Die Mixe des Monats aus dem Oktober findet ihr hier.
Auntie Flo – Birds of Paradise (Some Pulp)
Es ist ein flüchtiger Moment. Eingefangen in Tracks. Nebelschwaden rufen balearische-afro-karibische Disco-Dub-Erinnerungen („Paradise 23”) auf. Die Zahl 23 erzählt Geschichten von Verschwörungstheorien à la Burroughs oder auch Genbiologie („Anacyclosis”). Auntie Flo, der Glasgower Klangnomade, der seit Anfang der 2010er-Jahre in der globalen Clubkultur verortet wird, dekonstruiert hier Genregrenzen – Mobys ikonische „Go”-Synthfläche rettet mit „Ceibo” als westafrikanisch-kreolischer Vodun-Remix eure Körper. „Earth NRG” operiert in Nähe zu Wally Badarous „Mount Fuji”, während „Joy Mantra” beim brasilianischen Candomblé shoppen geht. Birds of Paradise wirkt wie ein funktionales Archive-Of-Cool-Mixtape, das sich jedoch seiner eigenen Fragilität bewusst ist („Cobra”). Vielleicht ist Output-Signal etwas zu sehr komprimiert („Mamluk”) und die Vorstellung des Albums als abgeschlossenes Werk hinterfragt Brian D’Souza hier auch nicht. Trotzdem: Sehr schönes, entspanntes Album. Meckern auf hohem Niveau also. Mirko Hecktor

Feater – Obsolescence (Running Back)
Das neueste Album auf Gerd Jansons Label Running Back vereint analogen Purismus, sanfte Melancholie und Stiltreue. Obsolescence von Feater gibt sich nicht als mehr aus, als es ist. Ein Album, das aus purer Freude für die Musik und dem ersten Moment des Erschaffens entstand. Die acht Tracks machen vielmehr einen jeweiligen Gefühlszustand hörbar als digitales Sounddesign, das bis ins letzte Bit ausgearbeitet ist. Der Text zur Veröffentlichung verrät außerdem, dass das Album in einem idyllischen Örtchen in Österreich entstand, in dem das Musikstudio Pfefferkorn liegt, das mit Blick auf ein alpines Bergpanorama lockt. Da ist es wenig verwunderlich, dass diese ganz bestimmten Stimmungen transportiert werden, sei es in Form von psychedelisch anmutendem Krautrock wie in „Trio” oder traumwandlerischen Klangskizzen wie im Titeltrack. Leon Schuck

HAAi – HUMANiSE (Mute)
Teneil Throssell alias HAAi war schon immer mehr als nur eine DJ oder Produzentin – sie ist eine akustische Anthropologin, die den Zustand des Menschseins im digitalen Zeitalter erforscht. HUMANiSE ist ein Album, das die Grenzen zwischen Club, Körper und Chor auflöst – ein technoider Liebesbrief an Gemeinschaft, Verletzlichkeit und das Überleben im synthetischen Jetzt.
Schon der Opener „Satellite” mit Jon Hopkins, Obi Franky, ILĀ und dem Trans Voices Choir zeigt, worum es hier geht: organische Stimmen, die durch elektroide Frequenzen flackern, bis alles zu einem Schwarm aus Empathie wird. Kein kaltes Maschinenrauschen, sondern digitaler Herzschlag. „Stitches” markiert einen Wendepunkt – ein Stück, das Schmerz und Heilung in denselben Loop presst. Die Kickdrum klingt wie ein pochender Puls, HAAis Stimme bricht auf, sucht Nähe, zieht sich zurück. Es ist Pop und Techno, aber zugleich etwas anderes: eine Erinnerung daran, dass Verwundbarkeit immer rhythmisch bleibt. Auf „All That Falls Apart / Comes Together” verwebt James Massiah Spoken Word und sakrale Club-Ästhetik, während „Hey!” das Gegenstück liefert – ein euphorisches, fast anarchisches Dancefloor-Stück, das an die frühen Chemical Brothers erinnert, aber in einer queer-futuristischen Klangsprache neu formuliert ist. Der Titeltrack schließlich bündelt das Albumkonzept: ein maschineller Hymnus auf Zusammenhalt. Chöre, glitchende Beats, menschliche Stimmen, die sich gegenseitig hochschrauben, bis das Ganze fast zerbricht – und genau darin liegt seine Schönheit. HAAi gelingt hier das, was elektronische Musik so selten wagt: Sie klingt nicht nach Flucht, sondern nach Rückkehr – zurück zur Stimme, zur Gemeinschaft. HUMANiSE ist weniger ein Album als ein Statement: Wir sind keine Algorithmen. Noch nicht. Liron Klangwart

