Den zweiten Teil der essenziellen Alben aus dem März findet ihr hier.
Alarico – Sweaty Techniques (KEY Vinyl)
Sweaty Techniques ist das sechste Studioalbum von Alarico. Der italienische DJ arbeitet in letzter Zeit viel mit Techno-Legende Freddy K zusammen, auf dessen Label KEY Vinyl das Album erscheint. Diesen Einfluss spürt man.
Ansage: Hexenkessel. Schon die ersten Sekunden von „Cradle To The Grave” lassen erahnen, wie sich der ganze Floor zu einer tanzenden Masse formt. Die kurzen, minimalistischen Elemente wirken gut aufeinander abgestimmt und nicht überladen. Ein alienartiger Ton, gepaart mit einer weiblichen Stimme, runden den schweißtreibenden Start ab. Dann wird geflüstert und geatmet. Als wollten die Stimmen ein Geheimnis verraten. „Itika” wirkt deeper. Aus dem Hintergrund bahnt sich vibtrationsartig ein Geräusch an, bis es sich zum Hauptsound entwickelt. Die Claps ertönen auf jedem zweiten Takt, das Atmen auf jedem vierten. Durch dieses Spannungsverhältnis ist der Track etwas ruhiger, dennoch ausgeglichen und energetisch. Energiegeladen geht es in „Cobalt” weiter. Hier begrüßen ein zackiges Tempo und ein Ton, der wie der Ausschlag einer Nadel eines Messgerätes klingt. Das kurze Zupfen einer Gitarrensaite führt langsam zum Hauptteil. Dieser ist ein positives Durcheinander. Snare, weibliche Stimme und ein tonisches Auf und Ab.
Die Verkörperung des Albumtitels? „Dammelo”. Dieser Track wirkt wie ein sündiger Pakt mit dem Dancefloor, verrucht und aufbrausend zugleich. Die wiederkehrende Clap? An der richtigen Stelle. „Gib’s mir”, bedeutet der Titel auf Deutsch. Verspielter wiederum fällt „MUUD” aus und kurbelt am Techno-Leierkasten: Eine brüchige Stimme und feine Modulationen mit Filterspielereien. „Touch My Heart” und gib mir Tempo, heißt es dann. Ein thrillerartiger Ambientsound aus dem Hintergrund begleitet die schnellen Hi-Hats und Claps. Hinzu kommen ein Radio-Störgeräusch und das durchgängige „Touch”-Vocal.
Zum Abschluss wird es nochmal ruhiger, aber nicht still. „Jamira” klingt erst weniger modern als der Rest. Fast wie eine Hommage an ältere Tracks. Die üblichen Stimmen, die sich durch das ganze Album ziehen, rücken den Track aber doch zur einen Hälfte ins moderne Techno-Licht. Klopfen, sanft klirrende Schläge und verträumter Sound tragen aus dem Album. Jacob Runge

aya – hexed! (Hyperdub)
Ein Trip, ein Trauma, ein Triumph in zehn Akten – willkommen in ayas Abgrund der Ekstase. Ich sag’s direkt: Dieses Album ist kein Soundtrack zum Runterkommen. hexed! ist der Fiebertraum einer Afterhour, der Ghostwriter Deiner Paranoia, der Beat, der dich verprügelt, während du ihn bittest, weiterzumachen. aya – Queen of Queer Collapse – schenkt uns hier keinen netten Follow-up zu im hole, sondern ein verdammtes Exorzismus-Protokoll auf Platte.
„I am the pipe I hit myself with”? Wir starten mit Selbstverletzung als Soundästhetik. Kein Drumloop zum Mitnicken, sondern Klangskulptur als Wundenritual. Industrial-Noise, Spoken-Word-Verstörung, ein bisschen Hexerei und ziemlich viel Schmerzverarbeitung in poetischem Punch. Dann: „off to the ESSO” – wie eine Bashment-Tube-Line durch den Kopf. Es geht weiter mit „the names of Faggot Chav Boys” – ein Titel, der mehr sagt als ein ganzer Rolling-Stone-Jahrgang. Soundtrack für alle, die ihre Kindheit zwischen Yorkshire-Ghettos und post-digitalen Albträumen gelebt haben. Ein sonisches Kammerspiel aus Gewalt, Gender, Glam und Gaslighting. Und ja, „peach” ist nicht süß, sondern BDSMcore mit Synästhesie: „i watched your peach go soft in the sun” – Zartheit als Zunder, Softness als Säure. aya schraubt sich durch romantische Deformationen, während die Drums sich anfühlen wie ein zu enger Harness. „hexed!” (der Track) klingt, als hätte Scott Walker SOPHIE in einer verlassenen Kirche beschworen, während der Strom ausfällt. Drones, Doom und Dreck: ein dunkler Schimmer in ayas glitchendem Universum. Am Ende steht „Time At The Bar”, das Finale furioso – ein Breakcore-Metal-Mashup, als hätten Babymetal bei Arca Karaoke gesungen, während Dillinja im Hintergrund das Mischpult zerlegt.
hexed! ist ein Werk aus Fleisch, Fehlern und Frequenz. Ein kathartisches Meisterstück – unhörbar für Nebenbei. aya zeigt der Avantgarde den Mittelfinger – und hält ihn dabei ganz elegant. Liron Klangwart

