Elsewhere XX (Kalahari Oyster Cult)
Tatsächlich ist dies bereits die sechste Compilation in DJ soFas Elsewhere-Reihe, die zweite, die auf Kalahari Oyster Cult erscheint (vorherige erschienen auf Music For Dreams, Emotional Response und Crevette Records). Und eine hochinteressante Zusammenstellung ist dies in der Tat. Bestehend aus Tracks von grösstenteils eher unbekannten Projekten, die der globetrottende belgische DJ bei seinen Auftritten rund um die Welt kennengelernt hat, findet sich hier krautrockiges neben DIY-Synthpunk und alt.Pop – alles jedoch stets gemischt mit kontemporärer elektronischer Tanzmusik. Und ja, gesungen – oder zumindest gesprochen – wird fast immer, stört aber in keinster Weise. Das Ergebnis ist dann meist eher düster, mal geht es eher in Richtung Trance, mal mehr in Richtung Ambient, mal mehr in Richtung psychedelischer Dance Music – bannt den Zuhörer jedoch immer an den Lautsprecher. Und klar, man könnte dazu auch tanzen – muss man aber nicht. Auf jeden Fall eine weitere Platte, die Kalahari Oyster Cults Ruf als hervorstehendes Label mit Mut zu Experimenten unterstreicht. Tim Lorenz
Radiant Love IWD Comp Vol. 3 (Radiant Love)
Es ist beruhigend, dass nukleare Drohgebärden kleiner weisser Männer vom Zusammenhalt zahlreicher Communitys überstrahlt werden können. Die Radiant-Love-Compilation, selbst ein Kind der Pandemie, ist so ein Fall. Zum ersten Mal 2020 erschienen – nämlich zur Feier des Weltfrauentags – kommt sie schon zum dritten Mal ganz weltoffen um die Ecke gefetzt und will Hörer*innen am liebsten gleich all ihre innovativen Breaks und hypermodernen House-Tracks um die Ohren hauen. Die ersten Worte der Konversation beginnt die Compilation allerdings mit Ruins „The Dive (D. Tiff Dip)” und tiefgehendem Spoken Word über einem ebenso fragilen wie reduziertem perkussivem Konstrukt.
„Sound touches the spaces inside me that need nourishment“, heißt es da. Wer diesen Satz nicht nachempfinden kann, ist wohl auch für die anderen Tracks nicht zugänglich. Die Kuration hält sich anfangs zurück, baut behutsam einen Spannungsbogen auf. Eine Reminiszenz einer nicht enden wollenden Cluberfahrung, wie man später feststellen wird. Das wavige „Closer“ von gem-K ist perfekt für die frühen Stunden einer Party, lässt es die Gäste wohlig angenehm schweben und über den noch halbleeren Floor trippen. Mit dem stilvollen Mäandern ist es aber spätestens bei Roza Terenzi und Hame Dj’s Kontribution vorbei. Classy Drum ‘n’ Bass-Anleihen drücken durch die Anlage und animieren zu exhibitionistischen Tänzen. Wolkige Synth-Layer und eine endlos hallende Stimme sorgen in dem Stück für positive Vibes. Wirkungsvolle Soundpräventionsstrategie gegen vereinsamendes Kopf runter und Zähne mahlen. Gleichzeitig Highlight und Abschluss der fünfzehn Tracks ist dann das wabbernde „Da Unz“ von Low Budget Aliens. Der Titel sagt eigentlich schon, was in diesem Stück passiert. Die Energie und Authentizität verblüfft einen dann dennoch. Epileptische Doubletime-Beats und Effektgewitter in perfekter Symbiose. Ganz genau so geht das. Auch erwähnenswert: wie schon die Jahre zuvor, gehen alle Erlöse dieser Compilation an diverse Hilfsprojekte. Als ob man noch einen weiteren Grund bräuchte, dieses Potpourri gut zu finden. Andreas Cevatli
Sampler/ Sampled: Mazen Kerbaj Trumpet Solo Vol. 3 (Morphine)
