Aleksi Perälä – CYCLES 6 鳳凰 (AP Musik)
Obwohl er seine Miete von Brotjobs bezahlt, produziert Aleksi Perälä schneller, als wir alle hören können. Das hat vielleicht etwas mit der Mystik des Heiligen zu tun, mit der er seine Tunes beschreibt, seit er mitsamt dem ehemaligen Rephlex-Mitstreiter Grant Wilson-Claridge mit, oder besser auf, oder besser als Sprachrohr von Colundi produziert. Colundi könne heilen, er produziere nicht mehr selbst, sondern sei bloß das Gefäß für dafür. Diese tonale Stimmung löst für Perälä das westliche Oktavensystem ab.
Die Cycles 6 gehört zum Cycles-Zyklus von sieben Alben, die Perälä nun digital veröffentlicht. Sie zeigt das introspektive Moment im vielseitigen Schaffen des in seine Heimatstadt Lahti in Finnland zurückgekehrten Produzenten. Klangschalenartige Töne bleiben stehen, bewegen sich perlend über einen von ihnen selbst erschaffenen Hallraum oder erzeugen Kontexte für der Natur nachempfundene Verlautbarungen wie Vogelgezwitscher. Schon das Denken in Tracks ist hier Konvention; Perälä macht sich schon gar nicht mehr die Mühe, diese noch zu benennen, er nummeriert sie nur mehr durch. Sie eröffnen einen kristallinen Hörraum. Heilen ist ein großes Wort, doch klären können diese Tracks durchaus, sie machen den Bach bächerner und die Skaterrampe rampiger. Christoph Braun
Amotik – Patanjali (Amotik)
Amotik ist ein guter Mann, weil er weiß, wie man den Subbass behandelt, damit er unsere Gedanken auszieht. Jede einzelne Platte, die der Mann aus Berlin in den letzten sieben Jahren veröffentlichte – egal ob Breakbeat-Bumsen oder Bleep-Bleep-Bänger –, war ein 5-Sterne-Pauschalurlaub für die Beckenbodenmuskulatur. Außerdem hat Amotik mit seinem gleichnamigen Label eine Homebase nebst Ausflügen auf BPitch und Figure aufgebaut. Damit steht er auf eigenen Beinen, hat den Final Cut für alle Entscheidungen und kann einfach mal ein neues Album rauspfeffern.
Patanjali, sein zweiter Longplayer, macht trotzdem keine Faxen. Das Ding ist Techno für die Langstrecke. Man kann sich gut vorstellen, wie man vor Karlsruhe den Tesla auf die Autobahn lenkt und auf knackige 240 beschleunigt, während am Horizont die Sonne untergeht. That’s the mood! Ein Querschnitt zwischen der Deepness, die Anthony Linell mal in seinem Abdulla-Rashim-Projekt hatte, und dem technoiden Underground, der in den Neunzigern aus Motown sprudelte. Dazwischen stibitzt sich die ein oder andere Dub-Nummer. Synthesizer malen fleißig Flächen aus. Irgendwann wird’s deshalb zu bunt. Man packt die Axis aus und legt alles in Schutt und Usher. Boom! Christoph Benkeser
Andy Stott – The Slow Ribbon (Modern Love)
Die Reichhaltigkeit der Musik von Andy Stott hat ihre Wurzeln in der Reduktion, wenn nicht sogar Subtraktion: Das Tempo wird gedrosselt, der Raum verengt, die Höhen abgeschnitten. Seine Interpretationen der Rhythmen aus dem Bannkreis des Hardcore Continuum wirken meistens wie mit einem Stücke Kohle abgepauscht – mehr wie grob umrissene, zerfaserte, unebene Flecken als fein umrissene, definierte Strukturen. Das gilt insbesondere für The Slow Ribbon, einer Sammlung von Tracks aus den letzten drei Jahren, mit der Stott Spenden für humanitäre Zwecke sammeln wollte. Insofern handelt es sich um kein Album im strengen Sinne des Wortes, sondern eher eine Compilation von Demos, die eventuell sonst nie oder zumindest nicht in dieser Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden wären.