Marco Passarani: F.F.O.M. – Mirage On The Red Land (SWOB)
Die Zerrüttungen der Zukunft in Einklang mit den Errungenschaften von Detroit Techno bringen: Auf seinem tanzbaren Science-Fiction-Soundtrack Mirage On The Red Land hält der Produzent Marco Passarani mit sicherer Hand Kurs in Richtung schlechte Zeiten – doch, doch, es kann alles noch weit schlimmer kommen –, die aber andererseits so ganz schlecht nicht sein können, weil der Beat bei Passarani allemal stimmt. Electro klassischer Schule von Juan Atkins bis Drexciya hat Pate gestanden, was bestens passt, weil bei diesen Künstlern die Prognosen auch nicht immer die optimistischsten waren beziehungsweise sind. Doch wie gesagt, wenn der Break dazu mit unnachgiebigen Synkopen durchschüttelt, lässt sich die Sache irgendwie schon aushalten. Dass Passarani das Genre nicht unbedingt mit Innovationen erweitert, von gelegentlichen Anflügen von Italo-Disco-Leichtigkeit abgesehen, kann man einerseits bedauern. Andererseits hat sein Rückgriff auf Bewährtes zur Folge, dass man sich in dieser metallisch flirrenden Unwirtlichkeit, die seine Tracks heraufbeschwören, sogleich zuhause fühlt. Tim Caspar Boehme

Mark Fell – Psychic Resynthesis (Frozen Reeds)
Das Wort „Resynthesis” im Titel könnte falsche Assoziationen wecken, denn mit „Synthesis” im Sinne elektronischer Musik hat das neue Album von Mark Fell wenig zu tun. Stattdessen hat er ein Werk für das Explore Ensemble aus London geschrieben, das auf Neue Musik spezialisiert ist und mehrheitlich auf akustischen Instrumenten musiziert. „Geschrieben” meint in diesem Fall jedoch keine komplett fixierte Partitur, sondern eine Struktur, in der Fell ein System zugrunde legt, das zugleich Flexibilität gestattet. Im 20. Jahrhundert hatte es in der Richtung schon prominente Ansätze gegeben, den Zufall in die Musik zu integrieren, um den Interpreten mehr eigene Entscheidungen zu ermöglichen, John Cages Aleatorik etwa oder die musikalischen Grafiken von Roman Haubenstock-Ramati. Wie genau Fell wiederum verfahren ist, verrät der Ankündigungstext nicht so richtig. Klassisch linear geht es jedenfalls nicht zu, vielmehr arbeitet er mit so etwas wie performativen Konflikten, die eine Rolle spielen für das Entstehen dieser Musik. Und die klingt streng, reduziert und etwas spröde, wie mitunter auch bei Fells elektronischer Musik. Repetitionen, die einander zu unterbrechen scheinen, woraus sich neue Rekombinationen ergeben, ohne heftig dissonante Gesten, alles eher offen und meistens mit einer begrenzten Anzahl von Stimmen, die zusammenkommen beziehungsweise aneinandergeraten. Das aber sehr britisch diskret. Tim Caspar Boehme
