Hurra, diese Welt geht unter! Ein Blick auf TikTok verrät: Sie dreht sich noch. Puh! Man muss sich nicht auf Telegram zum Covidioten ausbilden lassen, um zu verstehen, dass wir massiv in der Scheiße stecken. Wo man hinblickt Chaos, Krach und Armin Laschet. Außerdem nimmt der Sommer auch noch die erste Ausfahrt auf der Bundesautobahn. Gründe für melancholische Momente in der Badewanne gäbe es also. Tapes, die was dran ändern könnten, auch. Tapestry hat sich einen Sommer lang umgehört. Den Urlaub in Italien verbracht. Ein neues Spiel gelernt. Waffeln gemampft. Und eine Ganzkörpermassage verpasst bekommen. Deshalb präsentiert Groove 13 Kassetten-Empfehlungen zwischen Leipziger Orchestergräben, Doktor Sommer auf Vietnamesisch und einem Wiener Schlangenbiss.
mad miran b2b DJ Python – Waffles (Climate Of Fear)
Scheiß auf Deep Reggaeton – wir wollen Waffeln! DJ Python und mad miran heizen die Eisen vor, lutschen an argentinischen Blaubeeren und sorgen mit einem doppelten Ahornsirup-Aufguss für Heat im Lendenbereich. Auf dem Berliner Label Climate of Fear streichen miran und Python eine volle Stunde Teig in die Rillen. Ein Set, das so intellektuell-deep wie Bailey’s 90s Drum’n’Bass rüberkommt und gleichzeitig den Techno-Keller der 2020er auseinanderbügelt, um bei Prodigy das Acid aus den Venen zu saugen und Subwoofer mit Frequenzen zu zerstören, auf die nur Tiefseetaucher im fortgeschrittenen Stadium reagieren. Rumble in the jungle also. Und Mukke, bei der man sich vorsorglich einen Termin beim Kieferorthopäden besorgen sollte. Wer hier die Tschick nicht in zwei Zügen runterraucht, war nicht dabei. Kabumm, Krawall, Chaos hoch zwei. mad miran und DJ Python hieven das Game auf ein neues Level. Anhören! Now!
Instituto Bangara-Rossa Internacional – An Introduction to Bangara-Rossa (Learning by Listening Vol. 2) (Strategic Tape Reserve)
Eamon Hamill, der Guy hinter dem Kölner Strategic Tape Reserve, grinst zwischen den Tape-Decks. Nach Augmented Folk Ballads, Musik für Spülmaschinen und einem Ausflug in den Ballermann-Partykeller, erlaubt sich der Gute in Böhmermann’scher Manier wieder neuen Spaß. Und veröffentlicht die offizielle Einführung zur Anleitung von Bangara Rossa – einem Spiel, das sich seit dem 17. Jahrhundert auf Kaffeefahrten zwischen Oberursel und Monte Carlo nebst Heizdecken und Honigstich großer Beliebtheit erfreut und der Kukident-Partie von morgen in Form von Snapchat-Happen nähergebracht werden soll. In kurzen Tracks entzünden die Master Musicians of Dyffryn Moor ein walisisches Freudenfeuer, während uns eine Stimme aus dem Off das Spiel erklärt. Hört sich so spannend an wie der Audio-Guide zur Bauanleitung von einem Billy-Regal. Macht aber dermaßen viel Laune, dass sich, so hört man, innerhalb kürzester Zeit größere Gruppen an Menschen zusammenfanden, um auf öffentlichen Plätzen in ganz Deutschland Bangara Rossa zu zocken. Wer weiß, vielleicht auch bald in deiner Stadt.
