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[REWIND2021] The Meaning Of Rave: „Das hat tatsächlich stattgefunden”

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Illustration: Dominika Huber

Festivals und Raves hatten seit Pandemiebeginn bekanntlich einen schweren Stand. Wie man es hinbekommt, sie mitten in der polnischen Einöde, doch mit hochkarätigem Line-Up trotzdem durchzuführen und dabei seine Mitarbeiter*innen und Besucher*innen in ähnlichem Maße zu entnerven und gefährden, lest ihr in diesem Text.

Im Zuge unseres Jahresrückblicks hat sich GROOVE-Redakteur Maximilian Fritz mit dem The Meaning Of Rave CAMP beschäftigt, das Anfang Juni dieses Jahres stattfand, und rekapituliert, was sich dort zugetragen hat.


Am 19. Mai dieses Jahres veröffentlicht der Instagram-Kanal des Labels, Kollektivs und – nicht zuletzt – Festivals The Meaning Of Rave ein Video von Cera Khin und Héctor Oaks, die von der Booth aus ein relativ dicht gedrängtes Publikum bespaßen. Oaks spielt Showteks Hardstyle-Hymne „FTS”, beide Künstler*innen scheinen sich an den Punkt der Nacht gepusht zu haben, an dem sie die Crowd kontrollieren.

Die Stimmung ist ekstatisch, was normalerweise kein Umstand wäre, der einer näheren Untersuchung bedürfte. Doch es ist Pandemie, noch immer, und laut Beschreibung stammt der Mitschnitt von einem 48-stündigen Rave im letzten Jahr – und wird nun genutzt, um eine (offiziell) 63-stündige Session zu bewerben, die Anfang Juni über die Bühne gehen soll.

Das wirft Fragen auf: Wer steckt hinter dem Festival? Wo kann derart ausgelassen gefeiert werden, wo doch in den allermeisten Ländern Restriktionen gelten, die Raves als vermeintliche Pandemietreiber illegalisieren? Und vor allem: Wie funktioniert das alles? Die Antworten darauf liefert Henrik, der sich im Mai dieses Jahres an die GROOVE-Redaktion wendet und dessen Namen wir für diesen Text geändert haben: Er selbst sei letztes Jahr vom 24. bis 26. Juli auf dem The Meaning Of Rave 48h x Las Palace im polnischen Chocicza gewesen. Inzwischen habe er aber große Skrupel deshalb, Familienmitglieder seien am Coronavirus verstorben. Es gelte, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was TMOR vorhabe.

Geplant sei, das TMOR CAMP 2021 unter dem Deckmantel eines Filmdrehs durchzuführen, um die Corona-Regeln zu umgehen und ein normales Festival gewährleisten zu können. Das funktionierte wohl unter gütiger Mithilfe der örtlichen Polizei: Wie eine andere Quelle aus dem Organisationsteam berichtet, sei diese mehr als einmal gekommen und habe nur darum gebeten, die Lautstärke zu drosseln. Es seien sogar Sätze gefallen wie „Lasst uns doch mit dem Papierkram und diesen Verträgen in Ruhe. Wir wissen, dass das hier eine Party und der Filmdreh nur Tarnung ist. Ihr seid nicht die Ersten, die so was machen. Macht einfach leiser, sonst brechen wir ab.”


„Die Ignoranz und Arroganz von der Veranstalterin machen mich unglaublich wütend”

Henrik

Auch das Las Palace 2020 wurde durch einen Winkelzug überhaupt erst ermöglicht: Eine Freundin von Henrik hatte von einem Rave in Polen erfahren, auf dem unter anderem Héctor Oaks und Cera Khin spielen sollten: „Das war in so einem alten Herrenhaus, nicht weit von Posen. Da waren so 100 Leute, total unverantwortlich, da hinzugehen. Aber es war eine impulsive Entscheidung.” Alle Gäste bekamen eine Einladung und ließen sich auf eine Liste eintragen, die Vertreter*innen des polnischen Gesundheitsministeriums kurz vor der Party präsentiert wurde. Der Clou: Der Rave wurde als Hochzeitsfeier ausgewiesen und damit zu einer legalen Feierlichkeit.

