Sowieso scheint die inwendig wildeste und freieste Popmusik gerade (wieder mal) nicht aus dem englischsprachigen Raum zu kommen. Sondern zum Beispiel aus dem Französischen: wofür das Pariser Duo UTO in Absenz jeder Repräsentativität doch bestens einsteht. Neysa May Barnett und Emile Larroche nehmen sich auf When all you want to do is be the fire part of fire (Infiné, 12. April) dazu Big Beat und Rave-Memoiren her, um imaginäre Neunziger und Zwanzigzwanziger-Hyperpop zu versöhnen, als gäbe es keinen Morgen ohne Kopfschmerzen. Spaß und Reue in einem, schon vor der Party leicht melancholisch eingefärbt.
Ebenfalls maximal weit entfernt von allen angloamerikanischen Mainstream-Standards arbeitet die Portugiesin Ana Lua Caiano die sängerische Folklore ihrer Heimat in hibbelige, vollelektronische Tracks, die ungefähr das Gegenteil von World Music darstellen, wenn es denn je eine gab. Vou Ficar Neste Quadrado (Glitterbeat, 15. März) gelingt somit eine erstaunliche Synthese, die die höchst experimentelle Loop-Elektronik unmittelbar und handgemacht klingen lässt. Geloopt, geschichtet, verfremdet und zu quasi-archaischem, meta-folkoristischem Gruppengesang verdichtet – es ist immer die Stimme, die den Unterschied macht.
Dekadenübergreifende handgemachte elektronische Popmusik, die sich anfühlt, als wäre sie schon immer dagewesen, so etwas kommt besonders gerne aus dem Umfeld von The Notwist. Wenn jemand wie Marla Hansen, die durchaus auf eine bemerkenswerte eigene Karriere und einen Freundeskreis mit sehr etablierten Künstler:innen wie Sufjan Stevens oder Antony/Anohni zurückgreifen kann, sich zu diesem Zusammenhang hingezogen fühlt, bedeutet das schon etwas. Der seit einigen Jahren in Berlin lebenden Amerikanerin gelingt es auf Salt (Karaoke Kalk, 15. März) jedenfalls offenbar mühelos, sanfte Introversion in gediegenes Songwriting zu fügen, in sachte psychedelischen, noch sachter melancholischen semielektrischen Bratschen-Pop, zusätzlich veredelt durch die instrumentelle und produktionelle Hilfe des Berliner Briten Simon Goff und Notwist-Drummer Andi Haberl. Das ist tatsächlich Musik für alle, die eigentlich schon immer hätte da sein müssen, allein schon um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.
Was die in verschiedenen Ecken Kanadas lebenden Joseph Shabason, Nick Krgovich und Matt Sage anfassen, wird irgendwie immer zu Ambient, selbst wenn es Jazz ist, Indie-Folk, Post-Rock oder Art-Pop. Obwohl sie in verschiedenen Konstellationen schon zusammengearbeitet haben, ist Shabason, Krgovich, Sage (Idée Fixe, 5. April) ihr Debüt als Trio und ein Neustart als (sehr) ausgeruhte, (sehr) erwachsene, experimentelle Indie-AOR-Kombo, die Krgovichs Storytelling mit der sparsamen Elektronik Sages und der gelegentlichen Saxofonbegleitung Shabasons so selbstverständlich und passgenau zusammenbringt, als gäbe es sie schon seit Schulzeiten, seit gefühlten 35 Jahren. Als in Chicago, Louisville, Portland und anderswo ein paar junge Außenseiter dem Härter-schneller-lauter-Diktum der damals in den US-amerikanischen Provinzmetropolen obligaten Wütende-junge-Männer-Musiken Hardcore, Noiserock und Skate-Punk überdrüssig wurden und kurzerhand Post-Rock erfunden haben.
Der in der Bay Area Kaliforniens lebende Anthony Boruch-Comstock ist ebenfalls ein Kandidat, der machen kann, was er will, seine Musik wird immer auf eine gewisse Weise entspannt, verkehrsberuhigt. Seine Rockband Swanox praktiziert seit 15 Jahren in wechselnder Besetzung die Entschleunigung von Post-Rock. Das im definitiv ebenso entspannten Veröffentlichungsrhythmus fünfte AlbumRhodyrunner (Not Not Fun, 5. April) mäandert im Spaziergängertempo durch Wüstenrock und Alt-Country in aller gegebenen Leichtigkeit. Obwohl die Gitarren mal bratzen können, die Stimmung hin und wieder in mildes Noir kippt, sich davon aber immer schnell wieder erholt, bleibt Swanox’ Musik ohne jede Schwere, pure Sonnuntergang-Betrachtungsfreude.