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Motherboard: September 2024

Die Pariser Organistin und Kompositionslehrerin Nadia Boulanger hat die musikalische Moderne des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt. Zu ihren Schülern gehörten neben der französischen Avantgarde die US-amerikanischen Minimalisten der Sechzigerjahre sowie nicht gerade wenige Filmkomponisten, etwa Lalo Schifrin. Erstaunlicherweise ist ihr Name heute weit weniger in Gebrauch als der ihrer frühvollendeten, aber nur 25 Jahre alt gewordenen jüngeren Schwester Lili Boulanger. Deren spätromantische Werke zeigen gut 100 Jahre später erstaunlicherweise eine deutlich ausgeprägtere Resonanz mit der Jetztzeit als die eher modernistischen ihrer Schwester.

So überrascht es nicht zu sehr, dass die zweite Folge der Remixserie der Deutschen Grammophon nach dem naheliegenden Erik Satie nun Boulanger gewidmet ist. Wie im ersten Teil konnte ein beachtlicher Teil der Mainstream-nahen Techno- und Elektronik- wie Neoklassik-Szene gewonnen werden, um für Fragments II (Deutsche Grammophon, 20. September) Remixe, Neubearbeitungen oder Interpretationen Boulangers einzuspielen. Der kompositorisch-strukturelle Abstand zu den Originalen ist teils immens. Dennoch, sogar als Melodiefragment und Sample ist die Kraft und Eigenheit von Boulangers Kompositionen noch spürbar.

Barocke Pop-Opulenz und minimalistische elektronische Produktion, sie können sich in hyperaufgeregten Tracks von Charli „Brat” XCX manifestieren oder im gediegenen Pop der Kate Bush der The Dreaming-Ära. Was die in Aserbaidschan lebende Russin Katya Yonder auf Cure (Métron Records, 25. September) ausbreitet, schließt die beiden genannten Pole mit ein und öffnet noch einige weitere Optionen von Dream-Pop und Shoegaze bis hin zu Vapor-Trap. Die Hoffnungen und Ängste der allergrößten Popmusik kondensieren zu unmittelbar widerhakenden Songs – und das alles in einer Bedroom-Produktion aus Baku.

Es braucht wohl immer wieder eine Erinnerung, wie viel Potenzial zum Experiment, zum anders und neu Klingen in Elektronik und Synthpop doch steckt. Die belgische, in München studierte Performancekünstler:in, Musiker:in und Produzent:in Veronica Burnuthian hat mit dem Solodebüt Sterner Stuff (Alien Transistor, 20. September) unter dem Alias Soft Violet ein solches Aufwecksignal gesendet. Um aus der Masse herauszuragen, bedarf es keineswegs erhöhter Aggressivität oder der Kunstschule avantgardistischer Gestik. Eigenheit und Seltsamkeit und der unbedingte Wille, diese in außergewöhnliche elektrische Soundwellen umzusetzen, genügen vollkommen.

Die fremden Welten und entlegenen Galaxien sind in ihrer Fremdheit doch merkwürdig bekannt. Die Dimensionen, die der Aarhuser Produzent Jakob Løkke Madsen alias Jack Rock auf Explorations Of A Fourth Dimension (Pattern Abuse, 15. August) durchwandert, sind die Neunziger von Electronica, Trance und Chillout. Das ist durchaus als augenzwinkernd retrofuturistische Boutique-Nostalgieveranstaltung für bessergestellte Rave-Rentner gedacht, aber dann vielleicht doch etwas zu unheimlich im Altbekannten suhlend. Ein halbironisch gebrochenes Spiegelkabinett aus Pillengeistern und postschamanistischen Elektrolurchen. Das Unbehagen des Futur II, das Uncanny Valley des Second Summer of Love im Lifestyle des Laptop Cafés.

Eine zeitnähere Form der Vergangenheit der Zukunft findet sich auf der Kompilation Sound On The Fringe (Megastructure_, 9. August): Das Berliner Post-Club-und-mehr-Label versammelt hier Annahmen zukünftig verlorener Cyberspaces, übersetzt in experimentelle Elektronik mit ungeraden, knirschenden Splitterbeats. Die Projektnamen sind mit wenigen Ausnahmen nur mittelweit populärbekannt. Die stilistische Breite der einzelnen Soundausformungen ist aber immens und doch wie aus einem Guss. Was diese auralen Erfahrungsräume eint, ist die dystopische Anmutung. Also das diffuse Gefühl einer irgendwie nicht so geilen, aber doch faszinierenden nahen Zukunft.

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