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Motherboard: Januar 2025

Da darf die energetische Anadolu-Psychedelik des Münchner Trios Sinem um Sängerin Sinem Arslan Ströbel keinesfalls hintanstehen. Köşk (Fun In The Church, 25. Januar) besteht aus Coverversionen und Hommagen, aus elektronisch verstärkten Protestsongs, altem Polit-Funk und neuen Postpunk-Hymnen im aufständischen Geist der Sechziger und Siebziger. Der schneidende Groove hat hier immer recht, weil er die Wut der Songs fokussiert, ihnen Sinn verleiht. Man muss die türkischen Vocals nicht verstehen, um zu spüren, was hier alles los ist. Retro ist das jedenfalls nicht wirklich.

Es gibt neue kleine Beats und Dubs von Ex-Düsseldorfer Detlef Weinrich alias Tolouse Low Trax. Fung Day (TAL, 22. November) stellt eine Art abstrakter Chronik seiner neuen Wahlheimat Paris dar. Weinrichs Stücke haben eine interessante Art, ihre Größe und Stärke zu verstecken. Sie sind unendlich subtil, nie ganz vorne um Aufmerksamkeit heischend, darin allerdings sehr detailreich und dynamisch produziert. Hier liegen die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft von Leftfield, IDM und Braindance, wenn es sie je gab.

Für den Österreicher Ulrich Troyer, der ungefähr ebenso lange Dub und Beats produziert wie Weinrich, lässt sich Ähnliches behaupten. Der Schwerpunkt liegt bei Troyer allerdings deutlich mehr auf Dub in konkreter Form der Achtziger, von Post-Punk inspiriert, in abstrahiert elektrisch kühler Form, wie sie um die Jahrtausendwende aus Berlin und Kanada kam. Transit Tribe (4Bit-Productions, 22. November) macht mit Dub etwas vergleichbar Interessantes wie Weinrich mit den hibbeligen Beats der Leftfield-Tradition, nämlich die Erinnerungslinien zu überlagern und partiell zu verschmelzen, sodass ein konkret-abstrakter Hybrid erwächst. Gerade noch tanzbar, immer noch wiedererkennbar, doch nicht mehr als Retro lesbar.

Tape-Glitch und Schredder-Elektronik haben eine lange Tradition, die weit vor die Neunziger mit ihrer sogenannten intelligenten Hirn-Tanzmusik reicht. Sie sind bis heute hartnäckig erfolgreich, zumindest in persistenten Nischen, davon zeugen immer neue Generationen von Produzent:innen. Wie zuletzt in der jüngsten Ausformung als DIY- und Indie-Hyperpop aus dem elterlichen Hobby-Keller. Zumindest klingt das auf dem auf Susanna Wallumrøds neuem, definitiv zu verfolgendem Label erschienenen Vivid Peace Restored I (SusannaSonata, 28. November 2024) so. Das täuscht allerdings ein wenig. Denn die norwegische Producerin Stina Stjern kann auf eine lange Geschichte in der Improv- und Noise-Szene Oslos zurückgreifen. Die Knacks-Leier-Rausch-Dehn-Ästhetik der bewusst provozierten Fehler sendet starke Botschaften des Imperfekt-Perfekten, die zu derbem Noise wie zu immenser Schönheit fähig sind.

Tape-Glitch und Schredder-Elektronik ganz alter Schule quasi, direkte Abkömmlinge der modernistischen Avantgarde der Sechziger, produziert seit quasi schon immer und jederzeit frisch: der Kanadier Martin Tétreault. Sein Vraiment plus de Snipettes!!! (Ambiances Magnétiques, 13. Dezember 2024) macht die uralt-ureigene C60-Kassetten-Ästhetik der hochgepitchten Stimmen und runtergemumpften Slushwave-Beats nochmal neu.

Eine ganz andere und doch wesensverwandte alte und ewig junge Avantgarde, die dem grundlegend Neuen und Ungehörten im Klang (oder oft eher Nicht-Klang) rein akustischer Instrumente nachforscht, stammt aus der Entwicklungslinie von Free Jazz zu freier Improvisation. Eine ihrer kompromisslosesten und radikalsten jüngsten Forschernaturen ist die kanadische Saxofonistin Nicola Miller, deren großes Ensemblewerk Living Things (Cacophonous Revival, 13. Dezember 2024) sich auf das Rumpeln und Klappern, Knarzen und Fiepen bezieht, das sich aus diversen althergebrachten Klangerzeugern, vor allem Percussion und Holzbläsern, herausziehen lässt. Zwischen anstrengend, spaßig und kopfsprengend ist hier alles geboten.

In der Nische, in der radikale Improvisation in Ambient übergeht, ansonsten aber Freiheit kultiviert wird, spielt die kanadische Jazz-Postrock-Combo Brûlez les meubles um E-Gitarrist Louis Beaudoin-de la Sablonnière und E-Bassist Éric Normand seit knapp zehn Jahren. Mit einer illustren weiteren Besetzung aus (Free-)Jazz-Zusammenhängen (Ingrid Laubrock, Jonathan Huard, Marianne Trudel) kann Folio #5 (Tour De Bras/Circum-Disc, 6. Dezember 2024) auf sehr plausible Weise vorführen, wie kompromisslose Suche nach neuen Ausdrucksformen, Konzentration und meditative Ruhe ungezwungen zusammenfinden können.

Ein anderes Genre, das ein ähnlich Bärtierchen-resilientes, fast ewiges, endemisches Leben in einer winzigen musikökologischen Nische führt, ist Exotika, dieser von Pedal-Steel umflorte und nach hawaiianischen Blumenkränzen duftende Ambient-Stil. Der natürlich überall in der Welt hervorsprießen und terrariumsfeuchtwarm gedeihen kann, wie im Fall von Swim Ignorant Fire im kontinentalklimatischen Chicago. Die gleichnamige Kassette Swim Ignorant Fire (Island House Recordings, 8. November 2024) des Trios um Stephen Holliger setzt ihn – mit Gamelan-Bimmeln, der unvermeidlichen geschlitterten, gedehnten Gitarre und analoger Elektronik – einfach mustergültig und unwiderstehlich freundlich um.

Mit etwas mehr Widerhaken, aber einer vergleichbaren Riesenportion Menschenfreundlichkeit setzt der in Rom lebenden Brite Mike Cooper den Stil in Dobro und Slide-Gitarre. Cooper, der schon eine circa 60 Jahre dauernde Karriere als Folkie hinter sich hat, entwickelte sich (wie zum Beispiel hier berichtet) im deutlich fortgeschrittenen Lebensalter nochmal zum höchst kreativen Experimentator, agiert auf Slow Motion Lightning (Room 40, 23. Oktober 2024) dann aber doch wieder ungewohnt altersmilde.

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