwischen hat Leon Vynehall die Mainstage übernommen. Der Sound ist ravig und köchelnd, vor der Bühne ist die Tanzfläche voll. Dafür, dass die restliche Fläche jedoch eher als Chill-Area in der Abendsonne dient, ist er vielleicht zu fordernd. Im benachbarten Sónar-Dome herrscht Kontrastprogramm: Hier erwische ich noch die letzten, ätherischen Momente von Sevdaliza.
Bevor es zum späten Abendessen wieder in die Stadt geht, muss ich noch was von Arca sehen. Ich staune nicht schlecht, als ich die riesige Schlange vor dem Raum erblicke. Alle wollen die Venezolanerin hören, was definitiv für das Publikum des Festivals spricht. Als sie verspätet und langsam auf die Bühne schreitet, jubelt die Menge, als sei Arca nicht etwa eine nischige Avantgarde-Künstlerin, sondern ein Popstar. Die Imposanz ihrer Inszenierung legt nahe, dass nichts weniger als das beabsichtigt ist. Zwei Personen nehmen ihr den Schleier ab. Sie animiert das Publikum mitzusingen. „Piel“, eine Ballade im weiteren Sinne, verursacht Gänsehaut. Ein Highlight in den wenigen Stunden, die das Festival erst andauert.
Dann ruft auch schon der nächste Termin, denn Sónar scheint immer auch das zu sein: Zu viel. Zu viel Musik, zu viele Locations und zu viel Ablenkung, die von der Stadt an sich mit Strand, Kultur und Gastronomie ausgeht. Nachts bestätigt sich dieses Überangebot: Spontan entscheide ich mich dagegen, zum Sónar de Noche in den Vorort L’Hospitalet zu fahren, sondern stattdessen zur Party von Jackmasters Label Numbers im zentral gelegenen Nitsa Club zu gehen. JASSS, LSDXOXO, Giant Swan, Josey Rebelle und mehr sind angekündigt. Im gleichen Club, nur auf einem anderen Floor, findet gleichzeitig eine Party mit Violet, Or:la und Vladimir Ivkovic b2b Carlos Souffront statt. Violet spielt ein energetisches Set mit Retro-Rave und bangendem Electro, LSDXOXO einen eklektischen Mix in hohem Tempo, der an einer Stelle von Ballroom-Vocals angetrieben wird. Auch JASSS brettert, mehr als erwartet, und spielt schnellen Techno und Breaks. Leider scheint jedoch der entscheidende Funke nicht überzuspringen, die Crowd wirkt merkwürdig entkoppelt von der tollen Musik. Woran das liegt, vermag auch in der Diskussion auf dem Weg nach Hause nicht festgemacht zu werden. Vielleicht hat die Klimaanlage eine Rolle gespielt.
Tag 2: République of Kittin
Am nächsten Mittag machen sich die überteuerten Biere vom Vorabend bemerkbar, glücklicherweise verschafft ein Sprung ins Meer Abhilfe. Am Strand scheint nichts ferner zu liegen als elektronische Musik in einem dunklen Messegelände, ich bleibe lieber an Barcelonas lebendigem Stadtstrand. Am Abend geht es jedoch zu einem sommerlichen Club, wo Miss Kittin, Lena Willikens und Matrixxman spielen werden: „La Terrrazza” hält, was der Name verspricht und ist ein Open Air-Club zwischen scheinbar alten Gemäuern. Scheinbar: Der Club liegt auf dem Gelände des Poble Espanyol, ein Nachbau eines kondensierten „typisch spanischen“ Dorfes inklusive Hauptplatz, Kloster und kleiner Gassen auf 50.000 Quadratmetern. Mehrere Clubs sind darin verteilt, die ganze Woche lang finden zudem Off-Sónar-Events dort statt.
