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Januar 2023: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Paleman – Veiled (Sublunar)

Wenn es ein positiv besetztes Blass gibt, hat es Paleman erfunden. Nichts in seiner Musik ist extrem, alles Krasse scheint aus seiner musikalischen Formel herausgekürzt zu sein, sowohl die heute produktionstechnisch machbare Hyper-Brillanz und übertriebene Sub-Frequenzen als auch jede Form allzu offensichtlicher Ausgelassenheit, Euphorie und Emotionalität. Dennoch findet sich all das wohl portioniert in seinen Tracks, es schreit eben nur nicht vergleichbar an wie bei einem großen Teil heutiger Veröffentlichungen.

Calum Lee, wie Paleman im echten Leben heißt, weiß sehr wohl, wie energetische Tracks komponiert und programmiert werden, wie abwechslungsreiche und hochinteressante Musik konzipiert wird. Und wie aus dem berühmten Weniger eben ein Mehr, auch an transportiertem Gefühl, werden kann. Es verwundert deswegen nicht, dass Lee im Pressetext zum Album davon spricht, dass sein Kompositionsprozess neben den offensichtlichen Parametern wie Rhythmus und Dynamik auch von „abstrakten Stimmungen und dem Wunsch nach greifbarem, tiefgründigem Sounddesign geprägt ist”. Dass dabei absolut clubtaugliche Musik entstehen konnte, die gleichzeitig funktional und experimentell, DJ-Anforderungen beachtend und frei ist, zeichnet den Mann aus Manchester besonders aus. This Pale is beautiful! Mathias Schaffhäuser

Poly Chain – Fairy Disco (Mystictrax)

Die Ukrainerin Sasha Zakrevska alias Poly Chain, die in der Vergangenheit auf dem Frankfurter Label Die Orakel und mit Nene H veröffentlichte, liefert auf Fairy Disco sechs solide Tracks von agil und lebendig bis paranoid und verschroben. Dabei verzichtet sie auf allzu gewollte Genre-Crossovers und zeitgeistige Larger-than-life-Synthlines, was aber keinesfalls bedeutet, dass es sich bei Fairy Disco um ein einseitiges Album handelt. Highlight ist mit „Wind Map” ein leichtfüßiger Track mit eindringlichen Flächen, einem stolpernden Backbeat und einem verspielten Synthesizer, der fordernd und harmonisch gleichzeitig ist. „Відлуння” ist ein bittersüßer Closer, der noch lange nach dem Verstummen der Lautsprecher emotional nachhallt. DJ Sacred und LUZ1E runden das Ganze ab und drücken zwei Tracks in ihren Remixes ihren eigenen, technoiden Stempel auf. Stabiles Futter für 140-BPM- und Synkopen-Fans. Sämtliche Einnahmen des Albums gehen an eine Wohltätigkeitsorganisation in der Ukraine. Christoph Umhau

Roy Of The Ravers – White Line Sunrise II.I (Le Roy Soleil) (Emotional Response) [Reissue]

Sam Buckley alias Roy Of the Ravers (der Name ist eine Verballhornung der titelgebenden Hauptfigur des britischen Fußballcomics Roy Of The Rovers), kann mittlerweile auf eine mehr als stattliche Diskografie zurückblicken. Seit 2010 veröffentlicht er Musik, Discogs zählt 20 Alben. Keine schlechte Bilanz. Der Sound ist dabei so abwechslungsreich wie seine Veröffentlichungen vielfältig, wandert mühelos von hypnotischem Acid House zu Aphex-Twin-artigem Braindance, von hartem Techno zu sanft-eleganter Electronica. Und auch vor cheesy Edits, freilich angereichert mit einer gehörigen Prise trockenem britischen Humor, schreckt Buckley nicht zurück, wie seine kürzlich veröffentlichte Breakbeat-Version von Enyas „Orinoco Flow” beweist.

Von derartigen Tongue-In-Check-Tunes ist er auf diesem Release, der Wiederveröffentlichung eines bereits 2019 erschienenen Albums, weit entfernt. Gewiss die Hälfte der Tracks bewegt sich im beatlosen Ambient-Bereich. Musik von epischer Schönheit, die in ihrer kontemplativen Art an beruhigende Sonnenauf- wie -untergänge denken lässt. Und auch der Rest der Stücke streift durch eher ruhige Gefilde. Mal schwingt das sonische Pendel mehr in Richtung Electronica, mal mehr in Richtung Kraftwerk in ihrer frühen, noch vom Krautrock inspirierten Phase.