Wenn ein Musiker improvisierter Musik und Jazz zugeordnet wird und zudem Trompete spielt, entstehen unwillkürlich Erwartungen. Freunde jazzigen Wohlklangs, Miles Davis’scher Coolness oder Jon Hassels‘ ambienter Polyphonie sollten sich allerdings von all diesen Vorlieben frei machen, wenn sie sich auf die Musik des aus dem Libanon stammenden Klang-Künstlers Mazen Kerbaj einlassen wollen. Sein Trompeten-Spiel und seine Kompositionen erinnern eher – um einen Rahmen abzustecken – an experimentelle Jazzer wie die Posaunisten Radu Malfatti und Albert Mangelsdorff. Ähnlich wie bei ihnen ist hier das Stamminstrument als Klangerzeuger oft kaum zu identifizieren, Kerbaj schafft es, seine Trompete eher nach Synthesizer, Field Recording oder Schlaginstrument klingen zu lassen. Das erstaunliche klangliche Spektrum, das er seinem Horn zum Teil mit ganz eigenen Spieltechniken entlockt, kann auf der ersten, Sampler betitelten Platte bzw. CD dieses Doppelalbums erkundet werden – und zwar in unglaublichen 318 Stücken, die natürlich entsprechend kurz sind und maximal vierzig Sekunden dauern. Das Konzept der zweiten Platte ergibt sich aus dem Titel Sampled: Mazen Kerbaj stellte für die fünfzehn drauf enthaltenen Stücke verschiedenen Musiker*innen, die mit Loops und Samples arbeiten, sein Soundmaterial zur Verfügung mit der Vorgabe, alle Klänge der zu kreierenden Remixe nur aus dieser Quelle zu generieren. Das stilistische Spektrum der Remixe auf diesem zweiten Teil des Albums geht – natürlich geprägt von der musikalischen Herkunft der Künstler*innen – von noisig-freejazzig-freistrukturierten Stücken (Dieb, Marina Rosenfeld, DJ Sniff) über Drone (Rabih Beaini), Ambient (Bob Ostertag) und Post-Bass-Music (Deena Abdelwahed, Rrose) bis hin zu experimentellen und in positivem Sinne gefälligen Listening Tracks (Gavsborg, Fari Bradley). Dazwischen gibt es natürlich noch etliche andere Fusionen und Hybride, nur klar identifizierbare Clubmusik findet eher nicht statt. Technoiden Strukturen und dem, was größtenteils in diesem Magazin verhandelt wird, kommen die Tracks von Electric Indigo und Microhm noch am nächsten. Allerdings überschreitet bis auf eines keines der Stücke auf Sampled die Vierminutengrenze, typisches DJ-Futter stellt also keiner der Mixe dieser Compilation dar, und das war wohl auch Teil des Konzepts, das nur als extrem gelungen bezeichnet werden kann. Immer wieder erfrischend, daran teilzuhaben, wie inspirierend Klänge und das Sich-Austoben mit ihnen mit Hilfe von Samplertechnologie sein kann – sowohl für die beteiligten Musiker als auch fürs Gemüt der Hörer*in. Mathias Schaffhäuser
Sounds from the Iranian Ultraverse (Shaytoon)
Das Metaverse kann Mark gerne für sich behalten. Wer tatsächlich grenzenlose Immersion will, taucht lieber ins iranische Ultraverse von Shaytoon Records ein. Dessen Gründer, Sepehr, selbst bekannt für unkonventionelle Techno-Cuts – speziell für sein das Genre durchrüttelnde Album auf Dark Entries – versammelt in dieser Parallelwelt die Elite kontemporärer iranischer Experimental-Artists und Underground-Heads unter seinem Banner. Seine Intention: auf zehn Tracks kurz mal eben zeigen, wie lebendig und vor allem vielfältig deren klangliche Welten sind. Der supplementierende Gedanke, einen eigenen Safe Space für die Artists zu schaffen, die aufgrund der politischen Situation im Land Exilant*innen sind, ist ebenso thematisch passend und deep. Wer gerne über den westlichen Musikindustrie-Tellerrand schaut, entdeckt gleich die ersten Bekannten. Saint Abdullah, das sind die Brüder Mohammad und Mehdi Mehrabani-Yeganeh, welche die Geschichten ihrer iranischen Heimat mit schweren Dubs und Freeform-Jazz erzählen, tun dies besonders erfolgreich im Ultraverse. Ihr im langsamen Hip-Hop-Tempo angesiedeltes Stück „Lustre Ware“, wird von traditionellen Instrumenten untermalt. Die als Basis dienenden Drums ziehen einem mit ihrer Heftigkeit den Teppich unter den Füßen weg. Der mit L.I.E.S. verbandelte Voiski ist ein weiteres familiäres Gesicht. Analoge Drum Machines, mystische Flächen und hypnotische Bleeps prägen dessen „Nouvelle Vague“. Könnte auch von Dopplereffekt sein. Zurückhaltend, einfühlsam und tiefschürfend. Paramida, die als DJ und Produzentin derzeit verdientermaßen durch die