DJ Seinfeld – Mirrors (Ninja Tune)
DJ Seinfeld erlangte im Zuge der Lo-Fi-House-Welle internationale Bekanntheit. Das kurzlebige Phänomen verstreute mit digitaler Ableton-Live-Soundästethik eine metrisch-rauschende Tanzflächen-Leichtigkeit. Dazu passte ein tendenziell passiv-aggressives, bewusst inszeniertes und gefühlvoll zur Schau getragenes Entspannte-Gute-PC-Laune-Nachmittags-Keta-Wiegen-Körperbild im Festival-Wind hervorragend. Vor circa vier Jahren wurde der Sekunden-Diskurs über überkomprimierte Digital-Housemusik vergessen.
DJ Seinfeld hat mittlerweile seine quasi-seherische Zukunftsprognose (Lo-Fi wird irgendwann verrauschen) wahr gemacht und den ultra-cleanen Weg zum BBC1-Betroffenheits-Elektronik-Pop gefunden. Die ersten zwei Tracks sind NU-UKG („She Loves Me”, „Walking With Ur Smile”). Doch glättet der Produzent die Low-Fi-Graininess-Ruffness des Original-Genres zur Hyper-Oberfläche. Darauf folgen strategisch-slicke Feel-Good-Nu-Disco-Nummern („U Already Know”, „I Feel Better”). Ist da ein leicht verändertes Basslauf-Motiv von Stardusts French-Filter-House-Hit „Music Sounds Better With You”, also Chaka Khans „Fate”, hörbar? Seinfelds fortwährende Serie der „U”-Abänderung in den Titeln als Reminiszenz an seinen Hit „U” knallt jedoch langsam ins „90s-Joyriding”-Schaufenster.
Postindustrielle, cracksüchtige Kids hatten damals in Manchester Spaß daran, nachts mit Airbag-Autos in Einkaufsläden zu brettern. UK-House-Mainstream-Trance („The Right Place”, „These Things Will Come To Be”) und Ambient („Home Calling”) passen dazu gut. Flugs kriechen sphärischer Breakbeat-Dream-House („Tell Me One More Time”) und wieder sphärisch-trancige Breakbeats („Someday”) aus der Schrottkarre. Das Album ist in Bezug auf den Club-Mainstream vorhersehbar und lieblich konsumierbar. DJ Seinfelds Reflexionen bleiben leider – statt im Schaufenster – kurz vor der Rooftop-Bar im Aufzugspiegel stecken. Mirko Hecktor
Inigo Kennedy – Eyes Closed In The Sun (Asymmetric)
Eine hörbare evolutionäre Entwicklung in jemandes Diskographie zu entdecken, kommt gar nicht mal so oft vor, wie man meinen würde. Häufig bleiben Künstler*innen aus vielerlei, meist recht spießigen und pragmatischen Gründen jahrelang bei dem, was sie Anfangs mal nach oben gespült hat. Seien es nun Bequemlichkeit, finanzielle Sicherheit oder die Gewissheit, dass man diese eine Sache eben scheinbar relativ gut kann. Wieso sollte man überhaupt Neues wagen? Wieso sich von Zeit zu Zeit neu erfinden? Ein Risiko eingehen und die persönliche Komfortzone verlassen, muss das denn wirklich sein?
Inigo Kennedy, einer der legendärsten Deckplayer und Producer der letzten gut 20 Jahre, stellt sich diese Fragen scheinbar erst gar nicht. Gerade deshalb ist es sein neues Album, über das hier berichtet wird. Denn das ist keine Wiederholung einer Wiederholung einer längst abgesetzten Sendung. Den artistischen Spagat von britischem Rumpeltechno in den späten Neunzigern hin zu elegantem IDM, den er auf Eyes Closed In The Sun präsentiert, meistert er so spielerisch leicht, dass man sich dabei erwischt, wie man kurz innehält und Beifall klatscht. Inigo Kennedy schickt mit diesem Album, das über die letzten zwölf Monate entstanden ist, alle Hörer*innen auf einen imaginären Trip in die Nachtclubs der fernen Zukunft, in denen man mit freundlichen Außerirdischen einen belebenden Space-Cocktail trinkt, mal melancholisch wippt, mal energetisch tanzt und sich bei den Sounds dieser LP, die hervorragend zu Autechre, AFX und The Black Dog gemixt werden kann, immer noch denkt: „Das ist also die Musik der Zukunft”. Die Metamorphose ist vollbracht. Andreas Cevatli
Joakim – Second Nature (Tigersushi)
Was die Themen angeht, ist ihm nichts zu entlegen: Der französische Produzent Joakim Bouaziz widmete seine Alben schon Phantomen, Monstern und Milchstraßen. Jetzt fasst er, systematisch betrachtet, all seine bisherigen Bemühungen zusammen und verschreibt sich der Natur. Genauer der zweiten Natur, den Gebieten, auf und in denen der Mensch ins Spiel kommt. Auf der Erde werden diese ja immer größer. Durchaus umweltbewusst gedacht, verwendet Joakim Field Recordings von Fröschen, Nilpferden und madagassischen Bienenfressern ebenso wie von Stürmen, Gletschern und Erdbeben, macht aus der vorgefundenen akustischen seine musikalische zweite Natur.
