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Atonal Openless: Ein Hören, das sich nicht mit Hingabe und Versöhnung begnügt

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Die Warteschlange am Freitagabend ist lang: Schon kurz vor 18 Uhr dauert es mehrere Minuten, an den Hunderten von Menschen vorbeizulaufen, die vor dem Kraftwerk, dem Austragungsort von Atonal Openless anstehen. So lässt sich leicht ein Eindruck vom Publikum gewinnen, das trotz augenfälliger Präferenz für die Farbe Schwarz bei der Zusammenstellung des Outfits angenehm heterogen erscheint.

Vier Fünftel des Atonal-Publikums wollten später nicht in den Tresor (Foto: Helena Majewska)

Vielleicht einem Fünftel sieht man an, dass es nach den Konzerten im Kraftwerk in den Clubs Tresor und Globus feiern wird. Insgesamt ist es weniger einseitig und szenig als erwartet. Junge Raver:innen mischen sich unter Musiknerds, eigens für das Festival Angereiste unter Ältere, die ihrem Habitus nach eher aus etablierteren Art-Bubbles kommen. Das Berlin Atonal Festival findet in der Full-Edition nur noch zweijährig statt, die diesjährige Mini-Ausgabe trägt den etwas mysteriösen Titel Openless und findet an drei Festivalabenden zwischen dem 23. und dem 25. August statt.

Versöhnung im Urwald

Beim Betreten der kolossalen Ebene 2 des Kraftwerks, einer 20 Meter hohen und 100 Meter langen brutalistisch anmutenden Betonkathedrale, in der sich das Bühnengeschehen abspielt, muss man beinahe lachen – so ironisch und bewusst deplatziert wirkt der erste Act des Abends: Aus der 8-Kanal-Soundanlage ertönt im Dunkel ein raumfüllendes Konzert verschiedenster Vogelstimmen. Sie wurden im Białowieża-Urwald aufgenommen, einem der letzten Urwaldgebiete in den Mittelbreiten Europas.

„die hohen Frequenzen schmerzen fast in den Ohren. Etwas stimmt nicht.”

Im Hintergrund bereitet ein permanentes, dumpfes Brummen wie von einer Autobahn Unbehagen und wirkt dem Eindruck entgegen, man lausche hier Field Recordings als einer Art akustischer Bukolik. So leicht macht es die Produktion von Izabela Dluzyk und Chris Watson nicht. Nach einer Weile, wohl auch mit genauerem Einlassen, wächst dieses technisch produzierte, aufgekommene Unbehagen und dehnt sich auch auf das vermeintlich Natürliche aus: Je länger man dem Zwitschern zuhört, umso verfremdeter präsentiert es sich – die hohen Frequenzen schmerzen fast in den Ohren. Etwas stimmt nicht.

Schlag um Schlag ging es im Kraftwerk zu (Foto: Frankie Casillo)

Wie um ein Hören zu provozieren, das sich nicht mit Hingabe und Versöhnung begnügt, schießt etwa zehn Minuten vor dem Ende des Stücks ein lauter, mit einigem Hall versehener Schlag durch den Raum. Er zeigt seine Wirkung und lässt die größtenteils auf dem kalten Boden sitzenden Personen zusammenzucken. Kurz darauf wiederholt sich der Schlag. War diese Wiederholung nötig? Er wirkt zu plakativ, das subtilere und auf Nuancen setzende Verfremden der Idylle hätte ausgereicht.

Wenn Wucht langsam langweilt

Dass man diesen Schlag als eine zumindest implizite ästhetische Prämisse des Festivals deuten kann, wird erst im weiteren Verlauf deutlich. Etliche Konzerte und Performances an diesem Wochenende setzen klar auf Wucht und Pathos, manchmal gelingt das, häufiger wirkt es abschreckend oder langweilt.

Die gelungeneren Produktionen interagieren jedoch klug mit dem gewaltigen Raum und der Architektur des Kraftwerks. Wo dieses Zusammenspiel glückt, werden Erlebnisqualitäten möglich, die recht einzigartig sind und die Wahl der spezifischen Location nachvollziehbar erscheinen lassen. Manches, das man sieht und hört, kann man in dieser Form wahrscheinlich wirklich nur im Kraftwerk sehen und hören, zumindest in Berlin.

So zum Beispiel Mika Oki und Sara Persico, die mit dem mit Abstand ausgefeiltesten Lichtkonzept auf verschiedenen räumlichen Ebenen arbeiten und für ihren Auftritt Field Recordings nutzen, die in einer mit dem Kraftwerk vergleichbaren Umgebung aufgenommen wurden: dem von Oscar Niemeyer zu Beginn der Sechzigerjahre in Tripoli im Libanon geplanten und wegen des Bürgerkriegs 1975 unvollendeten Kuppeltheater, einer anderen Betonkathedrale.