Als ich eintreffe, spielt Lena Willikens gerade das Warmup. Die sich wiegende Musik passt zu der Umgebung, die von jemandem als „Ibiza in den 80ern” beschrieben wird. Gegen Ende fährt sie ein wenig hoch, streut einen Breakbeat-Track ein und übergibt um zwei Uhr die Decks an Miss Kittin, die Gastgeberin des Abends. Sie schaltet prompt zwei Gänge hoch und ist schnell bei pumpendem Party-Techno, der das Publikum auf ihre Seite zieht. Als sie das geschafft hat, nutzt sie das, um wieder etwas herunterzufahren.
Beim Gang an die Bar bekommt mein Berlin-geschultes Preisempfinden einen kleinen Schock: Ein Bier kostet sieben Euro und auch ein Wasser kann mit fünf Euro eine kleine Kerbe ins Portemonnaie schlagen. Ich entscheide mich für Leitungswasser.
Miss Kittin heizt die Stimmung weiter auf und so kann Matrixxman überraschenderweise ohne großen Bruch übernehmen. Erst nach einer Weile wird der Techno knüppelnder, in der ersten Reihe stellen sich junge Raver*innen auf ein Podest. An einer Stelle wechselt er – zack – von Techno in einen Discotrack. Eine vereinte Crowd scheint es nicht zu geben, das offenbart ein Blick vom Balkon. Vielleicht liegt es am durchmischten Publikum, Hemdträger und VIP-Bereich-Gänger neben bunt zurechtgemachten Raverinnen, alt und jung, wieder überwiegend Spanisch sprechend. Letzteres liege daran, dass Locals bei Resident Advisor gucken würden, welche Veranstaltung am wenigsten Zusagen hat, wie ein Mann meinen Freunden erklärt. Plausibel, so voll wie es nun doch ist. Dennoch ein für Sónar-Verhältnisse angenehm intimer Abend – vor allem in Anbetracht dessen, was mich am nächsten Tag erwartet.
Tag 3: Innervisions Barcelona
Am Samstag steht die Innervisions-Party an, inzwischen eine feste Größe unter den Off-Sónar-Partys. Innervisions nimmt im Poble Espanyol gleich drei riesige Open Air-Floors in Anspruch. Als Mainstage fungiert die Plaza Mayor, das Herzstück eines jeden Dorfes. Am Nachmittag grillt die Sonne und der reflektierende Steinplatz die wenigen bereits anwesenden Tänzer*innen. Auf der „Carpa / Picnic”-Bühne, die an einem Hügel am Rande des Geländes aufgebaut ist, ist es nicht viel besser. Tarnnetze vermögen auf der Tanzfläche nur dürftig Schatten zu spenden. Eher wenige Menschen brutzeln daher gegen 17.30 Uhr in der Sonne – dafür scheint Or:las breakiges, schnell gemixtes Set ein wenig zu sehr nach vorne zu preschen. Auch Courtesy ändert für das Setting wenig an ihrem hohes-Tempo-viel-Energie-Stil, mit ihrer positiven Ausstrahlung reißt sie jedoch die zunehmend volle Tanzfläche mit.
Der intimste Floor ist der, auf dem die Innervisions Barcelona-Partys begannen: das Monasterio. Vor der malerischen Kulisse eines Kirchturms im romanischen Stil und unter Pinienbäumen kommt Urlaubsfeeling auf. Trikk übernimmt mit angenehm langsamem Balearic-House das Warmup der wegen ihres Fluges verspäteten Terr. Später am Abend versprüht Gerd Janson nur gute Laune: Er streut den ein oder anderen Hit ein („Gypsy Woman” im Rave Yard Mix, „Starry Night” von Peggy Gou) und die Crowd liebt ihn dafür.
Generell scheint das Publikum viel Lust auf Party zu haben. Wie in La Terrrazza auch sind die Altersgruppen ziemlich durchmischt, farbenfroh gekleidet und ein Großteil der Raver*innen spanischsprachig. Und ebenso wie in La Terrrazza sind die Getränkepreise absurd hoch. Sieben Euro für ein Bier mögen Teilen des Publikums, das aus Gründen keinen Alkohol konsumiert, egal sein. Gerade dann ist es aber sogar gefährlich, bei 30 Grad im Schatten vier Euro für 0,33 L Wasser zu verlangen und dann die Deckel einzubehalten (damit die Flaschen nicht aufgefüllt werden können).