Die sieben Tracks sind mit Ausnahme des Titelstücks, einer unheimlichen Ambient-Ballade an letzter Stelle, konsequent durchnummeriert und überraschend homogen in ihrer Ausgestaltung: Stott arbeitet entlang sturen Four-to-the-Floor-Mustern, an den Blaupausen von House und Techno. Der Clou liegt in den Modulationen und Verschleppungen von bewährten Formeln. Schon der Opener schleppt sich mit aufreibender Langsamkeit dahin, und so geht es langsam und gemächlich weiter durch bisweilen verstolperte Dance-Music-Derivate, die daraus neuen Drive beziehen. „IV” lässt mit seiner bauchigen Bassline und verwirbelten Chords sogar an einen Hybrid von Amapiano und Dub Techno denken. Selten schien Stotts Entschleunigungsdogma radikaler durchexerziert als in diesen 40 Minuten. Kristoffer Cornils
Bogdan Raczynski – Addle (Planet Mu)
Die frühen Rephlex-Veröffentlichungen von Bogdan Raczynski schienen anarchischer noch als die vieler anderer Artists aus den Dunstkreisen der Braindance- und Breakcore-Bewegungen, an die er damit andockte und in denen er sich doch nie einnistete. Seit der aus Archivmaterial bestehenden Compilation Rave ‘Till You Cry auf Disciples und einigen verstreuten Releases im Kurzformat ist Addle für Planet Mu sein siebtes Album und als solches sein erstes seit 15 Jahren.
Raczynski hat nichts von der Energie eingebüßt, die programmatisch betitelten Alben wie Samurai Math Beats in jede ihrer unerwarteten Wendungen eingeschrieben war. Er bündelt sie nun allerdings effektiver. Addle ist in seiner mehr als ungewöhnlichen Diskografie wohl auch die sonderbarste seiner Veröffentlichungen – von einer Ruhe gekennzeichnet, die auf anderen Platten nicht einmal denkbar gewesen wäre.Die abrupten Wechsel in Tonalität und Rhythmus, die chaotisch durch den Mix polternden Breaks – all das ist selbstverständlich noch da. Nur tritt es in den Hintergrund, wird verlangsamt und bildet bisweilen nicht mehr als die Bühne für kauzige Melodien und sogar wortlosen Gesang, hier und dort tauchen sogar schnurgerade Grooves auf. Die Entschleunigungskur fällt umso wirkungsvoller aus, weil Raczynski die einzelnen Tracks durch den subtilen Einsatz von einander ähnelnden Klängen, Melodien oder Rhythmen miteinander verknüpft – dieses Album spielt stille Post. Die neugefundene Kohärenz, Raczynskis Konzessionen an Formstrenge sind deshalb nicht das Einzige, was Addle zu einem besonderen Album macht. Kristoffer Cornils
Charlotte Adigéry & Bolis Pupul – Topical Dancer (DEEWEE)
Charlotte Adigéry und ihr Musik-Kompagnon Bolis Pupul bilden den Kern von WWWater, einem gnadenbringenden Riot-R’n’B-Outfit. Nur zu zweit veröffentlichen die beiden nun ihr Debütalbum Topical Dancer, das von Soulwax (auch in WWWater involviert) produziert worden ist. Wo dort Selbstbehauptung und Stärke die Hashtags stellen, ist es unter den beiden Eigennamen das Zwinkern. Das Blinzelauge ist das Medium.
„Hallo, Charlotte”, hebt das Intro an, und wir hören zig Telefonbegrüßungen von der und für die Sängerin. In „Esperanto” thematisiert die Sängerin einen Haufen Zuschreibungen, denen sie weder zu- noch entgegenstimmen möchte. „Blenda” greift das thematisch auf und erzählt von den Mutmaßungen und rassistischen Aussagen, mit denen sich die junge, belgisch-afrokaribische Frau in ihrem Alltag konfrontiert sieht. Dabei singt Adigéry mit einem Spiel in der Stimme, sie zitiert die Dumpfies und macht gleichzeitig easy swingenden Electro-Pop daraus. Der Tracktitel „Making Sense Stop” etwa spielt an auf den poststrukturalistischen Titel unter den Konzertfilmen, nämlich Stop Making Sense der Talking Heads aus dem Jahr 1984. Quiekende Gitarren und manipulierte Stimmen steigen hier in ein Yellow Cab der beschworenen Dekade. Mit „HAHA” und seinen Lach-Variationen schafft das Album abermals einen Topic-Hit (hahaha), und „Thank You” beendet die Sammlung mit ausgebreiteten Armen. Erhebend. Christoph Braun
Curses – Incarnadine (Dischi Autunno)
Mit seinem Debütalbum Romantic Fiction auf Dischi Autunno hat der in New York aufgewachsene Wahlberliner Luca Venezia alias Curses für einiges Aufhorchen gesorgt: Die New- und Dark-Wave-Grundstimmung, aufgespannt in einem Feld zwischen Synth-Pop und Post-Punk, dazu verhallte Vocals und Sixties-Reverb-Gitarrensounds, all das traf den Retro-Nerv an unisolierten Stellen.
