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April 2023: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Andrea – Due In Color (Ilian Tape)

Andrea ist nun schon seit über einem Jahrzehnt treues Mitglied der Ilian-Tape-Posse. Seine EPs und das Album Ritorno aus dem Jahr 2020 haben geholfen, den einzigartigen Stil des Labels zwischen Breakbeat und Techno mit zu definieren. Seine zweite LP Due In Color ist ein Versuch, die clubbigeren Seiten seines Schaffens mit den Ambient-Auswüchsen, die ebenfalls schon immer präsent waren, in Einklang zu bringen.

Das Album wurde während der Lockdown-Zeit produziert, als Clubs geschlossen waren. Trotzdem hört es sich so an, als wäre es für mächtige Soundsysteme gemacht worden. Der Subbass ist allgegenwärtig und kreiert die warme Grundstimmung, die man von Jungle kennt. Die Drums sind hier allerdings nicht im Vordergrund, sondern liefern lediglich den Rahmen für verträumte Pads und andere Texturen, die eine dichte, verschwommene Atmosphäre erzeugen. Der Spagat zwischen schwergewichtigem Bass und ätherischer Eleganz ist eine Kernessenz von Ilian Tape und wird auf dieser LP so deutlich wie kaum zuvor. Auch wenn einige Tracks durchaus Club-Potenzial aufweisen „(Remote Working”, „Silent Now”), liegt der Fokus doch klar auf den Downbeat- und Ambient-Tracks. Leopold Hutter

Avalon Emerson & The Charm – Avalon Emerson & The Charm (Another Dove)

Der Vorfall ist drei Jahre her und hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Auf ihren DJ-Kicks sang Avalon Emerson plötzlich. Avalon Emerson, DJ-Superstar, die so frei, so flexibel mixen konnte. Avalon Emerson, Electronica-Hoffnung, in deren instrumentalen Planschereien immer etwas sehr Spielerisches da war wie auch Distanz.

Jetzt singt sie wieder, im Rahmen des Projekts Avalon Emerson & The Charm, und zwar auf Albumlänge. Zwar sind The Charm keine klassische Band, immerhin jedoch eine Gruppe von Freund:innen, die gemeinsam in diversen Studios zwischen L.A. und den Hügeln und Seen des Bundesstaates New York jammen.

Emerson singt nun in jedem Stück, bis auf eine Ausnahme umgeht sie jedoch klassische Pop-Song-Aufbauten. „Dreamliner” passt als Beispiel. Denn hier swingt sanft eine Akustische durch den helllichten Klangraum, bisschen Sprechgesang, alles wie Laurie Anderson auf Ecstasy. Bis der Bruch kommt, ein Break, fast wie eine Volte der englischen Penguin Cafe Orchestra, ein komisches Preset-Piano mit Prog-Akkorden. Stört, bricht, sticht.

Und doch glitzert im von Bullion produzierten Album die Idee des Dream Pop, der sich gerne kindlich gibt. Es swingt und steppt im gelösten „Karaoke Song” wie auch im schüchternen „Entombed In Ice”. Bis „A Dam Will Always Divide” den Weg zur Feedback-Kuppel sucht, als hätte Avalon Emerson viel Lush und Ride und Drop Nineteens gehört. Der Höhepunkt auf einem an Höhepunkten reichen Album ist jedoch „Astrology Poisoning”, und somit die eine Ausnahme. Denn mit diesem Song zeigt Emerson, dass sie einen richtigen Pop-Hit schreiben kann, wenn sie möchte: Ohrwurm, zuckersüß. Christoph Braun

BoomBass – WWWIPE OUT (Lovesupreme)

„And I’ve listened to so much music since 1983, that my memory is like a record store” – ein Satz aus dem Pressetext zu diesem Album, der dessen Inhalt recht genau beschreibt. Hubert Blanc-Francard war eine Hälfte des stilbildenden französischen Producer-Duos Cassius (der andere, Philippe Olivier Cerboneschi, verstarb ja leider 2019), als BoomBass hat er seit 2000 bereits einige EPs veröffentlicht.