Broken English Club – Songs Of Love And Decay (Dekmantel UFO)
Während das Dekmantel-Festival in Amsterdam seit über zehn Jahren eine tonangebende Marke im House- und Techno-Universum darstellt, bietet die nach einer der Stages benannte UFO-Reihe seit 2016 dem dort regierenden düsteren und futuristischen Techno mit oft rauen Texturen und energiegeladener Ästhetik eine Plattform.
Dem entspricht auch der Broken-English-Club-Alias von Produzent Oliver Ho, dessen industrieller UK Techno zuvor auf L.I.E.S. erschien und ursprünglich unter Anleitung des 2024 verstorbenen Juan Mendez alias Silent Servant entstand. Ihm hat Ho dieses Album gewidmet, innerhalb dessen er sich frei bewegt und ein vielseitiges, aber stimmiges Werk liefert. Neunziger-Tribal-Techno-Einflüsse brechen auf Tracks wie „Crawling” und „Death Cult” durch, während „England Heretic” mit analogen Synths an Giallo-Soundtracks und Achtziger-Synthwave erinnert. „Vessel Of Skin” bringt mit Distortion und Vocals die post-punkigen Elemente, die Broken English Club auszeichnen.
Dabei ist es ganz klar kein Retro-Album – Tracks wie „Pacific Island Kill” und „Lost Gods” setzen auf modernes, kantiges Sounddesign und cineastische Tiefe jenseits der üblichen Floor-Funktionalität. Vielmehr erforscht Ho diverse Ansätze, denen man seine jahrelange Auseinandersetzung mit Maschinenmusik anmerkt. Manchmal treibend und clubtauglich, dann wieder spannungsgeladen und düster – aber immer roh und kompromisslos. Eine würdige Hommage an Mendez und ein starkes künstlerisches Statement. Leopold Hutter

CEM – Forma (Danse Noire)
Vorweg: Dies ist nicht der durch Vorstellungen der Zukunft gejagte Industrial Techno, den der Name CEM verspricht. Ja, er ist es, der Mitveranstalter der Herrensauna-Partys, halb schon auf dem Weg zur schwulen Ikone, er ist es, Cem Dukha aus Wien, mittlerweile das Berliner Kreuzwerk bespielend. Nur gibt es hier kaum durchratternde Beats.
Forma nämlich ist eine Musik, die einem ganz anderen Zusammenhang entrissen ist: der gleichnamigen audiovisuellen Performance des Künstlers Mauro Ventura, uraufgeführt 2022 an der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz in Zusammenarbeit mit der Tänzerin Kianí del Valle. Auch thematisch ging es um etwas, das bildet sich allerdings nicht in den Sounds ab.
Die Stärke dieses Albums liegt in einem Vorantasten durch vorgefundene Klänge, durch Samples älterer Volks- und Popmusiken, durch harte Brüche und zärtliche Zonen. Und zwar ins Offene. Es ist vielleicht gerade gut, dass diese sich ungut, jedoch nicht dystopisch anfühlende Sammlung zwei weitere künstlerische Aspekte der Aufführung gar nicht aufzeigen kann – Bild und Tanz. So flimmert „Statue Garden” ohne gute oder schlechte Laune durch die Lande, kann „Bells” härteste Schläge mit den Glocken der Kontemplation kontrastieren und die beiden „Industrial Satire”(s) klingen genau so. Weder Herr noch Sauna, sondern Kopfhörer und Fensterblick. Christoph Braun

Hans Nieswandt – Fluoreszent (Bureau B)
Hans Nieswandt ist aus der Geschichte des Sound of Cologne und damit aus einem Stück deutscher elektronischer Musikgeschichte nicht wegzudenken. Seit den Achtigern ist der visionäre DJ aktiv und hat mit seinen langjährigen Radiosendungen den Geschmack ganzer nachwachsender Generationen geprägt.
Nun also eine neue Soloplatte, aufgenommen in Korea (seit 2019 lebt Nieswandt in Seoul) für das Hamburger Vorzeige-Label Bureau B. Darauf findet sich eine Reihe unterschiedlicher Stile: von Kraut bis Goth, von Synth-Wave bis Pop und vom Kosmischen zum Komischen. Man hört der Scheibe Nieswandts persönlichen Werdegang an – vom Hippie zum Punk zum House-DJ. Hier dürfen alle Einflüsse mal den Ton angeben, und vor allem wird gute Laune nicht versteckt. Fluoreszent klingt nämlich genau so, wie es der Titel verspricht: schillernd, frisch und geladen mit positiven Emotionen. Für jüngere Generationen sich zu ernst nehmender Minimal- und Deep-House-Connaisseure vermutlich mindestens drei Nummern zu flapsig – doch wer bereits seit Nieswandts Anfängen mit Whirlpool Productions diesem Sound huldigt, wird viel Freude an dieser selbstreflexiven akustischen Rückschau haben. Leopold Hutter
