Eine mindestens ebenso inspirierende Verschmelzung von traditionellem Ambient und dem Kraut der Berliner Schule folgt aus der prominenten Kollaboration des italienischen, in London arbeitenden World- und (Dark-)Ambient-Musikers Eraldo Bernocchi mit der der Berliner Violinistin Hoshiko Yamane. Deren semi-synthetische Streicherklänge verjüngen seit einigen Jahren die Kraut-Klassik von Tangerine Dream. Außerdem baut Yamane als Tukico spannende improvisierte Solo-Soundscapes. Mit Bernocchi schafft sie auf Sabi (Denovali, 15. Dezember 2023) ein schlüssiges Amalgam der dunkleren Seiten analoger Klangsynthese. Nichts daran ist wirklich neu, aber alles wirklich gut.
Um den frühwinterlichen Ambient ist es ebenfalls gut bestellt. Der enigmatische Däne Øjerum hat mit Your Soft Absence (Room40, 15. Dezember 2023) ein sogar für seine Verhältnisse ruhiges und minimal-warmes Drone-Album vorgelegt, für das das Adjektiv „subtil” schon eine Untertreibung wäre.
Nicht weniger subtil und doch nachdrücklich insistierend behauptet die EP Our Circadian (Melantónia, 24. November 2023) einen Platz und eine Zeit nur für sich. Die Kollaboration der Kopenhagen–Berliner Kollaboration von Sofie Birch und Grand River bleibt in der Form minimal, in den Sounds klein und delikat und schafft es doch, etwas Großes, eventuell Transzendentes anzudeuten, ohne es ausspielen zu müssen. Eine der fortgeschrittensten Kunstfertigkeiten, die in und durch Ambient möglich ist.
Klassischer Schwebe- und Fließ-Ambient in wärmsten herbstlichen Pastelltönen kommt regelmäßig in gesicherter Qualität von den Japanern Chie Otomi & Hirotaka Shirotsubaki. Das Zusammenspiel von Modularsynthesizer und E-Gitarre macht es in diesem Fall nur noch besser, wie auf dem Tape Season Of Wandering (Muzan Editions, 20. Oktober 2023) nachzuhören. Ein perfektes Werk feinster Textur.
Das Bersarin Quartett, Soloprojekt des Münsteraners Thomas Bücker, produziert seit 15 Jahren cineastisch üppigen Ambient mit schwermütigem Streichersentiment. Und entwickelt sich weiter. Was auf den durchnummerierten ersten drei Alben noch als Best-of der vorgestellten Sonnenuntergangs-Schlusstitel anmutete, ist auf Systeme (Denovali, 15. Dezember 2023) dunkler und rauer geworden, hat aber nichts von der brillanten Produktion und der süffigen Melancholie verloren. Diese hat allerdings mehr Außenleben und Textur wie Innenleben und Struktur erlangt. Ja, es gibt sie noch, die stählernen Streicher und zarttupfenden Pianisissimen, doch scheinen sie in einen elektroakustischen Raum eingepasst zu sein, der sich von klaustrophobischer Enge zu Cinemascope-breiter Weite öffnen kann, ohne dass es falsch oder kaputt wirkt. Dennoch bleiben in aller Süße und Größe der Klänge immer kleine, leicht bittere Irritationen. Was den Gesamtgeschmack gerade nicht verdirbt, sondern abrundet.
Glyn Maier wirkt und werkelt als Soundartist in einer Kleinstadt in Maine. Seine extrem skrupulös gebauten Soundscapes setzen sich zu einem großen Teil aus Field Recordings der umgebenden Natur zusammen, sind komprimierte Wanderungen durch interessante, pastorale, manchmal auch erhaben-schroffe Landschaften, die auf A Passage (Muzan Editions, 20. Oktober 2023) auch vor extremen Frequenzen nicht zurückschrecken, aber immer in der Domäne des Freundlichen bleiben.
Ebenfalls Field Recordings, Instrumente und mitternächtliche Radio-Zufälle in Collage-Ästhetik, kombiniert sich Phil Geraldi einmal das Frequenzband hoch und wieder runter. Hört und nimmt auf in einem Vintage-Autoradio in einer pferdestärkenüberdimensionierten Siebziger-Karre auf einer spärlich beleuchteten Schotterstraße im Mittleren Westen der USA. So stellt sich AM/FM USA (Not Not Fun, 5. Dezember 2023) jedenfalls vor, wie Analogradio-taugliche Americana jenseits des Country-Mainstream sich anhören könnte, ja sogar müsste.
Für das isländische Label Móatún 7 hat es Lorenzo Bracaloni geschafft, die Messlatte für modernen Ambient schon wieder ein kleines Stück höher zu schieben. Was er als Fallen auf dem Tape mit dem wunderbaren Titel All The Dreams We Forget are Tiny Flowers Burnt by the Endless Golden Flow of Time (Móatún 7, 23. September 2023) macht, ist jedenfalls eine stille Referenzgröße in melancholischem Sich-selbst-Verlieren in Sound. Und weil die Zeit und Inspiration und Produktivität einfach da sind, gibt es noch ein weiteres Album von Fallen zum zeitlosen wie unheimlich zeitgemäßen Thema Angst. The Lonely Home over Cypress Hill (Shimmering Moods, 8. Dezember 2023) ist ob der Schwere des Sujets allerdings keineswegs dunkler oder undurchschaubarer als Bracalonis andere Ambient-Werke. Im Gegenteil, die gleißende Schönheit der Sounds ist immer noch das entscheidende Moment, allein die brillanten Sounds wirken hier (etwas) fragmentierter, in Ruhe gelassen in ihrer Melancholie, aber nie allein, nie isoliert. Also ist auch dieses Album ein unmittelbarer Ausdruck von Hoffnung und Menschlichkeit.
Ewige Faszination Vogelstimmen. Nicht nur im Ambient, aber da eben besonders gerne, finden die Gesänge der gefiederten Freunde Eingang in die Musik (als Sound). Der entgegengesetzte Weg ist etwas weniger weit verbreitet, erfreut sich aber zunehmender Popularität unter experimentellen Musiker:innen und Sound-Art-Künstler:innen wie zum Beispiel Kate Carr. Von Hause aus eine der profiliertesten Spezialistinnen für Field Recordings in elektroakustischer Komposition, hat Carr für A Field Guide To Phantasmic Birds (Room40, 17. November 2023) ihr Spezialgebiet zugunsten vielvogelstimmiger Synthesizerexperimente verlassen. Ihre vorgestellten Vögel klingen nicht nur erstaunlich plausibel, ihre Stimmen machen durchgehend Freude, wie die echten eben.
Carr ist übrigens ebenfalls auf der tollen Compilation Synthetic Bird Music (Mappa, 7. November) des feinen slowakischen Tape-Labels Mappa vertreten. Dieses mehr als üppige Sammelalbum gibt einen perfekten Überblick, wohin sich die Elektroakustik in Zukunft entwickeln könnte und wie die experimentelle Raumkomposition interessant bleiben kann. Vogelstimmen sind immer ein guter Wegweiser.