So oder so ist das alles wunderbare Homelistening-Musik – Ambient und Kraut-Elektronik, die weit davon entfernt ist, in kitschige New-Age-Abgründe abzurutschen. Eine Reissue also, die sich allemal lohnt. Tim Lorenz

Tolouse Low Trax – Leave Me Alone (Bureau B)

Der Ex-Düsseldorfer und Salon-des-Amateurs-Resident und nun Wahlpariser Tolouse Low Trax hat auf seinem fünften Album 13 Tracks zusammengestellt. Sie haben meist eine gut überschaubare Länge von selten über drei Minuten und erwecken einen skizzenhaften Eindruck, bei dem es sich anbietet, die sparsame Dramaturgie der Stücke zu nutzen, um die verwendeten Klangkombinationen und Räume auf sich wirken zu lassen oder sich dem entstehenden Sog hinzugeben.

Tolouse Low Trax lässt eine hörbare Affinität zu den frühen, boundary pushing Tagen von IDM aus dem Vereinigten Königreich durchblicken. Deren Markenzeichen war die musikalische Kombinatorik scheinbar schwer zu vereinender Pole: hart-metallische Industrialklänge und weiche Bässe, Dub-Effektschleifen, rauschender White Noise und melancholische Detroit-Strings. Das lotete ungehemmt noch weitgehend ungehörte Klangkontraste aus. Diese spannende Kombination aus futuristischer Dystopie und warmen Dub-Elementen, oft mit Bleeps und Clonks verziert, findet sich auch in den vorliegenden Entwürfen wieder. Alle Stücke des Albums behalten einen perkussiven Charakter und vermeiden tonale Auswüchse, um sich mit Lust auf das Ausbalancieren außergewöhnlicher Soundkombinationen und die dafür verwendeten Räume zu stürzen.

Die 13 Stücke schichten in ihrer Dramaturgie eher unspektakulär und in mittlerem Tempo gemütlich Klangspur auf Klangspur, um zu anmutigen, rohen Skulpturen zu wachsen, die mit überraschenden Kontrasten, aber auch mit Ihrer Stimmigkeit elegant brillieren können. Persönlicher Anspieltipp ist „Bianca From Rome”, das mit maschinenhaftem Puls und episch gehaltener Bassline an grandiose Früh- und Mitte-Neunziger-UK-IDM-Atmosphären erinnert, diese aber noch präziser auf den Punkt bringt. Richard Zepezauer

Zoë Mc Pherson – Pitch Blender (SFX)

Ein zweistimmiges Glissando, das von einem Hooversound zu stammen scheint, sind die ersten nicht-perkussiven Klänge auf diesem Album mit dem passenden Titel Pitch Blender. Wobei als erste Assoziation pitch bender fast noch treffender sein könnte. Bei Zoë Mc Pherson sind in sich verschraubte Beats und schroffe Klänge eher das tägliche Brot als die Ausnahme, hier kommen kunstvoll verdrehte Frequenzen hinzu.

Auch diesmal stehen die Klangforschungsansätze im Dienste von durch repetitive Rhythmen hervorgerufenen Körperbewegungen, also Clubmusik, und auch diesmal geht die bei unvorbereitetem Hören eventuell einschüchternde Vorgehensweise Mc Phersons wunderbar auf. Die Ohren werden weniger aggressiv durchgescheuert als noch auf States of Fugue, die Einladung zum Tanzen geht aber erneut vor allem an die, die sich trauen. Als weiteres Instrument ist nach wie vor die Stimme Mc Phersons beteiligt, sie fügt sich in die übrigen Spuren, drängt sich selten nach vorn, bleibt ein weiteres expressives Element für komplexe Gefühlslagen unter vielen. Das Artifizielle der elektronischen Stimmen wiederum zeigt den Willen, das Material der Musik weiterzuentwickeln, ohne in Designselbstzweck abzudriften: Alles spricht zu einem, ob man es nun hören mag oder nicht. Tim Caspar Boehme

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