Decke geht, spielt mit Trance-Elementen und UK-House-E-Piano-Pads. Die Deskription mag vielleicht nach Prä-Pandemie-Dance-Culture klingen, ihre technischen Allokationen und musikalische Erzählpraxis sind es allerdings nicht. Dieses gut sechsminütige Stück könnte der inoffizielle Titeltrack eines dritten Summer Of Loves werden. Das war aber nur die Spitze des Eisbergs, der irgendwo im Ultraverse-Meer treibt. Der Slow-Beat von Maral, der Köpfe zum explodieren bringen wird, oder Milad Ahmadis noisiges Filterabenteuer „Sick On Me“ können da locker mithalten. Eintauchen empfohlen. Andreas Cevatli
Various Artists 001 (On Loop)
DJ Moxie ist bekannt für ihre Geschmackssicherheit in einem breiten Spektrum von Clubmusik, das von Disco über House bis zu Techno reicht. Seit 2017 betreibt die Londonerin ihr eigenes Label On Loop. Die treffend betitelte Compilation Various Artists 001 ist ein Paradebeispiel für den eklektischen DJ-Stil Moxies, sie beginnt mit dem sanften Boogie von Space Ghost bevor Eris Drews Orgel-getriebener Vocaltrack die erste 4/4-Kick beisteuern darf. Noch elektronischer wird es mit bassig stampfendem House von Gallegos, auf den für Nicola Cruz ungewöhnlich acidlastiger Electro folgt. Olive T. aus New York läutet die zweite Hälfte der Compilation mit freudvollen, schweren Synthklängen im Housegewand ein und übergibt schließlich an den locker-flockigen Techhouse von Dowd. Der Nachtbraker nimmt das Tempo auf und fügt gekonnt melodische Arps hinzu, sodass der folgende dubbige Garage-Track von Triple Point einen willkommenen Entspannungsmoment kreiert. Zum Abschluss kommt noch Semtek (Gründer des UK-Labels Don’t Be Afraid) mit einer düster-atmosphärischen Chicago-House-Hommage daher.
So entsteht eine vielseitige Compilation, bei der vor allem auch eine gemixte Version von Moxie eine nette, passende Dreingabe gewesen wäre – wirkt diese Auswahl wie die Tracklist eines imaginären Sets der DJ. Das Flair eines Moxie-Mixes versprüht die Veröffentlichung sowieso – bloß die Aufgabe, es zu einem Set zusammenzubauen, bleibt uns selbst überlassen. Leopold Hutter
VV4 Visions: Of Love & Androids (Numero Group)
Immer wieder erstaunlich, das US-amerikanische Imprint Numero Group. Regelmäßig erscheinen beim 2003 gegründeten Reissue-Label Compilations und Künstler*innen-Alben, die das Prädikat Sammlerstück verdienen. Und das ohne stilistische Grenzen. Zu Anfang lag der Fokus auf seltenem Soul und R&B. Irgendwann kamen Psychedelic, Rock, Gospel, Folk, Disco, Synth-Pop, Ambient, Chiptune und Electronic hinzu. Heute deckt das Label und seine zahlreichen Subdivisions eigentlich alle Stile ab und veröffentlicht sogar relativ neue Musik wieder, wie im letzten Jahr das 2014er Album Overworld des australischen House-Produzenten Andrew Wilson aka Andras Fox. Nun hat Numero Group ein weiteres Mal große Detektivarbeit geleistet und stellt mit V4 Visions: Of Love & Androids einen essentiellen Sampler zum kurzweiligen britischen Label V4 Visions vor, dessen Geschichte in einem beiliegenden 16-seitigen Booklet detailliert aufgearbeitet wird.
Zwischen 1990 und 1994 veröffentlichte die Londoner Adresse Musik von Künstlern wie Ashaye, Rohan Delano und Projekten wie Endangered Species oder Jungle Biznizz. Jene waren von frühem Chicago-House, R&B, Lovers Rock und der jamaikanischen Soundsystemkultur beeinflusst und produzierten musikalische Dance-Hybride, die denen der Frühphase von Wild Bunch/ Massive Attack, Soul II Soul oder Shut Up and Dance nahestehen. Neunzehn zwischen Ragga-Techno, Jack-Swing-Beats, R&B, Deephouse sowie frühem Jungle, Trip Hop und Uk-Garage treibende Stücke, die schön romantisch Herzschmerz und Glamour verbreiten. Extrem träumerisches Material, total Soul, extravagant kitschig und genau deshalb immer noch absolut Camp. Michael Leuffen