LAS PALACE Lineup
Das Line-Up des TMOR Las Palace 2020

Die Veranstaltung selbst sei schön gewesen, meint Henrik am Telefon. „Da wurde aber alles noch viel geheimer gehalten. Es war damals noch viel schwerer, in diese Facebook-Gruppe zu kommen.” Die Facebook-Gruppe, von der er spricht, fungiert für The Meaning Of Rave als Schaltzentrale. Von hier aus werden Merch angepriesen, Platten angekündigt und natürlich semiklandestine Partys koordiniert. „Die Ignoranz und Arroganz von der Veranstalterin machen mich unglaublich wütend”, lässt Henrik dazu verlauten.

Wie alles funktioniert

Die Veranstalterin und Labelchefin ist eine polnische DJ, die sich mit The Meaning Of Rave in einer beeindruckend kurzen Zeitspanne einen Namen gemacht hat und im Folgenden Jevgenija genannt wird. Seit 2018 existiert das Label, schon kurz darauf schmiss sie eigene Partys im Club SCHRON in Posen. Neben polnischen Nachwuchskünstler*innen und der Labelgründerin selbst, die auf den eigenen Line-Ups dauergastiert, traten dort auch hochprofilige Acts wie Héctor Oaks, Hadone oder Stephanie Sykes auf, Verbindungen bis in die Beletage des Kuttenträgertechnos waren also zügig etabliert.

Clubnächte in Polen sind für sich genommen natürlich keine kontroversen Bookings, als Hochzeit oder Filmdreh getarnte Raves während einer Pandemie hingegen schon. Was zu der Frage führt, wieso Künstler*innen mit internationaler Reputation diese annehmen. „Shlømø setzt alles aufs Spiel, nur um einmal wieder so einen Gig zu haben”, äußert sich Henrik ungläubig zur mutmaßlichen Verzweiflung von Künstler*innen in diesen Zeiten. Eine weitere Quelle berichtet gar, dass eine Agentur mit namhaften Techno-Künstler*innen sich bereit erklärte, im Vertrag Wörter wie „Promoter” zu „Filmproduzent” zu ändern. „Dort legen auch ganz viele Berliner DJs auf, zum Beispiel Tham von der SYNOID oder DJ Hyperdrive”, ergänzt Henrik. Cera Khin und Héctor Oaks „wurden dieses Jahr sicher auch gefragt, aber waren schlau genug, da nicht mehr aufzutreten”, mutmaßt er. 2020 sei alles noch „secret” abgelaufen. Instastorys seien verboten gewesen. Was wiederum die Frage aufwirft, wieso das eingangs erwähnte Video dann vom offiziellen Account auf Instagram geteilt wurde.

TMOR Lineup
Das Line-Up fürs TMOR CAMP 2021

Die Unverfrorenheit, mit der besonders das diesjährige TMOR CAMP präsentiert wird, kann sich Jevgenija nur erlauben, weil sie zur Umgehung der Restriktionen eine bemerkenswerte Kreativität an den Tag legt. In einem schriftlichen Interview aus dem Sommer, das neben der musikalischen Essenz von The Meaning Of Rave – „Ich würde sagen, die Hauptregel ist, über 140BPM zu bleiben, mit kraftvollen Kicks und rollender Percussion” – auch die beiden Raves bzw. Festivals fokussiert, erklärt sie zum Las Palace: „Wir mussten den Gesundheitsbehörden die Gästeliste zeigen und ein paar Fragen beantworten, bevor das Feuer begann.”

Zum TMOR CAMP aus dem vergangenen Sommer schrieb sie: „Das war ein Kurzfilmset für einen Film über das erste Festival nach der Pandemie, drei Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Haupthandlung findet zwischen Natalie, die für das Festival alleine aus Berlin anreiste, und Marianne, die aus Polen ist, statt. Alle Teilnehmenden waren Schauspieler oder Doubles, die einen Tag später als die anderen kamen. So hatten wir für jeden Tag ausgeruhte, frische Tänzer. Sie alle mussten einen Vertrag unterschreiben und ihre Zustimmung geben, gefilmt zu werden. Das polnische Gesetz erlaubt in der gegenwärtigen Pandemiesituation Filmdrehs. So wie auch in Berlin, wo der Kurzfilm der YFagency, mit der wir arbeiten, beginnt.”