Die großen Bühnen können nach Einbruch der Dunkelheit erst richtig punkten. Als ich nachts zum Mainfloor der Plaza Mayor zurückkehre, bin ich regelrecht geschockt. Der Platz ist brechend voll, eine riesige, wirre Menschenmasse erstreckt sich vor mir. Der Effekt verstärkt sich, als ich auf die Bühne gehe, um Dixon und Kristian von Âme bei ihrem b2b zu beobachten. Wie viele Menschen stehen da wohl? 3000, 5000? Es ist, als würde ich dem Konzert eines Popstars beiwohnen.
Stars, das sind Âme und Dixon ja eigentlich auch. Dennoch, handfest zu sehen wie viele Menschen sie anziehen können, wie viel Umsatz dahinter steht, hat etwas Unheimliches. Mit Club hat das wenig zu tun. Die DJs oben wirken entfremdet von der Menge unten auf dem Platz. Um dem entgegenzuwirken, scheint eine eigene Party auf der Bühne, wie sie hier alle mit „Friends”-Bändchen feiern, geradezu notwendig. Die Musik passt zu dem Setting: Der House mit dem typischen Innervisions-Sound hat etwas Majestätisches, er wirkt sogar bei dieser Größe auf den gesamten Raum. Ein paar tribalistische Tracks haben eine Hexenkessel-Wirkung. Musikalische Überraschungen sind jedoch nicht dabei; es ist ziemlich exakt das, was ich mir von dem Set erwartet hatte. Für das ravende Publikum funktioniert es. Über ihm thronen Dixon und Âme in avantgardistischen, weißen Oberteilen.
Anders Marcel Dettmann, der in einem schwarzen Tanktop agiler wirkt. Nach einem rumpelnden und strahlend gut gelaunten Set von Avalon Emerson, ist er mit dem Closing der „Carpa / Picnic” beauftragt. Ein wenig zu hell fühlt sich die Bühne da an, auch wenn sie in Größe und linearem Aufbau eindeutig am meisten für Techno ausgelegt ist. Der Meinung war wohl auch ein kurioser Gast, der beständig sein Smartphone mit der wechselnden Aufschrift „authentic techno” oder „love berghain” in die Luft hielt.
Dettmann schafft es auch hier, mit seinem Mixing und abwechslungsreichen Basslines einen Sog zu generieren, der einen nicht von der Tanzfläche lässt. Ab und zu hebt er die Arme in Jesus-Pose. Um ein Uhr morgens beendet er sein Set mit „Seconds” von Human League. Der Titel passt zu der Geschwindigkeit, in der Ordnungsmitarbeiter einen anschließend zum nächsten Ausgang weisen. Gefühlt innerhalb von Minuten ist das Areal des Floors geräumt. Ein langer und Headline-starker Tag geht zu Ende. Trotz Masseneventcharakter eine stabile Party mit intimen Momenten.
Das Fazit lässt sich auf meine gesamte Sónar-Experience übertragen. Das offizielle Festival zählte in diesem Jahr 105.000 Besucher*innen (weniger als 2018), mit den Off-Partys kommen vermutlich noch Tausende dazu. Der stark kommerzielle und anonyme Anstrich war vor allem für eine mit Berliner Cluberfahrungen verwöhnte Person wie mich gewöhnungsbedürftig. Dennoch gab es viele musikalisch starke Momente. Vor allem das Sónar de Día setzt mit seinem Line-Up auf spannende Avantgarde-Künstler*innen. Damit kann es sich zu den Off-Partys sehr viel mehr absetzen als Sónar de Noche, die beide eher für clubbige Erlebnisse stehen. All das vor dem Setting der Sommerstadt schlechthin und Sónar und Off-Sónar verbinden sich zu einem Ereignis, das im nächsten Jahr definitiv wieder eine Reise wert ist. Auch wenn es stellenweise zu viel sein mag: Das ist ja bekanntermaßen besser als zu wenig.