Aquarian – Mutations I: Death, Taxes & Hanger (Dekmantel)
Dem gebürtigen Kanadier Aquarian hat es hörbar gut getan, New York den Rücken zugewandt zu haben und seine Musikerkarriere in Berlin fortzuführen. Nach seinem Langspieldebüt auf Bedouin, The Snake That Eats Itself, erscheint nun eine zweiteilige EP auf Dekmantel. Mutations I zeigt deutlich seine Entwicklung hin zu einem noch homogeneren, eigenen, unverkennbaren Sound.
War das Debüt zum Teil etwas sperrig zwischen Industrial Techno und Post-Industrial hin- und hermäandernd, mit einigen verspielten Break- und Ambient-Einsprengseln hie und da, klingt Mutations I weit mehr nach dem passenden, straighten, knackigen Sound für eine neue Dancefloor-Saison. Die Düsternis bleibt, erscheint aber in einer süßlich-melancholischen Weise mit Fokus auf Breakbeat und Drum’n’Bass. „Death, Taxes & Hanger” ist genau das, klingt dabei irgendwie nach 2000er-Videospiel, im guten Sinne, aquatisch – klar! – und mit schönen melodischen Electro-Einsprengseln. Auch „Rene Likes The Steak” beginnt mollig, führt an einen dunklen Nichtort, irgendwo vorbei am Riff in die Tiefe. Man kann sich dazu bewegen wie eine Wasserpflanze, ruhig und nur für sich selbst. „Sam Handwich” ist schon etwas humoriger und bounciger und gefühlsmäßig im Spektrum von lila-blau nach gelb-grün gewechselt. „Dead Whale” lässt vom Namen her Schlimmes vermuten, macht aber richtig Spaß. Mit vagen Drexciya-Vibes lässt es zum Ende hin ravey Didgeridoo-Erinnerungen aufleben. Lutz Vössing
Hassan Abou Alam – Fasla (Banoffee Pies)
Stell dir vor, du isst einen Kuchen und schmeckst alle Einzelteile. Eier, Mehl, Zucker und Wasser. Ob das fad oder interessant ist, liegt im Auge der Betrachter*in. So ähnlich klingt Hassan Abou Alams neue Platte Fasla. Im Cutting der Frequenzebenen ist diese 12-Inch durchaus entschieden und deshalb auch ein gewisser Gegenentwurf zur mystischen Klangverklärung der uralten Hi-Fi-Zeit. Aber will diese lupenrein frequenzseparierte Digitalproduktion eigentlich überhaupt noch Musik sein?
Auf der anderen Seite: Wie bekommt man in den 440Hz-Plugin-Presets der DAW diese Harmonieleere zwischen den Klanglayern hin („Hanshoof”)? Welche simulierten Räume hören wir da? Was passiert mit dieser Simulation auf einer Tanzfläche? Dann rappt SHBL-LBSH auch noch kantig über dekonstruierte Breakbeats („Kesibt”, „Fasla”). Der Bruch des Bruchs! Früher hieß das meta und wurde als Schimpfwort verwendet. Jedes Sample, jeder Synthesizer und damit die meisten Spielarten der Clubmusik waren immer Dekonstruktion und Rekonstruktion. Heute gibt es Deconstructed Club als Worthülse. Und dort ist Fasla leider am ehesten zu verorten.