Roman85 – The House You Live In, The House You Look At (Doom Chakra Tapes Worldwide)
Doom Chakra. Zwei Wörter, eine Ansage: must buy! Damit wär die Sache erledigt, aber denkste. Roman85 kurbelt für sein erstes Tape an den Spulen wie ein wuschiger TikTok-Teenie, der zum ersten Mal von den Vorzügen des Lebens gekostet hat. Bretter, Beats, Bimmelbahn. Die heilige Dreifaltigkeit des elektronischen Schaltkreises rattert auf seinen zwölf Tracks wie das Amen im Gebreak. The House You Live In, The House You Look At sind keine Techno-Tracks, keine Jungle-Jams oder Hip-Hop-Cuts, sondern Nummern, die sich die vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte die Pille-Palle-Tanzmusik in Glasfasergeschwindigkeit reinballern, um daraus ein Wagnersches Wagnis einzugehen. Eines, das die Rollladen runterlässt und gleichzeitig die Tageslichtlampe anknipst. Mit Subbässen hantiert und sogar Sade-Vibes mit Saxofon-Samples verbreitet. Völlig crazy. Und genau richtig hier!
Dogpatrol – Soapland (AVA. Records)
Das Label von Damiano von Erckert schippert schon einige Jahre in internationalen House-Gewässern. Geheimtipp ist AVA keiner mehr, dafür blinkt man zu lang am Radar. Weil der letzte Release schon ein Weilchen her ist, könnte man den Laden zwischen Beatports Peak-Time Highlights und dem Bootsausflug im Release-Rausch aber leicht aus der Rekordbox verlieren. Schad drum wär’s, schließlich ist mit Soapland gerade ein neues Tape rausgerutscht. DogPatrol aus Mannheim schielt mit einem Auge nach Detroit, während das andere im Chicago der 90er rumjackt. Jede einzelne Nummer ist Material für feuchte Augenringe und warmgetanzte Beckenbodenmuskulaturen. Allein „Gas Drawls“ schiebt stärker als die geschrotteten Karren von Deutschrapglupschis. Außerdem pustet Marcellus Pittman mit seinem Remix von „Soapland“ die größten bubbles, ohne dafür in troubles zu geraten. Ein Tape, das – hands down – besser flutscht, als Aloe-Vera-Gel in der Achselhöhle.
Luce Celestiale – Discepolato Nella Nuova Era (Artetetra)
Artetetra hat fünf Kerzen auf den Geburtstagskuchen gepappt und das 30. Tape verpackt. Zum halben Zehner beschenkt sich das italienische Duo um Luigi und Matteo schließlich selbst – mit einer neuen Veröffentlichung von Luce Celestiale, der Band eines andalusischen Hundes und eines toskanischen Zauberers. Das mag nicht ganz den Tatsachen entsprechen, hört man sich den Sound der beiden allerdings an, sieht man sofort die Geister des Waldes, Kobolde und andere Gestalten, die das letzte Mal in gleicher Eleganz auf Sugai Kens Quakefish-Scheibe ihr Unwesen treiben durften. In anderen Worten: Man verleibt sich hier einen Trank ein, der wie ein zweiwöchiges Ayahuasca-Retreat für ausgebrannte Menschen im mittleren Management wirkt, aber um ein Tausendstel billiger daherkommt. Darf nur niemand wissen, sonst kurven bald weiße Haie auf Discogs rum. Also: Leiser Applaus und gesunde Geburtstagsgrüßle an die Buben von Artetetra.
Pilgrim Raid – Anna Agenda (CHINABOT)
Halleluja, die 2000er haben angeklopft und wollen alte Bravohits-CDs für Dreifuffzig verscherbeln. Wer sich damals zu Safri Duo schon Sprite in den Hustensaft gekippt hat, um endlose Nachmittage mit Zelda auf dem Gameboy zu süchteln und das Jamba-Sparabo auf die Telefonrechnung der Eltern zu klotzen, dreht mit Anna Agenda mindestens zwölf Runden im Autodrom für Flashback-Fetischist*innen. Zwei vietnamesische Boys verraten ihre pubertären Jugendträume und packen den popkulturellen Albtraum zwischen Mekong River und Ho-Ho-Ho Chi Minh City auf ein Tape, für das man sich die doppelten Espressi intravenös reinjagt. Um mitzukommen. Oder halbwegs dranzubleiben. Wer bei TikTok längst aussteigt, lasst von Anna Agenda lieber die Smartphone-Finger. Für Menschen, die ihre Aufmerksamkeit noch nicht in der algorithmisierten Timeline verloren haben, könnte das zu einer … interessanten Erfahrung werden. Tl,dr: In need of Ritalin!