The Meaning Of Rave Variante Blau
„Ich habe schon davor immer wieder Geschichten über Jevgenija gehört. Aber ich weiß auch, dass Leute Sachen aufgrund von Eifersucht behaupten. Ich arbeite in dieser Industrie schon seit über sieben Jahren und bilde mir lieber selbst eine Meinung.” (Illustration: Dominika Huber)

Henrik wiederum schenkt dem schon vor dem Festival keinen Glauben: „Letztens haben die auf Instagram so zwei Mädchen gepostet, die die Hauptdarstellerinnen sein werden. Ich weiß aber, dass das einfach nur Models sind, die gerne Feiern gehen. Die haben mit Schauspielerei nichts am Hut.” Der Vertrag, den Jevgenija anspricht und in dem Raver*innen temporär zu Schauspieler*innen mutieren, ist in der Facebook-Gruppe einsehbar und wirkt professionell aufgesetzt, nicht ohne Grund: „Sie hat sich für das Projekt einen Anwalt geholt”, sagt Ariana, die Jevgenija über einen Job bei einem renommierten Club kennengelernt und der jungen, unerfahrenen Organisatorin ihre Hilfe angeboten hat. Damian Badziag, ein polnischer Journalist, der ebenfalls zum Thema recherchierte, stellte die Verbindung her.

„Es war eine Erfahrung”, sagt sie und lacht zu Beginn unseres Zoom-Gesprächs mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Fatalismus. „Ich habe schon davor immer wieder Geschichten über Jevgenija gehört. Aber ich weiß auch, dass Leute Sachen aufgrund von Eifersucht behaupten. Ich arbeite in dieser Industrie schon seit über sieben Jahren und bilde mir lieber selbst eine Meinung.” Gesagt, getan. Ariana verlangt laut eigener Aussage kein Geld für ihre Mithilfe bei der Artist-Care, sondern macht den Job, um mit ihren Freund*innen eine gute Zeit zu haben.

Schrittweise Eskalation

Von Berlin aus reist sie zum TMOR CAMP, das offenbar nur nicht an Silvester 2020 stattfand, weil zu viele Acts aufgrund der extrem hohen Inzidenzwerte absagten, mitten in die Einöde. Drei Kilometer von der russischen Grenze entfernt, zwischen Frischer Nehrung und der Ostsee in einem 1300-Einwohner-Ort namens Krynica Morska, schlagen am 1. Juni Festival-Mitarbeiter*innen ihr Quartier auf. Das alte Ferienresort, das Jevgenija als Location ausgemacht hat, steht zwar, selbst die Chefin gibt aber im Interview zu, dass das Gelände „miserabel und verlassen aussah”, als sie es entdeckte.

Krynica Morska Open Street Map
Direkt am Wasser gelegen: Krynica Morska, der Schauplatz des TMOR CAMP 2021 (Screenshot: Open Street Map)

„Der erste Tag war eigentlich ganz nett, ich bin mit den Volunteers das Gelände abgegangen und habe mir einen Überblick verschafft”, schildert Ariana ihre zunächst positiven Eindrücke. Am zweiten Tag, dem Mittwoch, bereitet sie die Umschläge für Künstler*innen vor, kümmert sich schon mal um die Zug- bzw. Flugtickets, um sie nach der komplizierten Anreise zuverlässig nach Hause zu bringen. Am Donnerstag, den 3. Juni, geht schließlich das Festival los, ein Zugticket für die Heimreise eines Künstlers fehlt, eine Volunteer bezahlt spontan, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Als Jevgenija davon erfährt, ist sie sich sicher, dass das Versäumnis auf Arianas Kappe gehe: „Was zur Hölle machst du da eigentlich, Mädchen?”, schreibt sie ihr. Ab diesem Zeitpunkt sei der Kontakt schwierig geworden, in persönlichen Gesprächen wurde nicht auf den Konflikt eingegangen.