Wobei Joakim es nicht bei eingesammelten Klängen belässt, er bringt sie ins Gespräch mit Beat, Bass und Melodie. Weniger Club, dafür tropenfeste Rhythmen in gedrosseltem Tempo. Die Einflüsse der verschiedenen Theoretiker*innen, von denen Joakim sich zu der Platte hat inspirieren lassen, sind nicht direkt herauszuhören. Dafür verfolgt er eine sehr eigenwillige Downtempo-Exzentrik, die ein wenig an freiere Ansätze aus den neunziger Jahren erinnert. Obendrein hat er diverse Gäste zu sich ins Studio geholt, darunter die Klarinettistin Angel Bat Dawid und der Schlagzeuger Greg Fox. Ein sehr seltsames Album. Doch die Natur ist, wie es aussieht, auch in einem sehr seltsamen Zustand. Tim Caspar Boehme
Jolly Mare – Epsilon (International Feel)
Nachdem sich Mark Barrotts Label Boutique bereits im Juli mit dem yachtrockigen Leftfield-Pop von Charlie Charlie, einem neuen Duo aus Gabriella Borbély alias Bella Boo und Jens Resch alias Chords, aus einer extended meditation zurückgemeldet hatte, übrigens nun als Sublabel von Running Back geführt und von Matthew Styles gemanagt, hält Jolly Mare mit seinem International-Feel-Debüt klaren Kurs aufs Zentrum der balearischen production values des Imprints.
Italo Disco, Krautrock, Cosmic, New Wave, Dub-Reggae sowie afro-kubanische und levantinische Folklore heißen die Koordinaten, zwischen denen die sieben Tracks des italienischen Producers Fabrizio Martina ein Paralleluniversum entdecken, das Afrika und Europa auf einem Kontinent verortet, in dessen Mittelpunkt Ibiza liegen könnte. Dass der Multi-Instrumentalist hier alles selbst eingespielt hat, von den analogen Synthesizern und Drum Machines über Bass, Gitarre, Oud, Saz, Cümbüş, Bağlama bis hin zu Darbuka, Rototom, Congas, Bongos und Talking Drums, tut der Sache glücklicherweise keinen Abbruch: In keinem Moment von Epsilon drängt sich der Eindruck ausgestellten Tausendsassatums auf. Vielmehr gelingt es Martina, wie in „Vivo“ immer wieder so zu klingen, als hätte einer der Cantautore des vergangenen Jahrhunderts wie Lucio Battisti mit einer ausgeschlafenen Library-Band ein Compass-Point-Album aufgenommen. Gleichzeitige Referenzen an George Kranz und Newcleus, etwa in „Gaul Tanz”, nicht ausgeschlossen. Trotz großer Highlight-Dichte kommt das Beste hier erst zum Schluss: Spielkonsolen-Hi-NRG mit „Il Capriccio”, gefolgt vom coolen Dubtrack „Epsilon” als Ausklang. Meravigliosa! Harry Schmidt
Niklas Wandt – Solar Müsli (Bureau B)
Man packe einen Koffer und nehme mit: Eine Zahnbürste, drei Hawaiihemden, alle Aufzeichnungen des ZDF-Fernsehgartens aus dem Jahr 1982 und eine Kassette von Niklas Wandt. Die braucht man, um während der Spätsommerfrische am Bodensee nicht aus Versehen in internationale Gewässer zu geraten oder in Baden-Württemberg nach Thüringer Bratwurst zu fragen. Wandt, der Tropen-Trommler für die Energiewende im Lendenbereich, hat vorgesorgt und ein neues Album aufgeladen. Solar Müsli mieft – oh mei – nicht nach Ganja oder Räucherstäbchen. Unterm Kopfpolster liegen keine Kristalle aus dem Eso-Laden. Und überm Hare-Krishna-Schrein baumeln auch keine Traumfänger.
Solar Müsli ginge als Herbstkollektion bei Dekmantel durch, würde der Gute nicht regelmäßig auf Heinrich Heine machen und Fürbitten vortragen, die sich so anhören, als hätte jemand nach 25 Semestern in der kreativen Schreibklasse einen Kriminalroman veröffentlicht. Schließlich pudert sich allein „Lo Spettro” die Nase – dreifach, bis man glauben möchte, Donkey Kong penetriere einen alten Nintendo, fräße auf der Regenbogenstrecke Pilze und packte zum großen Preis die Reise-Edition von Jenga aus, um in einstürzenden Neubauten neuzeitliche Böden zu verlegen. Wer sich diese Platte in die Airpods streamt und nicht vollkommen enthusiasmiert durch die Altbauwohnung springt, hat keine Seele. Oder nie geerbt. Christoph Benkeser