Azu Tiwaline – Vesta (I.O.T Records)
Mit jedem Release steigert sich Azu Tiwaline darin, Naturszenerien in Sound zu übersetzen. Auf bisherigen Veröffentlichungen finden sich Leere und Befremdung der tunesischen Sahara, Tiwalines Heimat, wieder. Die Abhandlungen zu organischem Material setzen sich auf ihrer aktuellen EP nahtlos fort. Vesta orientiert sich an einem gleichnamigen Meteoriten, dessen Splitter in der Sahara zu finden sind. Die fragmentarisch aneinander geklebten Klangelemente werden durch die Leere zwischen ihnen zusammengehalten.
Der Clou ist dabei, dass dieser für Tiwaline typische Sound, der mit Tröpfeln, Rascheln und Knirschen die vereinnahmende Tiefe der Wüste aufgreift, sich im Laufe einzelner Tracks wie „Medium Time” zu einem dichten Fluss wummernder Dub-Rhythmen und tiefgreifender Basslines verselbstständigt. Während man anfangs noch versucht, feinfühlig alle klanglichen Elemente zu erhaschen, überkommt im Laufe der Tracks die Wucht tanzbarer Rhythmen. Ein willkommener Umschwung, der die Kühle und den entzerrten Charakter von Tiwalines Produktionen nicht verliert. Louisa Neitz
Pariah – Caterpillar (Voam)
Auf Voam erschienen bisher vor allem EPs von Karenn, dem Projekt der beiden Labelbetreiber Blawan und Pariah. Als Gäste haben sich die beiden zusätzlich seit 2019 Peder Mannerfelt, Piska Power und Regina Leather mit ins Boot geholt. Grob skizziert siedeln die Releases in der Schnittmenge von Techno und Bass Music mit jeweils differierender Tendenz in die eine oder andere Richtung.
Mit Caterpillar erscheint nun die erste Solo-EP von Arthur Cayzer alias Pariah, und sie führt das konstant hohe künstlerische Niveau des Labels souverän fort. Cayzer verbindet darauf genial Leichtigkeit und Humor mit etwas Rebellischem, Ungezügeltem. Man hört den Spaß, den der Schotte beim Produzieren hat, man sieht ihn förmlich vor sich, wie er sich beim Schrauben an verschiedenen Controllern tänzerisch-lustvoll verrenkt. Und gleichzeitig schwingt eben auch eine engagierte Ernsthaftigkeit in dieser Musik mit, ein gesunder Zorn, eine weitere Evolutionsstufe von Punk und Fuck You. Apropos Humor: Der äußerte sich auch schon hinreißend vor zwei Jahren im Titel der damaligen Karenn-EP Music Sounds Better With Shoe. Right you are, mates! Mathias Schaffhäuser
Ruff Cherry – Phantom Fortress EP (Midgar)
Während in der Drum’n’Bass-Welt in den letzten Jahren Vocals und Jungle-Reminiszenzen wieder groß geschrieben wurden, ist der düstere Half-Time-Style der frühen 2010er Jahre leicht aus dem Fokus gerückt. Der irische Produzent Ruff Cherry, der seit 2013 alle paar Jahre mit einer starken 12-Inch um die Ecke kommt, füllt diese Nische jetzt gekonnt mit vier Tracks zwischen Subbass, Echolot und messerscharfen Drumbreaks.
