Nicht nur bei Sandro Perri ist der Weg von Jazz zu Dub und World und absoluter oder relativer Freiheit ein ziemlich kurzer, vor allem wenn die Elemente durch elektronische Produktionsweisen zusammengehalten werden. Iggy Romeau aus Kansas City nennt sich als elektronischer Gitarren-Glitchmeister Mister Water Wet, und Cold Clay from the Middle West (Soda Gong, 14. November 2023) ist ein freundlicher Trip durch die seltsameren Dinge, die man mit dem Saiteninstrument, ein paar Effekten und einem Sequenzer so anstellen kann.
Die Gitarre nicht wirklich spielen können, es aber dennoch mit Verve tun und dadurch eigentlich noch viel besser werden, virtuoser als die Virtuosen, dazu im Geiste von Punk und Freiheit heraus Bossa Nova, Fusion und Jazz neu erfinden – es kann sich nur um Arto Lindsay handeln. Das vermutliche Vorbild so einiger Projekte, die in dieser Kolumne vorgestellt wurden, hat sich noch lange nicht zur Ruhe gesetzt. Soloprojekte sind allerdings selten in seiner 40-jährigen (Anti-)Karriere. So gilt es, I Had A Fever When (Edition DUR, 10. November 2023) angemessen zu feiern, zwei jeweils Vinyl-Album-Seiten-lange, freie Feedback-Improvisationen auf der E-Gitarre, mit gelegentlichem rhythmischen Geklapper – zwischen zartem Drone, freiem Noise, wubberndem Dub und Industrial-Gehämmer.
Was uns direkt zum industriell angerauten, aber stets rhythmisch geerdeten Neo-Dub der Berliner Driftmachine und ihres Glasgower Pendants Komodo Kolektif führt. Die Mitglieder beider Kombos sind seit Dekaden in Indie-Bands und elektronischen Projekten und jeweils in stilbildenden Labelzusammenhängen (Morr, Alien Transistor und Optimo) aktiv. Ihr Beitrag für die Split-LP Serie The Encyclopedia of Civilizations Vol. 5: Babylon (Abstrakce Records, 17. November 2023) des spanischen Labels Abstrakce lässt jedenfalls keine Wünsche offen. Raumfahrtutopie in langformatigen, dunkel-tribalen Post-Fourth-World-Stücken vom Charakter weitgehend spontan improvisierter Jam-Sessions, die ihre Fülle und Reichweite zur Gänze ausspielen dürfen.
Abgefahrene, aber freundliche mitternächtliche Dubs mit maximal psychedelischer Wirkung: Das anonyme, nach einer Echse benannte Projekt Tegu aus Florida baut auf Forest Hills (Not Not Fun, 5. Dezember 2023) imaginäre Landschaften und fantasierte Natur aus fiepender, wubbernder Analogelektronik. Dazu kommen üppig-satte und doch milde introvertierte Sounds. Tegu schafft es, ähnlich wie Labelkollege X.Y.R., eine mystisch dichte Atmosphäre zu erzeugen, ohne verschlossen oder enigmatisch zu agieren. Alles liegt offen da, Sounds und Produktion sind vollkommen transparent, und doch bleibt dieser gewisse Rest an Geheimnis.
Rauschend treibende Tribal-Sounds, bassiges Dröhnen nach Industrial und vor dem Ritual. Der peruanische Perkussionist und Komponist Manongo Mujica reflektiert eine imaginäre Folklore in einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges und übersetzt dessen wiederum hochreflektierten und spekulativen Text in klappernden Dark Ambient mit schwerem Industrial-Flair. Das Ritual sonoro para ruinas circulares (Buh Records, 3. November 2023) ist in jedem wohlgesetzten Sound so komplex und doch leichtverständlich wie Borges’ Prosa.
Kommen zu solch avanciertem Post-Industrial-Dub noch kolumbianische Folklore und tropicalistische Beats, sind wir bei Rizomagic angelangt. Der Producer aus Bogotá erfindet in Marimbitiaos (Disasters By Choice/Polen Records, 27. Oktober 2023) nicht zum ersten Mal eine hibbelige Glitch-Electronica, die klingt wie nichts anderes.
Braucht es einen Missing Link zwischen Post-Industrial, Power Electronics und zeitgenössischer Post-Club-Dekonstruktion? Falls ja, muss es die wohldurchdachte, maximal effektive Katharsis der japanischen Produzentin Yuko Araki sein, die noch immer an den Spätfolgen von Dub und Industrial laboriert. Auf IV (Room40, 27. Oktober 2023) bringt sie ihn aber in einen modernen Zustand und damit zu etwas, das jedem abenteuerlustigen DJ-Set gut stünde.