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September 2022: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Abstract Division – Midnight Ensemble (Dynamic Reflection)

Techno mit Traditionssinn. Das holländische DJ-Duo Abstract Division, bestehend aus Paul Roex und Dave Miller, ist seit rund 30 Jahren im Geschäft, mit Dynamic Reflection betreiben sie auch ihr eigenes Label. Ihre Erfahrung ist ihrem Debütalbum Midnight Ensemble allemal anzuhören. Die Produktionen sind ausgefeilt, gut abgehangen, lassen eine Verehrung für den Detroit-Sound ebenso wie für Trance oder Dub Techno erkennen.

In jedem Fall läuft der Motor rund, selbst da, wo ein eher eckiger Electro-Rhythmus als Beat dient. Statt Clubtools von ausgedehnter Spielzeit liefern sie Tracks, die maximal sechs Minuten dauern, manchmal aber schon nach drei Minuten alles gesagt haben. Die Zusammenstellung ist geschmackvoll, die Sounds sorgsam gestaltet, die Drumcomputer muten klassisch an. In einzelnen Fällen tragen ihre Ideen nicht unbedingt über die volle Länge einer Nummer, auf „Don’t Fall Asleep” etwa hat sich das titelgebende Sample ziemlich rasch erschöpft, läuft dann aber unbekümmert durch. Alles in allem eine zwar wenig innovative, dafür mit Gespür für den inneren Spannungsbogen konzipierte, solide Platte. Tim Caspar Boehme

Abstract Division – Midnight Ensemble

Albert van Abbe & Jochem Paap – General Audio (Avian)

Wie relevant sind die Geräte, mit denen elektronische Musik erschaffen wird? Diese Frage stellt sich immer wieder beim Besprechen neuer Veröffentlichungen. Oft heben Plattenfirmen in Werbetexten zu Alben das von den Künstler:innen benutzte Equipment hervor – vor allem alten Analogsynthesizern wird wohl zu Recht ein positiver Werbeeffekt bei nerdigen Fans zugetraut. Ich vermeide es jedoch fast immer, diese Informationen weiterzugeben, mir geht es um das Ergebnis, die Kunst, und nicht um Handwerkszeug.

Aber auch diese Haltung ist kein Dogma, hier kommt die Ausnahme: Albert van Abbe und Jochem Paap benutzten für General Audio als Klangerzeuger wirklich seltene, wenn nicht einzigartige Test- und Messgeräte aus den Fünfzigern, die ursprünglich für die Wartung von Audio- und Radiosendern entwickelt wurden. Und, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass dafür nicht das Equipment entscheidend war, das Ergebnis ist bemerkenswert, allein schon wegen seiner Radikalität.

Den sieben oft recht langen Stücken ist jede Anbiederung, jeder kalkulierte Schönklang fremd. Als im weitesten Sinne als Electronica beschreibbar, halten sie gehörigen Abstand sowohl zu Ambient als auch jeder Clubmusik. Die Tracks atmen den Geist purer Maschinenmusik, es pulsiert, wummert, zischt und zerrt an den Nerven, die das bedrohliche Gefühl weiterleiten, immer tiefer in einen unbestimmbaren, aber hochinteressanten Abgrund gezogen zu werden. Toll, dass Kunst so etwas leisten kann – egal, mit welchem Pinsel gemalt oder auf welchem Instrument gezupft. Mathias Schaffhäuser

Albert van Abbe & Jochem Paap

Authentically Plastic – Raw Space (Hakuna Kulala)

Authentically Plastic zündelt an Verstärkerkabeln. Wer sich schon mal einen Release auf Nyege Nyege oder Hakuna Kulala reingezogen hat, weiß: Das ist keine Übertreibung. Die Kampala-Crew schlittert seit Jahren mit Überdosis-Electronica auf Festivalbühnen. Authentically Plastic, das selbsternannte „free form femme fuckery”-Projekt, rüttelt mit seinem neuem Album nicht weniger an der Pillendose.