Felix-Florian Tödtloff – Shale / Like Gold Raid (Full Body Massage Records)
Klar, Sex ist geil. Aber habt ihr euch schon mal ein Wattestäbchen in die Ohrmuschel gebohrt? Doktor Oetker rät davon ab, aber was weiß der alte Sacke schon? Wer seine Lauscher auf die gute alte Schule vom Schmalz befreit, erfährt dasselbe Gefühl, das sich einstellt, wenn man Felix-Florian Tödtloffs Songs hört. Man zuckt kurz zusammen, vor lauter Schönheit im Moment, und will sofort mehr. Davon, dafür, egal – nur mehr. Dass Shale / Like Gold auf dem Berliner Label Full Body Massage Records erscheint, kann man also als Aufruf zur ayurvedischen Ganzkörpermassage deuten. Endlich mal ausspannen, die Knochen durchkneten lassen und die Wirbelsäule aus ihrer gekrümmten Schreibtischtäter-Haltung zu einem Wörterbucheintrag über senkrechte Asymptoten zurechtzupfen. Wer nach solch einem Hörerlebnis nicht niederkniet, kennt keinen Gott. Oder hat ihn längst verloren!
Various Artists – A Communal Compilation (Jogging House)
Während sich Bullshit Creator von heute jeden Tag acht Stunden Regenwald-Geplätscher reinziehen, wissen Ambient-Aficionados, dass man für kuratierte Tagträumereien wohldosierte Tapes spulen muss. Jogging House, der „dude von Seil Records“ aus Frankfurt am Main, verstöpselt seine modularen Maschinen seit Jahren zu Ausflügen in eine bessere Welt. Das klingt nach verklärten High-Thoughts von einem Typen, die sich zu sehr mit spekulativer Fiktion auseinandergesetzt hat. Ist aber totally embedded in der Realität. Jogging House, der eigentlich Boris Potschubay heißt, hat für seinen ersten Labelsampler bei Kolleg*innen angeklopft – und 13 Tracks auf zwei Tape-Seiten geritzt. Joggers Vol. 1 löst sich im Grundrauschen von Ambalek auf, blickt mit Berm and Swales „Occupied By Light“ in die Sonne und stapft auf leisen Sohlen durch ein Winterwunderland, das jeden Waldspaziergang in ein spirituelles Fest verwandelt. Dort dürfen Drones gründeln, Pianos klimpern, Bänder rauschen – weil die einzige Wärme – hach, Pathos – von der Community ausgeht, die Jogging House um sich schart.
Snake Boots – 01 (Tender Matter)
Snake Boots. Klingt gefährlich. Soll so sein. Die Wiener Kunst- und Krachschaffenden Tony Renaissance und Karo Preuschl gießen Bechamel über den Geigenkasten und tanken den Maschinenpark mit Diesel. Manchmal haucht ein Stimmlein im Walde, es riecht nach Tankstelle, während in der Ferne minderbemittelte AMG-Fahrer Kreise in den Asphalt ziehen. Also alles wie immer. Wer an niedrigem Blutdruck leidet, setzt mit 01, dem Debüt-Tape von Snake Boots, zum diastolischen Weltrekord an. Klar, man könnte sich dafür auch Trielle im Zweiten durch den linken Nasenflügel ballern oder im veganen Freundeskreis erzählen, Pokébowls insgeheim richtig scheiße zu finden. Aber was bringt das schon? Schlangen beißen sich schließlich nicht in den eigenen Schwanz, sondern verschlingen ihre Opfer, ohne davor – Achtung, Schnappatmung – 24 Mal gekaut zu haben.