Situationen wie diese mögen sich so oder so ähnlich auf so ziemlich jedem Festival zutragen, in diesem Fall ist Jevgenijas passiv-aggressives Verhalten aber Vorbote gänzlich unüblicher Entwicklungen. Mehrere Quellen berichten übereinstimmend von Demütigungen, psychischer wie physischer Gewalt und desaströsen hygienischen Zuständen, die die Arbeit im Ballertechno-Ferienressort zur nervenaufreibenden Qual machen. Von einer zu geringen Belastbarkeit, die in der Festivalindustrie naturgemäß ein KO-Kriterium darstellt, kann dabei keine Rede sein, wie die Schilderungen im Folgenden verdeutlichen.


„Es fühlt sich an, als wäre ich dort zwei Jahre gewesen”

Ariana

Neben Ariana meldet sich noch die DJ M, die mit Jevgenija erstmals auf dem Las Palace ins Gespräch kommt. Sie war beeindruckt davon, was die junge Veranstalterin mit ihrem Label auf die Beine gestellt bekam. 2021 wurde M gar eingeladen, auf der zweiten Bühne zu spielen. „Das kam unerwartet, hat mich aber sehr gefreut, weil ich zuvor noch nie vor Publikum gespielt habe. Das war mein erstes Mal.” Dankbar für diese Gelegenheit bietet auch sie ihre Hilfe an und macht Artist-Care auf der zweiten Bühne. Sie verhandelt Gagen, legt Slots fest, der Job macht Spaß – allerdings nur bis zur Ankunft: „Weniger Spaß hat es ab dem Zeitpunkt gemacht, als ich dort ankam. Da herrschte das komplette Chaos. Die Volunteers wussten nicht, was sie machen sollten. Die hatten keine Müllbeutel, keine Handschuhe, um die Toiletten sauber zu machen. Es gab nichts.”

Nicht nur die Bediensteten sollten an den hygienischen Zuständen leiden, auch die Besucher*innen, die im Zuge ihrer Rollen am Filmset zwischen einem Schlafplatz im Zelt oder einer Unterkunft in einem der alten Ferienhäuser entscheiden konnten, wurden vor Probleme gestellt. „In manchen Zimmern lagen tote Fledermäuse, überall waren Käfer. Den Mittwoch haben wir teilweise damit verbracht, tote Tiere aus den Häusern zu entfernen”, meint M. Die ersten der etwa 450 Gäste, für die es laut Ms Aussage zwei Toiletten und zwei Duschen gab, die maroden Sanitäranlagen in den Behausungen nicht mit eingerechnet, kamen bereits an besagtem Mittwoch, wurden in Häusern voller Spinnen und Zecken untergebracht. Auch unter den Laken befand sich totes Ungeziefer, Wechselsachen gab es nicht, die Leute schliefen trotzdem dort.

The Meaning Of Rave Variante Gelb
„In manchen Zimmern lagen tote Fledermäuse, überall waren Käfer. Den Mittwoch haben wir teilweise damit verbracht, tote Tiere aus den Häusern zu entfernen” (Illustration: Dominika Huber)

Für Ariana und M, die vor Ort arbeiteten, war an Schlaf hingegen kaum zu denken. Entweder weil ihnen schlicht kein Quartier zur Verfügung stand, oder weil sie so sehr auf Achse gehalten wurden, dass Erholung auf der Prioliste zur Randnotiz verkam. Beide arbeiteten quasi rund um die Uhr, mehrtägige Schichten oder nach kurzen Pausen aus dem Schlaf gerissen zu werden standen an der Tages- und Nachtordnung. „Es fühlt sich an, als wäre ich dort zwei Jahre gewesen”, beschreibt Ariana die sektenähnliche Stimmung, die sich mit fortlaufender Dauer intensivierte: „Wenn du dort wegwolltest, zum Beispiel, um Hygieneprodukte zu holen, hat das Stunden gedauert, weil sie dich nicht gehen ließ. Wir waren so erschöpft vor lauter Schlafentzug, dass wir uns nur noch leer angeschaut haben.”