„Oder befindet man sich doch im Weltraum?”

Der nicht weniger gelungene Auftritt von Grand River und Abul Mogard am Sonntag trägt den Raumbezug schon im Namen. „In uno spazio immenso” ist auch der Titel ihres ersten gemeinsamen Albums, das vor zwei Monaten auf Caterina Barbieris Label light-years erschienen ist. In solch einen „spazio immenso” versetzt man sich bereits kurz nach Konzertbeginn: Ist es ein Abgrund, in den die Musik der beiden blickt und manchmal sogar fallen lässt – oder befindet man sich doch im Weltraum?

Reisen im Reaktor

Immer wieder spielen Grand River und Abul Mogard geschickt mit Verzerrungen, Übersteuerungen und Noise-Elementen. Dabei ist in jeder Sekunde ein beachtliches Formgespür vorhanden, dem man vertrauen kann und von dem man in Dimensionen getragen wird, die das riesige Kraftwerk im Vergleich winzig und weniger real erscheinen lassen. Es kommt ein Gefühl einer Weite auf, in der man schwebt – allmählich erscheint alles andere, die hektische Großstadt, die vielen Menschen im Publikum, weit entfernt.

Space is the stage mit Grand River und Abul Mogard (Foto: Helena Majewska)

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass hinter dem Künstlernamen Abul Mogard der Produzent Guido Zen steckt, denn ganz im Einklang mit dessen Nachnamen fühlt sich das Konzert an wie eine lange Meditation über Leere – man erschrickt fast über das Ende, weil für knapp eine Stunde das Zeiterleben stark verändert war. Ob man der Musik erst seit fünf Minuten oder bereits den ganzen Abend zugehört hat, erscheint gleichermaßen wahrscheinlich. Nun setzt die Unordnung der Welt wieder ein. Mindestens die Umbaupause vor dem nächsten Auftritt ist nötig, um von der langen Reise zurückzukommen.

Offenheit abgesagt

Der Titel der diesjährigen Edition des Berlin Atonal ist verglichen zu dem des Konzerts von Grand River und Abul Mogard weniger eindeutig: „Openless”. Dieses Wort lädt zum Spielen ein. Das Suffix „-less” zeigt eine Abwesenheit an, eine Person, ein Gegenstand oder ein Zustand, der fehlt. „Endless” bedeutet, dass es gerade kein Ende gibt: Un-endlich. „Childless”, dass man keine Kinder hat: Kinder-los. Erteilt demzufolge der Festivaltitel einer wie auch immer verstandenen Offenheit eine Absage? Das wäre in mehreren Hinsichten interessant.

Erstens regt der Titel zum Nachdenken darüber an, aus welchen Gründen man sich Offenheit gegenüber verweigern kann, die im zeitgenössischen Diskurs meist unhinterfragt positiv besetzt ist. Will das Team rund um Kurator Laurens von Oswald vielleicht mit der Zeit gehen und aktuellen Metamodernismus-Debatten Rechnung tragen? Ist man trotz, wegen und nach aller postmodernen Kritik auf der Suche nach einer neuen Verbindlichkeit?

„Man möchte das Festgelegte und Sich-festlegen-Lassende.”

Falls das zutrifft, wäre in der konkreten Ausgestaltung noch Luft nach oben. Und hier sind wir bei der zweiten Hinsicht angelangt, in der das vorgeschlagene Verständnis des Festivaltitels interessant ist: Openless, „un-offen”, würde damit auch auf der konzeptuellen Ebene der überwältigungsästhetischen Tendenz der diesjährigen Ausgabe des Festivals entsprechen: Man möchte das Festgelegte und Sich-festlegen-Lassende.

Die Vergangenheit ausgraben

Ein Beispiel hierfür ist die Kollaboration von Forensic Architecture und Bill Kouligas mit dem Titel „The drum and the bird”. Die Gruppe Forensic Architecture ist spätestens seit 2017 einem breiten deutschen Publikum bekannt. Damals produzierte sie eine digitale Rekonstruktion des Tathergangs im Mordfall Halit Yozgat. Der NSU erschoss Yozgat 2006 in einem Internetcafé, während ein Verfassungsschützer im Hinterraum saß und angeblich nichts mitbekam.