Hassan Abou Alam lebt und arbeitet in Kairo. Elektronische Musik kann in konservativeren Gesellschaftsformen historisch gesehen ganz andere Demokratisierungspotenziale entfesseln. Und dafür ist die mikroskopartige Ausdifferenzierung von dicht nebeneinanderliegenden Stilformen und Produktionsmöglichkeiten vielleicht erst mal völlig irrelevant. Die Hauptsache ist nämlich eine polymorphe Gesellschaftsstiftung jenseits eines Status Quos. Mirko Hecktor
Henning Baer – Sui Generis (Pinkman)
Der Berliner Produzent Henning Baer begeht seinen Einstand beim Rotterdamer Label Pinkman mit einer Ladung feinsten Elektroschrotts. Bitte als Kompliment verstehen. Nervös zuckende, wie von Kurzschlüssen stoßbetriebene Drumcomputer geraten in Kollision mit ungesund verrußtem Bassgeröchel, während die darum herum geschmierten Akkorde aus synthetischen Giftmüllresten zusammengerührt zu sein scheinen. Mit anderen Worten: Die fünf Tracks auf Sui Generis sind eine geschmackvoll kaputte Angelegenheit mit allem, was das Herz begehrt: ungemütliche Klänge, neurotischer Groove und überhaupt reichlich aufgekratzte Rhythmen, um die eigene Verwirrung in die richtige Spur zu setzen. Tim Caspar Boehme
Jensen Interceptor & DJ Fuckoff – Club Angels (Dance Trax)
Politische Korrektheit mal kurz zur Seite stellen, den Beanie aufziehen und mitten auf dem Floor mit dem Headspinning beginnen. Die Stunde hat 909-Kicks, Breakdance und den Austausch von Körperflüssigkeiten geschlagen. Man kann ja auch so argumentieren, dass erst durch humoristische Auseinandersetzungen mit gewissen Thematiken, in diesem Fall mit sexueller Selbstbestimmung, Hedonismus und Feminismus, der eigentliche Heilungsprozess einsetzen kann.
Wer Jensen Interceptors Werdegang auch nur höchst rudimentär aufgesnifft hat, weiß natürlich, dass Electro-Ghetto a’la Dance Mania Records für ihn maßgeblich beeinflussend war, noch ist und wohl auch für alle Zeiten sein wird. Kannste beim semi-legalen Hinterhof-Buchmacher deines Vertrauens drauf Wetten abschließen. Fröhliches Scheine Zählen. Wer jedoch in die gleiche Ghetto-Tech-Kerbe schlagen will und als weißer Dude in Sweatpants und Nike-Tennissocken „Bend Over, Bitch” als legitime, nennen wir es mal Lyrics, beansprucht, muss aber 2022 noch etwas mehr bringen als seine authentischen Vorgänger*innen. Hier kommt DJ Fuckoff im Superheldinnen-Cape zur Rettung geflogen.
Die Soundcloud-Queen der Stunde, bekannt für nasty MC-Auftritte und sexuell-aufgeladene Clubtracks, liefert auf diesem Four-Tracker die vokale Performance, die dem Release über den Berg hilft. Denn auch wenn vokale Fetzen repetitiv genutzt werden – ein Salut an klassischen Chicago-Footwork und Electro-Tech – gibt sie ihre Stimme nicht nur als Snippet her, sondern verdreht gerade mit längeren Lines den Zuhörenden den Kopf. Das aphrodisierende Sexspiel, dreht sie in „Boy U Nasty” gar mal ganz um. Hier stellt sie nämlich klar, dass ihr Boy-Toy sich keine Chancen ausrechnen darf, bis er seinen Haushalt geregelt kriegt. Nachvollziehbar. Komm’ mal wieder klar, Bruder. Deshalb kann man bei Lines wie „your balls in my face, boy, do as you’re feeling” auch auflachen und sich als gänzlich untalentierter B-Boy auf dem Dancefloor zum Idioten machen. Die Beats der Platte sind glücklicherweise so maßlos gewaltig, dass das Publikum selbst mit kollektivem Twerken beschäftigt sein wird. Andreas Cevatli
Sylvere – EP2 (Monkeytown)
So langsame wie vielversprechend anschwellende Bassschwingungen kommen beim ersten Track entgegen, umhüllen, fesseln mit einem rudimentären Breakbeat ans Beatgerüst – und dann, wenn man ganz eingewoben ist ins Frequenzen-Netz, es kein Zurück mehr gibt, dann öffnet sich das Stück zu einem so kurzen wie gewaltigen Jungle-Gewitter. Auch sonst zieht der Pariser Produzent Sylvere auf seiner zweiten EP für Modeselektors Monkeytown all die richtigen Register.
Von abstrahiertem Dancehall beim zweiten Stück über brachiales Drummachine-Workout oder hypnotisierenden Sub-Sequenzen-Süppchen in den Folgetracks bis zum hyperenergetischen Ravehorn-Ausklang ist eines sicher: Bass ist das Hauptgewürz, das Sylvere uns hier auftischt, Soundsysteme sein Ofenherd und der Rave sein, na klar, Restaurant. Und wohlschmeckend, äh, wohlklingend ist sein nunmehr zweites Gericht allemal. Man kann nur hoffen, dass da noch mehr Gänge folgen werden. Tim Lorenz