Raw Space klingt, als hätte man das Berghain an den Victoriasee verfrachtet. Oder jede Menge Raver-Stiefel über die Straßen von Downtown-Kampala stampfen lassen. Manchmal schwitzen wie auf „Spine Jolt” oder „Buul Okyelo” sogar Melodien mit. Ansonsten: Auspeitschungen aus angewandter Auf-die-Fresse-Akrobatik für Menschen, die zur Kumbaya-Kickdrum ihren Heiland finden. Klar, dass da irgendwas von „Chaos” im Begleittext steht. Authentically Plastic züchtet schließlich ein Album heran, für das Ritalin-Junkies um Substis betteln. Jeder Track ein Abriss. Jeder Abriss eine Freude! Christoph Benkeser

Authentically Plastic – Raw Space

Chris Korda – More Than Four (Chapelle XIV)

Du sollst dem Viervierteltakt nicht entsagen. So oder so ähnlich lautet das erste Gebot der Tanzsteintafeln, die Mose der Bibel nach auf dem Berg Sinai in Empfang nahm. Noch weitere neun Gebote folgen – die sparen wir uns aber mal. Der Vorsteher der Church Of Euthanasia, Chris Korda, wird sich bestimmt sehr freuen, diese (un-)biblische Referenz zu lesen. Sein neues Album More Than Four ist nämlich vom ketzerischen Versuch geprägt, gegen das erste Gebot zu verstoßen, wird jedoch an diesem Versuch scheitern. Chris Kordas öffentlicher Taktstatus lautet jedenfalls: Es ist kompliziert, dabei ist es doch eigentlich recht simpel.

In anderen Musikrichtungen ist die Taktvarianz gängige Norm. Auch und besonders innerhalb einzelner Stücke. Hier wird sich frei bewegt, die Zählart der Musik untergeordnet. Bei Techno bekanntlich undenkbar. Der Takt macht hier bekanntlich die Musik. Oder auch: if you can’t mix it, it is broke. Also alles andere besser mal sein lassen. Mit diesem Ansatz zu brechen, zeitweise in ziemlich radikaler Art und Weise, ist an sich nichts Revolutionäres.

Chris Korda nennt die Komponisten Terry Riley und Steve Reich als Referenzen, tut sich damit allerdings keinen Gefallen. Hört man nämlich More Than Four, wirkt das Album unnötig in die Länge gezogen. Das Taktexperiment mag zwar Spannung verheißen, täuscht aber Tiefe und Komplexität nur vor. Die miteinander kollidierenden, sich dann wieder voneinander lösenden Taktsignaturen, strapazieren leider zu schnell die Geduld der Zuhörer:innen. Statt wie Reich oder Riley anmutige Parabeln miteinander zu verweben, sind Chris Kordas Basteleien nur zittrige Funktionsgleichungen aus der Mittelstufe. Andreas Cevatli

Chris Korda – More Than Four

Das Ende der Liebe – Schne*e (Anunaki Tabla)

Eine Band, deren Name die Siebziger- mit den Achtzigerjahren verschränkt, verortet in Köln und Berlin: Gäbe es einen Aggregatzustand, der die Disposition von Das Ende der Liebe angemessen beschriebe, wäre es wohl das Dazwischensein. Auch wenn das Quartett mit den acht Tracks seines zweiten Albums ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten zwischen Dark Ambient, Elektroakustik, „Alien-Jazz” – so die Definition des eigenen Labels Anunaki Tabla – und Industrial auslotet, bleibt der Einfluss von Can auf „Schne*e“ im Ganzen doch unüberhörbar. Und ein Titel wie der des 13-minütigen Openers „Swansygamelan” ist natürlich gleichzeitig Programm. Auch Bands wie Throbbing Gristle oder Psychic TV scheinen Spuren im Soundverständnis von Das Ende der Liebe hinterlassen zu haben.