Sein zweites Album für Jennifer Cardinis Autorenlabel nimmt den Faden umstandslos auf: Straighter als John Maus, rockiger als Mount Sims zeigt sich Venezia mit den zehn Tracks auf Incarnadine (zu Deutsch: Inkarnat – Fleischfarben) dem Horizont des Albenformats einmal mehr gewachsen. Bewusst spielt Curses mit Echos von Sisters Of Mercys „Marian” im Opener „Miriam”, lässt in „Déjà-vu Inc” die Hook von „Axel F” anklingen. Auch die Bassläufe von Ben Airey tragen erheblich zum fleischigen Klangbild von Incarnadine bei, etwa im wie Einiges andere auch an The Cure erinnernden „Gretchen Bender”. Jennifer Touch ist im Siouxsie-Sioux-Modus in „Boundless”. Highlight ist der grandiose New-Beat-Tune „Bload Oath” – gewissermaßen ein nachgetragener Instant-Hit des Genres. Und mit „Ghost Of Arms” gelingt mit Terr am Mikrofon ganz beiläufig noch ein bezaubernd tintenblauer Popsong. Harry Schmidt
Dominik Eulberg – Avichrom (!K7)
Eulberg: Ein Name wie ein Auftrag. Der Ornithologe, DJ, Musiker und auch Gastwissenschaftler des Berliner Naturkundemuseums mit Dominik zum Vornamen widmet sich wieder seinen Tieren. Und zwar wie in den vorherigen Alben nicht direkt den naheliegenden Nachtaktiven mit den großen Augen und dem superdrehbaren Kopf, jedoch allen möglichen lustigen Vogelwesen des hiesigen Luftraums. Es wird also wieder gemiepst und gefiepst, dass sich die Schnäbel biegen.
Beginnend mit dem Schwarzhalstaucher, der kurz in einen düsteren Tümpel ein- und erfrischt wieder auftaucht. Was hat uns die Blaumeise zu erzählen? Sie spielt fröhlich auf ihrem Meisenkeyboard, klappert mit kleinen Cymbals und knabbert nebenbei frech am Knödel. Der Purpurreiher sitzt auf dem sanft schwingenden Telegraphenmast, die Sonne geht unter, Herr Reiher verliert sich im purpurnen Hintergrund und nickt sanft, aber tüchtig mit dem Kopf zum Technobeat. Die Meise flattert vorbei mit ihren Cymbal, die Intensität steigt. Als die Clap auf der Drei einsetzt, sind alle anderen Flatterer mit im Boot. Der Weißstorch taucht auf am Horizont, in seinem Sack traumhafte Melodien, die an Tycho erinnern. Als der Gelbspötter am Floor erscheint, spielt der Techno stumpf, und er singt darüber fröhlich seine Lieder, die einen der Höhepunkte der Aufnahmen ausmachen.
Der Goldregenpfeifer daneben erinnert an den schleppenden Sound von GAS, der Song aber mimt des Vogels Flugbahn: Aus dem Wald hinaus geht es bald Richtung Sonne, was dem Piepmatz hörbar gute Laune macht. Ziemlich bunt ist der Sound auf Avichrom, klar und verspielt. Das wilde Zwitschern der Tiere erscheint mal als Perkussion, mal als sanfte oder freche Keyboardmelodie. Unaufgeregte, heitere, erhebende Atmosphäre, stilsicherer Ambient Techno von der Vogelwarte. Lutz Vössing