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Motherboard: Mai 2024

Ist es müßig, über strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu sprechen, über geteilte Herkunft, gefühlte und reale Traditionen und die gegenseitige kreative Befeuerung von House und süd-, nord-, zentral-, west- und ostafrikanischen Clubtracks? Für das kenianisch-deutsche Duo ODD OKODDO ist das selbstverständlich, aber nicht unkompliziert. Der Groove kommt aus der Maschine, die Instrumente und die Stimme Olith Rategos sind (zumindest teilweise) in Sample-Pakete gepackt und von Weltmusik-Weltretter Sven Kacirek montiert und leicht begradigt. Die Polyrhythmik der kenianischen Tanzmusik ist auf Negore (Altin Village & Mine, 24. Mai) noch deutlich spürbar, wenn auch nicht im Vordergrund. Bei aller Komplexität ist es die immense innere Energie dieser Songs, die sie zu hitziger Clubmusik macht. In Kenia, in Deutschland, überall.

Beim Hamburger Label Pingipung wirken und werkeln ebenfalls dezidierte musikalische Weltenentdecker und Weltenretter. Ihre jüngste Alt-Neu-Entdeckung ist das japanische Sängerinnen-Quartett Marewrew, das auf Ukouk (Pingipung, 10. Mai) die musikalische Tradition der Ainu wieder aufleben lässt – wie die ebenfalls vom Label wiederentdeckte Umeko Ando. Folklore als Anti-Folk, Volksmusik ohne Volk, keine Dokumentation, sondern ein lebendig werden Lassen von Verschwundenem. Zudem etwas, das für westlich genormte Ohren, an Klassik, Pop und Rock geschulten, an Melodie und Song orientierten Hörweisen oft radikal (verwurzelt) fremd wirken kann. Fremd und anders, aber eben nur im unvermittelten Erstkontakt. Bei Wiederholung werden diese Klänge ganz schnell zu wiedererkennbar tollen Songs, werden sie ganz schnell nah und eigen, egal von wo man kommt, Folklore oder nicht.

Zwischen Pop, Jazz und Klassik vermittelt das Klavier offenbar am allerbesten. Und eine Brücke zu Techno und House ist selbstverständlich schon lange gebaut. Diese hat Ezéchiel Pailhès, eine Hälfte der distinguierten French-Raver Nôze, auf Ventas Rumba (Circus Company, 17. Mai) besonders gerne beschritten. Was von den Arpeggios und Pad-Patterns des House-Pianos übrig blieb, war ein lockerer Rumba, ein lässiger Swing, wie ihn die Piano-Obersten von Chilly Gonzales bis Nils Frahm so lässig dann doch nie hinbekommen haben. Darin und in der leicht knorrigen Eigenwilligkeit ist Pailhès tatsächlich näher an seinem Landsmann Yann Tiersen als an den hiesigen Neo-Romantikern. Das Album bedient das Piano selten in purer Form, die Stücke sind meist elektronisch umperlt und werden mal eher zu Songs, mal mehr zu Tracks, romantisch tief und doch ausreichend modern, um frisch und erfreulich umherzuklimpern. Wie heftig wurde Yann Tiersen damals für seinen Amélie-Soundtrack des französelnden Kitsches bezichtigt, und wie egal war (ihm) das, und wie krass hat sich diese Einschätzung im Laufe der Zeit als oberflächlich und falsch herausgestellt. Pailhès könnte mit seinem variantenreichen, famosen Album Ähnliches passieren (hoffentlich nicht), es wäre jedenfalls ziemlich blöde, es jetzt zu ignorieren.

Hin und wieder passieren sogar im Erwartbaren noch unerwartete Dinge. Die Carrossel EP (Studio Week, 28. März) der ehemaligen Düsseldorfer, derzeitigen Berliner Pianistin Vera Bohl ist so ein erstaunlicher Glücksfall. Ein sich zurücknehmendes Klavieralbum aus den Erfahrungsschätzen von Jazz und Neoklassik, in nahekommender Intensität aus allerliebsten kleinen Melodien am Rande der Stille. Wie kann so etwas Kleines, Intimes und noch dazu weitgehend Improvisiertes so grandios werden? Ja, es gibt es noch, das schöne Geheimnis.

Was mit dem Klavier sonst noch so geht: klassische Opern runterbrechen auf modernistisch-neutönendes, disruptiv-polyrhythmisches und kontrapunkt-metaharmonisches Solopiano im sehr weiten Feld zwischen Bach, Feldman und Crumb. Die kanadische Pianistin Rachel Kiyo Iwaasa spielt auf der ausladenden Sammlung Known and Unknown (Redshift, 22. März) Opern-und Klavier-Werke des kanadischen Komponisten Rodney Sharman. Selbiger hat nicht nur Blümchen im Bart, sondern holt im Booklet zum Album die sprichwörtliche Schlange aus der Lederhose (nein, ich denke mir das nicht aus). Erfreuliche und explizit queere Exzentrik also, die vom Geiste her einiges von der immer nahbaren und hörbelohnenden Außenseiterkunst Moondogs hat, letzlich aber doch in einem ganz eigenen Universum spielt.

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