Allerdings handhaben Laurenz Gemmer (CP70), Kenn Hartwig (Bass), Thomas Sauerborn (Drums) und Andreas Völk (Voice/Effects) ihre Reflexionen und Meditationen über solcherart Referenzen in Echtzeit: Sowohl Improvisation als auch hypnotische Repetition gehören zu den Schlüsselfaktoren ihrer Musik. Dass man sich auf Aphex Twin, Maurice Ravel und Brad Mehldau gleichzeitig einigen kann, passt perfekt ins Bild. Mit Ingo Krauss haben Das Ende der Liebe erstmals einen externen Producer hinzugezogen, der in seinem Candy Bomber Studio in Berlin-Tempelhof bereits Kunden wie Caspar Brötzmann, Automat, Nick Cave, Moritz von Oswald oder die Einstürzenden Neubauten betreut und aufgenommen hat.

Die Spielzeit der aus den Sessions herausdestillierten Tracks variiert zwischen dreieinhalb und gut 17 Minuten (das epische, dreiteilige „Beweise”, gleichzeitig auch der am meisten in Richtung elektronische Tanzmusik ausgreifende Track), die Hallräume sind dunkel und von ungewisser Tiefe, die Atmosphäre ist vorwiegend zumindest angespannt, aufgeladen, lauernd und lastend, verdichtet und dräuend, wo nicht schon offen toxisch und bedrohlich. All das jedoch mit gewissermaßen minimalistischem Gestus präsentiert: reduziert, repetitiv, teilweise, vor allem die Stimmen, auch wie körperlos. Spannungsgeladener Soundtrack für Dystopien aller Art. Harry Schmidt

Das Ende der Liebe – Schne*e

Drexciya – Neptune’s Lair (Tresor) (Reissue)

Afrofuturismus: Dafür stehen seit More Brilliant Than the Sun von Kodwo Eshun neben afroamerikanischen Jazzlegenden wie Sun Ra auch die Technoproduzenten James Stinson und Gerald Donald alias Drexciya. Das Duo entwickelte historisch überlieferte Fakten der Afrodiaspora als textliche und sonische Fiktionen weiter. Mit ihren Unterwasser-Narrativen von einem Schwarzen Atlantis führten sie auch die Industrial-Jazzfunk-Disco-Roots der Achtziger-Proto-Techno-Geschichte im Electro-Gewand fort. So erschufen sie mit ihren Tracks in der tagtäglichen lebensfeindlichen Situation afroamerikanischer US-Bürger eskapistische Introspektion in Alternativwelten und Erinnerungskulturen.

Tracks wie „Habitat ‘O’ Negative” entführen mit schmatzig-bleepig-wässrigen SH101-Akward-Jazzfunkgrooves in großartig roh und glitzernd produzierte, deep-retrofuturistische Maschinenloops. Da schließt „Jazzy Fluids” direkt an und erinnert an die elektronischen Italo-Disco-Funk-Alben von Kasso aus frühen Achtzigern, während „Andreaen Sand Dunes” mit melancholischen Synthflächen und Reverbeffekten in göttlicher Endlosigkeit verschwommene Fata Morganen mit erfundenen Planetennamen verschränkt. „Oxyplasmic Gyration Beam” stampft als drexciyanischer Krieger mit Gummistiefeln durch den Ebbe-Strand-Morast und saugt diese Halluzination per Sci-Fi-Beamgeräusch zurück ins Meer. Tresor veröffentlicht nun zum 20. Todestag von James Stinson erneut Drexciyas erstes Album Neptune’s Lair mit acht Add-On-Tracks aus dem Katalog. Bis März 2023 stehen acht weitere Reissues von Soloarbeiten Stinsons an. Neun Must-Have-Schallplatten der Technogeschichte! Mirko Hecktor

Drexciya – Neptune's Lair

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