Im Halftime-Tempo scheppern diese Breaks knüppelhart, doch mit viel Luft zum Atmen dazwischen, während die typischen, tieffrequenten Basswellen herumwabern und eine beklemmend-pochende Atmosphäre voll dunkler Figuren und Schatten schaffen.Das erstmals in den Neunzigern aufgekommene Ambiente dieser früher oft mit Sci-Fi-Elementen vermischten Breaks schlägt immer noch in eine stimmige Kerbe, die so gut kaum ein anderes Genre hinbekommen hat. Düsteres, urbanes Flair hoch zehn, vorgetragen in unbestechlich coolem Style. Beeindruckend vor allem auch deshalb, weil der Produzent Ruff Cherry bislang eher mit dubbigen Technonummern seine Lorbeeren eingeheimst hat. Dass er diese schwergewichtigen Stepper mit ähnlicher Leichtigkeit und Auf-den-Punkt-Genauigkeit abliefert, zeugt von einem gewaltigen kreativen Spektrum und lässt auf die nächsten Veröffentlichungen hoffen. Leopold Hutter
Skymark – Easy Saturday Night EP (n s y d e)
Nsyde: Das war Anfang bis Mitte der Zehnerjahre der Berliner Ort für detroitigen, kantig-groovigen, roughen Underground-House. Ab der ersten Stunde peitschten die Musikproduktionen von Daso (R.I.P.), Kevin Reynolds, Skymark, Reade Truth, Red Rack’em und anderen deep-sphärisch und geschmackvoll verspult in Richtung Second Floor. Die Produzent*innenauswahl verhalf dem Labelmacher RZ1 in kürzester Zeit zu einer Pannebar-Labelresidenz. Remixe kamen von Fred P oder Achterbahn D’Amour.
Nsyde kommt stark zurück. Zum einen hat Skymark alias Marc Friedli in den letzten zehn Jahren musikalisch einen Sprung nach vorne gemacht. Mike Huckaby remixte vor seinem frühen Tod im Jahre 2020 das maschinen-eckige, angenehm fließbandfunkartige Original „Easy Saturday Night” in Detroiter Disco-Conga-Rolltreppen-Technohouse-Attitüde. Stimmig folgt entspannter Gospel-NYC-Garage auf „Insomnia”. Halleluja! Der Satz „Jesus is your friend” fleht den Dancefloor nach Liebe an. Und Kevin Reynolds erinnert in den ersten 16 Takten Hallraum-Clap an „Sharevari” von A Number Of Names, biegt von der Landstraße auf die Joris-Voorn-Hellwach-Autobahn mit Nebelscheinwerfer-Synth ab und rast auf der Eins mit dem hellen Holz von Carl Craigs Album Landcruising durch den finsteren Wald. Gut verstaucht hinken kurz verhallte, verstimmte House-Bells kaputt-industriell an den Motor Citys und Kinderzimmern der Erde vorbei. Sie erinnern an die Generationen, die den Sound erfanden. Mirko Hecktor
Strapontin – Male Tears (Higher Hopes)
Gib der Kickdrum Platz zum Atmen, lass den Bass ein bisserl groovy sein! Strapontin, die Brüsseler Discokugel, funkelt – in einem Meer aus Männertränen. Ja, Cis-Dudes, ihr seid gemeint: Checkt mal eure straighten Privilegien, wenn ihr in euren Segelschuhen das nächste Mal durch die Masse tankt oder eure Nase in fremde Angelegenheiten steckt! Der Club ist kein Hotel, geheult wird nur auf XTC because toxische Männlichkeit, you know!
Strapontin, der Ehrenmann, reflektiert das auf Male Tears, seiner EP für Higher Hopes. Mit vier Kopfnickerbomben, die so klingen, als hätte man sich mitten auf dem Dancefloor drei Valium eingeschmissen und mit fünf Achterln Rotwein runtergespült, um sich in eine Zeitlupe zu verwandeln. Subjektive Wahrnehmung und so. Könnte also daran liegen, dass die Technowelt um einen herum urplötzlich schneller geworden ist. 110 Schläge in die Magengrube holen sich die Kids inzwischen auf TikTok zum Reingrooven. Die Aufmerksamkeitsspanne geht sowieso gegen null. Vielleicht will man deshalb die ganze Zeit am Pitch-Regler rumpfriemeln. 36 Grad und es wird noch heißer! Ballern! Floorwärts! Wer sich trotzdem Zeit nimmt – Geduld, du wunderbare Tugend – und die Dinger zur richtigen Zeit auflegt, schmuggelt nicht nur leiwande Basslines in den Club, sondern klöppelt das ewige Vier-auf-die-Vier-Getusche für sechseinhalb Minuten auf den patriarchalen Misthaufen. Christoph Benkeser