burger
burger

Motherboard: September 2023

Auch im ungefähr 25. Jahr ihres Bestehens bleiben die Wiener (Anti?)-Extremisten von Radian ihrem glitchigen (Nicht?)-Postrock treu, heuer auf Distorted Rooms (Thrill Jockey, 22. September) noch mit zur Unkenntlichkeit verzerrten, aber gar nicht aggressiven Vocal-Fetzen angereichert. Nach all den Jahren ist es noch immer beeindruckend, mit welcher instrumentellen Kompetenz und Lässigkeit Martin Brandlmayr, Martin Siewert und John Norman ihre kopfschweren Konzepte in so federleichte, flirrende Sounds umsetzen. Intellekt und Körperlichkeit zusammenzubringen, darin waren sie von Beginn an gut, und es hat sich bis heute nicht geändert.

Bevor die synthetisierten Frequenzen zu Information werden, zu Musik gar, sind sie erst mal Signale. Unbestimmt, ungerichtet, ohne vorbestimmten Sinn oder Zweck. Entsprechend der Idee des „Schwarzen Strahlers” etwa, dieses in der klassischen Mechanik unerklärliche thermodynamische Phänomen, das Anfang des 20. Jahrhunderts dabei half, die Quantentheorie zu begründen. Andrew Blacks Projekt blackbody_radiation taucht tief in die Metapher ein, um auf Ultra-Materials (Faitiche, 8. September) langformatige Soundscapes zu kreieren, die unter anderem aus dem Prinzip der Maskierung von Frequenzen funktionieren. Also der Idee der Wegnahme durch Hinzufügen von Sound, Überlagerungseffekte, wie sie zum Beispiel in Noise-Cancelling-Kopfhörern verwendet werden. Dazu kommt noch die Nutzung von Raum-Feedback und anderen elektroakustischen Feinheiten. Klingt kompliziert, ist im Ergebnis aber verblüffend einfach und folgerichtig: höchst subtile Beinahe-Drones als Beinahe-Ambient.

Über Carl Stone ließen sich locker ganze Bücher schreiben, ein kleiner Kolumneneintrag wird der Tragweite des in den USA geborenen, aber seit Dekaden in Japan lebenden Computermusik-Pioniers kaum gerecht. Einen immerhin blitzlichthaft-aufscheinenden Einblick in seine Arbeit kann dagegen die epische Triple-LP Electronic Music from 1972-2022 (Unseen Worlds, 4. August) geben. Von den Anfängen in klassischer Elektroakustik zu der heutigen Collage-Ambient-Ästhetik, die mehr mit aktuellem Hyperpop und Club-Dekonstruktionen zu tun hat, als man eventuell glauben mag, ist es ein langer Weg gewesen, den mitzuverfolgen durchweg Freude bereitet.

Der Kalifornier Yann Novak ist ebenfalls ein Aktivist des kompliziert Gemachten und einfach aussehend Klingenden, das sich natürliche physikalische Phänomene, Licht und Klang zunutze macht, um subtil dramatische Soundscapes zu bauen, die ein kompliziertes queer-aktivistisches Leben reflektieren können, ohne je allzu offensichtlich werden zu müssen. The Voice of Theseus (Room40, 7. Juli) ist eventuell sogar sein reifstes und komplexestes Werk bisher, in der Weise, in der klangliche Phänomenologie, Wahrnehmung und ihre Hindernisse gegeneinander abgeglichen und mit dem antiken Mythos des Theseus verbunden werden.

Die berühmte Frage: Ist Theseus’ Schiff, welches im Laufe seiner Fahrt in allen Einzelteilen erneuert und ersetzt wurde, noch dasselbe Schiff, ist der menschliche Körper, der sich auf zellulärer Ebene ähnlich rapide erneuert, noch derselbe Körper, derselbe Mensch? Ganz schön viel Überbau, doch kein bisschen zu viel. Was vom Sound übrig bleibt, überzeugt nämlich durchwegs. Zumal unter manchen der neuen Stücke ein zarter, gerader Beat hervorlugt, der vielleicht noch mehr werden möchte. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt?

Den richtigen der Bibel entnommenen Namen für säkularen Sakral-Ambient hat Jeremiah M. Carter allemal. Auch Titel- und Cover-Ästhetik bedienen sich gerne christlicher Mystik, vom Sound mal ganz zu schweigen: kathedralischer Hall, Orgeln und himmlische Chöre in gleißend-jubilierende Drones gegossen. Nun jauchzet, es gibt gleich zwei neue Arbeiten von Carter, namentlich Vessels (A Sunken Mall, 7. August), abschließender Teil einer Trilogie neben Rejoice und Speak You Also, das ebendiesen Sound in Reinform zelebriert. Ein Altar aus Klang – für Atheisten und Agnostikerinnen ebenso geeignet wie für Gläubige aller Art. Und Saturnus (OST) (VAKNAR, 7. August), ein Soundtrack zu einem nie veröffentlichten Film, der dunkler agiert, in Noise und Gitarrenfeedback schwelgt.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

Rene Wise: „Wenn der Loop was taugt, darf er sich nicht ändern!”

Groove+ Rene Wise ist ein junger Techno-DJ, der Jeff Mills noch ernst nimmt und ein DJ-Set nicht als Sprint, sondern als Marathon begreift. Warum? Erklärt er im Porträt.

Berliner Clubarbeitenden Gewerkschaft: „Auch wir wollen eine Work-Life-Balance haben”

Die BCG veranstaltet zum Tag der Arbeit einen Demo-Rave, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Wir haben ihr gesprochen.

Felix Leibelt über Mark Spoon: „Das war kein gewöhnlicher Typ”

Wir wollten wissen, wie sich der Autor des Podcasts dem Mensch nähert, der wie kein anderer für die Ekstase und Exzesse Neunziger steht.