TMOR CAMP DANCE Schwarz weiss
Ein temporäres Wurmloch aus der Pandemie für glückliche Besucher*innen: Das TMOR CAMP 2021

Die Vorwürfe an Jevgenija enden nicht bei psychischer Gewaltausübung und manipulativem Verhalten. Laut M, Ariana und zweier Mitarbeiter*innen, die nach der Kontaktaufnahme ihre Geschichte schriftlich schildern, habe die Organisatorin ihren Argumenten mit Gewalt Nachdruck verliehen: „Sie hat eine Mitorganisatorin geschlagen, um sie auf Linie zu bringen. Sie hat die ganze Zeit Leute angeschrien, Türen geknallt, erwartet, dass Leute ohne die geringste Pause rund um die Uhr arbeiten. Es ist ein einziges Drama mit ihr”, erzählt Ariana. M bestätigt das und erinnert sich zudem noch an einen Hieb mit einer Krücke, den eine Mitarbeiterin über sich ergehen lassen musste. Jevgenija selbst scheint während des Festivals nämlich Knieprobleme gehabt zu haben, weswegen sie sich vorrangig auf Tätigkeiten beschränkte, die sie im Sitzen ausüben konnte.

Überrumpelte Sanitäter, darbende Mitarbeiter*innen

Auch in diesem Fall sahen sich die Besucher*innen gleichermaßen einer beispiellosen Rücksichtslosigkeit ausgesetzt. Neben dem bereits erwähnten sanitären Desaster war laut Zeugenaussagen das Leben einer jungen Frau ernsthaft in Gefahr. Sie hatte überdosiert und befand sich in kritischem Zustand. Jevgenija habe die Ersthelfer*innen und Sanitäter angewiesen, die Person vom Festivalgelände zu bringen, damit der Vorfall nicht auf die Veranstaltung zurückfalle. „Das ist schlicht eine Geringschätzung eines menschlichen Lebens. Du kannst Scheiße bauen, aber in diesem Fall hat sie mit dem Leben einer Person gespielt”, resümiert M.

Die Situation überrumpelte die beiden Sanitäter, die das gesamte Festival abdecken sollten, völlig. Das ist nicht weiter verwunderlich: Jevgenija teilte ihnen mit, sie würden für einen tatsächlichen Filmdreh angeheuert. „Logischerweise haben die nicht erwartet, rund um die Uhr arbeiten zu müssen. Meine Begleitung und ich mussten ihnen unser Zimmer geben, weil sie keines hatten”, schildert M und zeigt damit, wie die verschiedenen Problemherde, die Jevgenija zu verantworten hatte, ineinandergriffen. „Sie hat nicht nur ihre Gäste in Gefahr gebracht, sondern auch diejenigen, die für sie gearbeitet haben. Ich musste mich die ganze Zeit um irgendwas kümmern und habe von Donnerstag bis Montagmorgen sechs Stunden geschlafen”, äußert Ariana. Weder beim Las Palace noch beim TMOR Camp seien Masken getragen worden, obwohl diese immerhin ausgehändigt wurden. Nur diejenigen, die sich für die Einreise nach Polen testen lassen mussten, hätten das auch garantiert gemacht, stimmen Ariana, Henrik und M überein.


„Ich würde mich gerne noch an mein Set erinnern, den Rest aber gerne vergessen”

M

Wie bei jedem Festival, das unter zweifelhafter Führung stattfindet, geht es auch bei The Meaning Of Rave nicht unwesentlich ums Geld. Verschiedenste Rechnungen bleiben offen, für die Szene übliche mündliche Vereinbarungen werden nicht eingehalten. Auch das zieht sich durch die diversen Tätigkeitsfelder: Volunteers bekamen ihre Auslagen nicht ersetzt, sondern wurden für ihre Arbeit geringgeschätzt. Personen, die für Catering oder das Soundsystem zuständig waren, wurden nur teilweise bezahlt, Künstler*innen hingegen mussten kaum um ihre Gage kämpfen. Es verfestigt sich der Eindruck, dass Jevgenija das Risiko, das mit dem Verprellen von Einzelpersonen einhergeht, genau abzuwägen weiß. „Leute, die nicht hoch in der Hackordnung standen, hatten es schwer. Wenn du Volunteer oder Barkeeper warst, warst du nicht wichtig genug für sie, um dir ihre Aufmerksamkeit zu schenken,” meint M dazu.