Schöne Aussichten beim Set von Bill Kouligas und Forensic Architecture (Foto: Helena Majewska)

Die neue Arbeit „The drum and the bird” befasst sich mit der Ermordung vieler Tausend Herero und Nama durch die deutschen Kolonialtruppen in den Jahren 1904 bis 1908, dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Forensic Architecture rekonstruiert minutiös verschiedenste Gegebenheiten auf einer namibischen Halbinsel, die von 1905 bis 1912 als Konzentrations- und Internierungslager diente. Das Video stellt unter anderem dar, wie Herero und Nama dort durch Zwangsarbeit und Hunger ermordet wurden. Leichenteile wurden zur Rassenforschung nach Berlin geschickt.

Während das Video historische Dokumente zeigt, dröhnen gleichzeitig Bassfrequenzen im Raum, die das Potenzial der Soundanlage ausreizen und so gewaltig sind, dass einige Personen kurz nach Beginn den Bereich vor der Leinwand verlassen. Im Verlauf der Performance wird die Halle immer leerer, und es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob es an der Macht der Bässe oder an der Form der Darbietung liegt.

Widerstand im Betoncharme erkunden

So wichtig und richtig das politische Anliegen des Projekts ist und einen nicht kalt lässt, was man hier sieht, so sehr stört, die Besucher:innen durch die musikalischen Mittel zur Betroffenheit zu zwingen und zur Teilnahme zu erpressen. Das bewirkt Widerstand, ich bin tatsächlich „openless” und denke mit Sehnsucht an den Januar 2023 zurück, als Stefanie Egedy mit ihrem Stück „A Sub-Bass Dose” im Rahmen des CTM-Festivals die Grenzen der Anlage eines anderen ehemaligen Berliner Kraftwerks mit Betoncharme erkundete. Das war nicht weniger intensiv, nur nicht so aufdringlich. Es ließ einem die Wahl, sich dazu zu verhalten.

Atonal in Rot (Foto: Frankie Casillo)

Das CTM-Festival ist im Laufe des Atonal-Wochenendes immer wieder als Referenz relevant. Wie gerade beschrieben, dienen CTM-Acts manchmal als Referenzpunkte für Gehörtes, und manchmal drängt sich der Gedanke einer möglichen Konkurrenz beider Festivals auf. Eine Idee hierzu kommt mir anlässlich des Konzerts des australischen Duos CS + Kreme am Sonntag, das unbefriedigt zurücklässt, obwohl sich den stark an Alva Noto, Frank Bretschneider und Co. erinnernden Clicks-&-Cuts-Elementen einerseits genauso etwas abgewinnen lässt wie den hypnotischen, langsamen Beats andererseits, die in Kombination mit dem E-Gitarrenspiel schnell an Darkside und an Nicolas Jaars erstes Album Space Is Only Noise denken lassen.

„Dieser gewaltige Raum möchte bespielt werden.”

Das war es dann jedoch leider bereits mit dem Raum. Das Konzert wäre in der Betonhalle des Silent Green, wo zahlreiche Konzerte des CTM stattfinden, besser aufgehoben gewesen. Und hier liegt für mich die Antwort auf die obige Frage: Dieser gewaltige Raum des Kraftwerks möchte bespielt werden und wo das nicht gelingt, weil die vorhandenen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden oder kein gelungener Umgang mit ihnen stattfindet, offenbaren gerade die extremen Dimensionen der Halle Unzulänglichkeiten, die dann umso störender auffallen.

Ein Gedicht und die Gesellschaft

Gelingt es allerdings, schätzt man diesen Ort: Ich denke an Caterina Barbieris episches Metabolic-Rift-Konzert im Oktober 2021 im Kraftwerk; an die eigens für den Ort angefertigte Installation „Latent Being” des Künstlers Refik Anadol für Light Art Space (LAS); ich höre Grand River und Abul Mogard dabei zu, wie sie zuerst Fläche über Fläche in den riesigen Raum zwischen den Betonwänden und der Decke legen, um dann gemeinsam mit dem Publikum langsam irgendwohin aufzubrechen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist ein Programm mit Acts wünschenswert, die die Spezifika, die die ungewöhnliche Location mit sich bringt, erstens aushalten und zweitens clever zu nutzen verstehen.

Das Motto des ersten Festivalabends lautete „The Less Deceived”, worin eine Anspielung auf Philip Larkins gleichnamige Gedichtsammlung aus dem Jahr 1955 zu vermuten ist. Larkin zufolge sei er in diesem Band darum bemüht gewesen, die Welt mit einem traurig-realistischen Blick zu erkunden, um darzustellen, wie die gegenwärtige Gesellschaft in Wahrheit beschaffen sei. Dieser Anspruch, zumal übertragen auf ein Musikfestival, wäre kein geringer und ihm gerecht zu werden ein vielversprechendes Vorhaben für künftige Festival-Ausgaben, die dazu vielleicht weniger auf Altbekanntes und Bewährtes setzen könnten.

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