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Motherboard: Januar 2024

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Vielleicht ahnen es die einen oder anderen bereits: Diese Ausgabe des Motherboard beschränkt sich auf Veröffentlichungen, die im vergangenen Jahr gut und wichtig waren und doch irgendwie vergessen, verschoben, vernachlässigt wurden. Eine ordentliche Portion Dunkelheit und Jazz ins neue Jahr hinübergerettet hat erwartungsgemäß Jason Köhnen, dessen Sludge-Doom-Metal-Projekt mit Martina Horváth, The Answer Lies In The Black Void, nun nach Jahren endlich das Album Thou Shalt (Roadburn Records, 13. Oktober 2023) ausgebrütet hat, das bei Gruselmetal-Aficionados keine Wünsche offen lässt. Köhnens derzeitiges Hauptprojekt ist allerdings The Lovecraft Sextet, das auf The Horror Cosmic (Denovali, 27. November 2023) das Starren in den Abgrund in eine smooth perlende Form gefasst hat, die dabei ist, die etwas vorhersehbar agierende Konkurrenz auf dem Feld des Doom-Jazz – so rar sie sein mag – hinter sich zu lassen. Dabei darf man nicht vergessen, dass das Sextett ein Soloprojekt ist – Spur um Spur von Köhnen selbst eingespielt – und gerade in der Beschränkung deutlich effektiver und kreativer wirkt als seine Big-Band-Projekte.

Dmitry Globa, besser bekannt als Dmitry el-Demerdashi, ist ein Spezialist für moderne Archaik. In Projekten wie Phurpa hat er versucht, die vergessenen Schamanenklänge des vorbuddhistischen Tibet als Doom-Drone heraufzubeschwören. Im Trio mit Doom-Jazzer Jason Köhnen und der ungarischen Metal-Sängerin Martina Horváth war es eine imaginierte süd/osteuropäische Folklore, die zu neu-altem Leben erweckt wurde. Im jüngsten Projekt MASKxSOUL mit Sängerin Tatiana Selivanova transformiert sich vorgestellte russische Folklore in Trip-Hop, als wäre es die selbstverständlichste Kombination der Welt. Onegin (Denovali, 27. November 2023), eine Hommage an Alexander Pushkin und die russische Klassik, klingt wie Portishead in ihren melancholischsten Momenten. Außerdem: Selivanovas Stimme ist einfach groß.

Das Noir-Jazz-Kollektiv Aging aus Manchester agiert ebenfalls am dunklen Ende der Nacht, mit gelegentlicher Neon-Retro-Beleuchtung im untersten Doom- und BPM-Bereich. Für die Remix-LP Reworks (Rewoven) (Vaagner, 1. Dezember 2023) hat man sich allerdings von den traditionsbewusst akustischen Sounds weitgehend verabschiedet und ihre besten Stücke in die Hände von Ambient-Produzent:innen wie Laila Sakini, Dania und The Humble Bee gelegt, die den Aging-Sound eigen weiterentwickeln.

Gediegen rotgoldener Soundtrack-Sundowner in blauen Noten, stimmungsvoller instrumentaler Trip-Hop in großer Besetzung: die Norweger:innen von Jaga Jazzist haben vor genau 20 Jahren vorgelegt und auf ihrem im vergangenen Jahr wiederveröffentlichten zweiten Album The Stix (Ninja Tune, 15. September 2023) Pfade aufgezeigt, wohin sich ein elektronisch verstärkter Big-Band-Jazz entwickeln könnte. Letztlich sind sie aber ganz andere Wege gegangen. Das französische Quintett Notilus spann den Faden allerdings weiter und entwickelte mit seinem smoothen wie üppigen Sound neue elektronische Höhepunkte. Auf ihrem ebenfalls zweiten Album II (Denovali, 13. Oktober 2023) manifestiert sich dieser so perfekt, so sanft und dringlich wie nie.

J-Jazz mit ungefähr gleich starker Prägung durch Fourth World, New Age, Prog-Fusion und Kankyō Ongaku in einem Sound, der sich hundertprozentig nach heute anhört, das kann nur der Gitarrist Leo Takami aus Tokio. Und dabei dann noch unnachahmlich warm und freundlich klingen: auf Next Door (Unseen Worlds, 6. Oktober 2023) stellt sich das Wiedererkennen unmittelbar ein, gerade weil es ein Wiedererkennen von etwas ist, das es so eigentlich noch gar nicht gab. Ein Best-of der alten Achtziger und neuen Zwanziger des japanischen Outsider-Jazz.

Der Brite Kirk Barley arbeitet digital und elektronisch, mitunter sogar algorithmisch, seine Inspiration und sein Sound strahlen allerdings eindeutig die organische pastorale Wärme des britischen Psychedelic-Folk und der Ethno-Jazz-Postrock-Fusion etwa des Penguin Cafe Orchestra aus. Sein zweites Album Marionette (Odda Recordings, 24. November 2023) nähert sich dem Jazz seitwärts, schöpft aber (im Kleinen) immer aus dem Vollen. Das ist gerade in der elektronischen Herangehensweise und im feuchtwarm-moosigen Sounddesign nicht so weit von den Ideen des Kankyō Ongaku entfernt. 

Brian Allen Simon alias Anenon ist ebenfalls so ein inspirierter Außenseiter, der seinen L.A.-Noir-Jazz lieber frei und elektronisch gestaltet als traditionell. Auf Moons Melt Milk Light (Tonal Union, 17. November 2023) gesellt sich zu den gerne fein und frei quietschenden Saxophonen und Klarinetten als tragende Instrumente ein nicht weniger virtuos bedientes Piano. Alles sequenziert, krautmotorisiert für einen natriumdampflampenbeleuchteten Cruising-Trip auf den noch sonnenwarmen, abendlichen Highways Kaliforniens.

Der Kanadier Sandro Perri dürfte wohl als Dub-Techno-Exzentriker Polmo Polpo am bekanntesten sein. In der vergangenen Dekade hat er sich allerdings zunehmend dem (immer noch massiv elektronischen) Jazz zugewandt, mit gelegentlichen Kraut- und Postrock-Projekten dazwischen. Sein jüngstes und monolithisches wie freidenkerisches Jazz/World-Projekt Off World treibt die Eigenwilligkeit mit Gleichgesinnten auf 3 (Constellation, 3. November 2023) in neue Höhen. Das Album ist der vorläufige Abschluss einer konzeptuellen Trilogie, aber sicher nicht jener des Projekts, denn zu allen bisherigen Folgen gab es B-Seiten, Alternativ-Versionen und Dubs zuhauf.

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