„Der Witz ist nur: Das [Festival] hat tatsächlich stattgefunden”

Ariana

Den Besucher*innen fällt nicht zwingend auf, was hinter den Kulissen vor sich geht. Abgesehen von Kollateralschäden wie maroden Unterkünften, überlasteten Sanitäranlagen und ungenügend ausgestatten Essständen verbringen viele der anwesenden Raver*innen, gut ein Fünftel davon polnisch, die Hälfte deutsch und der Rest aus verschiedensten europäischen Ländern, eine gute Zeit in Krynica Morska. So gut, dass Henrik nach dem Festival berichtet, dass keine*r seiner Freund*innen bereit sei, gegenüber der GROOVE etwas über die letzten Tage preiszugeben. Zu schön sei es gewesen, die Dankbarkeit gegenüber Jevgenija für ein ekstatisches Wurmloch inmitten der Pandemie schlicht zu groß.

TMOR Rave 2
Gesichtslos, aber bester Laune: Ein Tänzer auf dem TMOR CAMP 2021

Erst nach und nach machen Infos die Runde, die The Meaning Of Rave in ein fragwürdiges Licht rücken. Regelrechte Selbsthilfegruppen werden gegründet, Beteiligte geben ihre Geschichten aus Angst vor Repressalien im Anonymen weiter. Damian Badziag kontaktiert diverse von ihnen und verwebt ihre Schilderungen zu einem gigantomanischen Artikel, der auf der polnischen Plattform muno erscheint. Die englische Version, die der GROOVE-Redaktion vorliegt, bestätigt einmal mehr, was sich vom polnischen Original bereits anhand der zahlreichen Screenshots ableiten lässt: Auf dem TMOR CAMP 21 ereigneten sich in der Tat so viele Vorfälle auf so vielen Baustellen, dass sie den Rahmen dieses Artikels bei Weitem sprengen.

Das illustrieren Ms und Arianas Resümees zum Ende des Festivals beispielhaft. „Ich wollte noch nie so dringend ein Festival verlassen wie dieses. Ich würde mich gerne noch an mein Set erinnern, den Rest aber gerne vergessen”, meint Erstere. Die Afterparty am Sonntag sei ausgefallen, weil das Stromaggregat den Geist aufgegeben habe. Diejenigen, die noch da waren, saßen musikalisch auf dem Trockenen. Ariana tritt ihre Rückreise am 7. Juni, einen Tag nach dem offiziellen Ende des Festivals, an. Weil ihr Shuttle zum Bahnhof sich eklatant verspätet, verpasst sie ihren Zug und wendet sich daraufhin an Jevgenija. Die lässt von ihrer Co-Organisatorin ausrichten, dass es ihr nicht egaler sein könnte, wie und ob Ariana nach Hause kommt. Verzweifelt nimmt diese deshalb 640 Euro für einen Flug nach Berlin in die Hand und fälscht ihren Coronatest, um die Heimreise antreten zu können.

Für den 27. November hatte Jevgenija die nächste Veranstaltung geplant, einen großangelegten Warehouse-Rave in Posen, der „aufgrund unvorhergesehener Umstände” abgesagt werden musste. Anfang Februar erscheint auf The Meaning Of Rave eine Various-Artist-EP, Label und Veranstaltungen laufen scheinbar unbeirrt weiter. Ariana immerhin hat ihr Lachen mit etwas Abstand wiedergefunden und vergleicht das TMOR Camp zum Abschluss unseres Gesprächs mit dem FYRE Festival. „Der Witz ist nur: Das hat tatsächlich stattgefunden”.