Nun also sein erstes Album unter diesem Pseudonym. Und wie der Eingangssatz bereits erahnen ließ, ist es bis zum Rand gefüllt mit Zitaten, Referenzen, mutierten Ideen. House, Hip-Hop, Breakbeat, Dub und Reggae, Techno und Acid, ein bisschen Ambient auch – produziert auf rudimentärem Equipment (ein Sampler für Beats, Rhythmus, und, klar, Samples, ein, höchstens zwei Keyboards für Akkorde und Melodien) in erstaunlich cinemaskopischer Breite. Musik, die Spaß macht, die glänzt wie ein Neon-Springbrunnen. Und gleichzeitig auch eine Art Liebesbrief an London: „When we first started DJing with Cassius, we were touring mostly in England, and I found by chance a series of samples from that time (…) It reminded me of my first trip to London with the school, in 1980. Ska and Reggae were coming out of the speakers of all the cool stores. The mixing of skins and cultures was much more present in London than in Paris. I came back overwhelmed: this city was full of music, and I fell in love with it on the ferry that brought us back to France.” Eine Liebe, die man bis heute hört. Tim Lorenz

Brutalismus 3000 – Ultrakunst (Live From Earth)

Theo Zeitner und Victoria Daldas, gemeinsam Brutalismus 3000, veröffentlichen nach etlichen sehr erfolgreichen EPs und Singles ihr erstes Album mit dem Titel Ultrakunst. Das Duo verlässt sich dabei auf das bisher funktionierende Erfolgsrezept: ein schneller, raviger Beat, auf den die verzerrte Frauenstimme von Daldas rhythmisch schreit. Bei der Produktion von Ultrakunst bedient sich das Duo nun vor allem an Elementen aus Trance und Eurodance. Der Gegenbass pumpt, die Synth-Lines werden gegatet, die Melodien sind für die Masse gut annehmbar und bleiben im Kopf – Ohrwurmpotenzial, zumindest für die Generation, die zwischen Trash und Ekstase ihr eigenes Coming of Age erlebt.

Zum ersten Mal veröffentlicht das Duo auch zwei Musikvideos. Während sich Brutalismus 3000 beim Track „JE N’EXISTE PAS” in einem minimalistischen Büro inszenieren und die spießige Ästhetik des gehypten Pariser Labels Jerry Horny aufgreifen, lungern die beiden mit Liebeskummer bei „DIE LIEBE KOMMT NICHT AUS BERLIN” etwas verloren in einer Berliner Kneipe herum. Mit Ultrakunst schreitet das Duo nicht wirklich auf neuen Wegen, eher auf dem zunehmend ausgelatschten, doch immer noch sehr erfolgreichen Trance-Trampelpfad. Vincent Frisch

Doline – Dompte-regard (Grid)

Gibt es einen gezähmten Blick? Für den Psychoanalytiker Jacques Lacan war das keine Frage. Gezähmt wird der Blick durch das Auge einerseits, durch Dinge wie Malerei andererseits und, auf heute übertragen, ebenso durch die digital allgegenwärtigen Bilder. Dompte-regard, nach Lacans Wendung für diese Zurichtung des Blicks gewählt, ist mithin kein schlechter Titel für ein Debütalbum. Doch der französische Produzent Maxime Prieur alias Doline benannte sein Soloprojekt schließlich auch nach der Bezeichnung für die geologische Formation des Karsttrichters, Doline eben.

Wäre alles nicht der Rede wert, wenn die Musik ihrerseits keine bemerkenswerten Charakteristika aufzuweisen hätte. Und Doline zeigt sich ebenso vielseitig wie höchst individuell in seiner Arbeit mit Klängen. Seien es verfremdete Field Recordings in „The Lobster ‘n’ The Bee” – oder sind das digital erzeugte Vogelstimmen? –, die gegenstrebigen, teils bis zur Unkenntlichkeit bearbeiteten Beats in „Mill The Pink Link”, über die sich gleich mehrere kreiselnde Melodien legen, die eine sanft klingelnd, die andere mit fanfarengleich scharfen Obertönen. Überhaupt hat Doline etwas treffsicher Verspieltes in seinen Melodien, sie wirken nie wie schmückender Zierrat, sondern fügen sich, ohne als Fremdkörper zu erscheinen, in das, was am Ende ein zurückgenommen verführerischer Groove ist. Manchmal sogar mit heftig dynamischem harmonischem Unterbau, so in „Great Expectations”. Blendend, schillernd, verwirrend. Tim Caspar Boehme

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