Jevgenijas Sicht der Dinge

Jevgenija führt, nachdem sie erfährt, dass dieser Artikel beide Festivals womöglich in kein gutes Licht rücken wird, ihrerseits Gegendarstellungen und -argumente an. In einem PDF mit dem vielsagenden Titel „N. _overdosed girl_” äußert sich angeblich die junge Frau, die auf dem TMOR Camp notärztlich versorgt werden musste. Ihre Identität müsse „unter allen Umständen” geheim bleiben. Sie habe keine Überdosis gehabt, sondern sei klaustrophobisch, weshalb ihr die Menschentraube um sie schwer zusetzte. Nachdem alles überstanden war und ihr Partner und Jevgenija ihr geholfen hätten, sei sie mit beiden gar noch essen gegangen. Exzerpt: „Ich ging auf eigenen Beinen mit Jevgenija und meinem Partner zum Krankenwagen. Als wir dort ankamen, hatte ich Hunger. Sie bestellte Pizza für mich und brachte sie zum Krankenwagen, dann haben wir alle uns das Essen geteilt!” Später: „Ich war glücklich und fühlte mich sicher während des Camps. Ich habe Jevgenija als Dank dafür, dass sie das Camp kuratiert hat, einen handbemalten Anglerhut geschenkt.”

Niemand aus der Crew, von den Funktion-One-Technikern, den Barkeeper*innen, möglicherweise auch den Sanitätern war laut Jevgenijas Angaben nüchtern, schließlich war das die erste wirkliche Möglichkeit seit Monaten, eine richtige Party zu feiern. Außer ihr hätte niemand aufgepasst, jemand hätte ja ansprechbar sein müssen, wenn die Polizei kommt oder Lärmbeschwerden eingehen.


„Ich habe beide Events aus Liebe zum Underground veranstaltet. (…) Wegen der falschen Anschuldigungen ist mein ganzes Leben kompliziert geworden.”

Jevgenija

Probleme mit den Unterkünften habe es vor allem gegeben, weil in Polen Pfingstferien waren. Im direkten Umkreis sei deshalb vieles ausgebucht gewesen, manche Hotels hätten lieber Schulkinder untergebracht als die Künstler*innen des Festivals. Jevgenija sei sich bewusst, dass sie beschuldigt werde, Leute betrogen zu haben. Tatsächlich sei sie es aber, die um Geld gebracht wurde. Mithilfe eines Anwalts habe sie Teile davon zurückbekommen. Der Barchef habe sie gar bedroht. Im Laufe des Konflikts habe man die Polizei holen müssen, weil man so besorgt um die Mitarbeiterin gewesen sei, die das Geld verwaltete.

Der Hauptgrund, wieso sie beide Festivals veranstaltet hat, seien die Menschen, nicht das Geld. Sie habe viel riskiert, für einen großen Erfolg: „95 Prozent der Leute werden dir sagen, dass das die beste Erfahrung ihres Lebens war. Du kannst dir vorstellen, wie ich mich fühlte, total erschöpft, auf Krücken, mit einer rausgesprungenen Kniescheibe. Und trotzdem habe ich das Lächeln der Leute gesehen, die ewig nicht getanzt hatten. In der Anomalie in Berlin sind Leute auf mich zugekommen und haben mir ihre Dankbarkeit ausgedrückt. Auf der anderen Seite weiß ich, dass es auf dem Festival viele Problem gab und ich unerfahren war, wofür mich fünf Prozent der Leute angreifen, für die es sicher eine komplizierte Veranstaltung war. Aber heißt das, dass ich es nicht mal versuchen darf? Bedeutet das, dass ich als Piñata benutzt werden darf und mir immer wieder Dinge vorgeworfen werden dürfen, die nicht passiert sind und für die ich nichts kann? (…) Ich habe beide Events aus Liebe zum Underground veranstaltet. (…) Wegen der falschen Anschuldigungen ist mein ganzes Leben kompliziert geworden.”

Sie gebe zu, selbst nicht viel geschlafen zu haben und deshalb vielleicht nicht die „netteste Jevgenija” gewesen zu sein, weshalb sie sich schlecht fühle. Derzeit gebe es keine Pläne, weitere Festivals zu veranstalten, bis sie eine Crew findet, auf die sie sich verlassen kann und mit der gewährleistet ist, dass alles auf höchst professionellem Niveau abläuft.

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