Beach Towel – Pfirsich Melba (Stereo Gelatto)
Dolce Vita im Kopp und Glamour in den Beinen – mit Pfirsich Melba von Beach Towel schäumt man Ramazotti unter pinken Palmen aus Plastik und schlürft Pfirsichnektar aus kleinen Tetrapaks, als hätte man an der Amalfiküste zwei oder zwölf Gläschen Limoncello übers Tiramisu gekippt. Da kann man am kältesten Tag des Sommers schon mal auf blöde Gedanken kommen und statt dem Griff zur Tageslichtlampe mal eben am Likörschrank der Oma herumbasteln. Dabei schlittern die Heidelberger Heiterboys bei fünf Grad im Schatten mit runtergelassenen Fensterscheiben nach Bologna, lockern aber zwischendurch mit der überhaupt nicht kitschigen Synthi-Dröhung die Zunge, um Platz zu machen für eine Stimme, bei der Marco von Wanda vor lauter Angst in seine Lederhose pisst. Weil dann alles so schön nach Urlaub in Italien riecht, hängen T.S. Bach und Joko Mono prophylaktisch zwei BVB-Handtücher über die Liegen beim Pool, bevor man sich die Boombox mit dem Vollplayback-Fernsehgartengrauen in den Schritt steckt und zwei Schirmchen in den Martini zwirbelt. Beach Towel ist Glitzer, Glanz und Gloria für alle, die heute an den Sommer von gestern denken.
Random Orchestra – Membrane (TELESKOP)
Hinter Random Orchestra stecken die Berliner Xaver Hirsch und Oliver Gehrmann. Ihr Debüt stecken sie dem leiwanden Leipziger Label Teleskop zu, bevor sie sich zurück in ihre Membrane ziehen. Dort ist es schön warm, es tschirpen die Arpeggios, während Beats härter knallen als Thüringer Bratwurst zum Stichtag und Melodien um sich greifen, bei denen Bonobo drei Packungen Valium runterwürgt, um halbwegs so cool rüberzukommen wie das Random Orchestra. Bei aller Ehre: Man muss schon drei Schlafsofas bei Ikea ordern, bis man genügend Luftpolsterfolie gehortet hat, um sich damit ein Schloss in die überteuerten Garconiere zu zimmern. Immerhin, der Fall fühlt sich sanfter an als der letzte Wisch mit Premium-Klopapier im Jumbo-6er-Pack. Man schlittert über Boards of Brandenburg, pusht einen Square Richtung Berlin und kalimbat zurück nach Leipzisch. Für Heads. Von Heads.
Sukkube – World In Data (Fallen Metropolis)
Fallen Metropolis, das Label von Christian Rutz, ist die Nische, in die man sich zurückzieht, wenn die Welt gerade zu grausam, das Wetter zu beschissen, der Blick in den Spiegel ein tiefenreinigendes Fiasko ist. Das Label ist die Patchworkdecke, unter die man sich kuschelt, weil man gerade zum einundzwanzigsten Mal den eigenen Insta-Account gelöscht hat, nur um draufzukommen, dass TikTok noch viel süchtiger macht. Steckt man ein Tape von Fallen Metropolis ins Deck, beamt man sich dafür in eine andere Welt. Eine, die keine Vergangenheit kennt, sondern die absolute Gegenwart der Geschichte abbildet. Sukkube, die in Berlin lebende Charlène Levasseur, schickt mit World In Data ins Berghain des 22. Jahrhunderts. Es tropft von der Decke. Die Party ist vorbei. Daten haben die Welt zerstört – und sie gleichzeitig zu einem besseren Ort gemacht. Ein Ort, an dem man sich nicht schämen muss, das ausgeleierte Atonal-Shirts auf Branchen-Festivals der Bubble vorzuführen. Aber hoffen sollte, ein Leben zwischen Einsen und Nullen führen zu dürfen.
Various Artists – Ritmos para Sanar Vol.2 (Behuá Icára)
Zum Abschluss gibt’s Beats aus dem Amazonas. Ohne Shit. Von der peruanischen Gruppe der Shipibo Konibo Xetebo. Wer sich schon mal vom Dengue-Dengue-Dengue-Fieber infizieren hat lassen, sollte den Ucayali-River landaufwärts gondeln und lauschen, was in Peru sonst noch geht. 13 Shipibo-Musiker*innen haben Songs gebaut, teilweise mit Produzent*innen aus anderen Ecken der Welt. Und mit Behua Icara ein Tape veröffentlicht, zu dem man sich nicht nicht bewegen kann. Sogar die ärgste Sitzenbleiber-Fraktion tappt beim „Olinda Dub“ von Reshijabe oder dem Regenwald-Rap von Wihtner FaGo heimlich mit den Füßen mit. Behua Icara ist ein internationales Austauschprojekt. Eine Brieffreundschaft in Form von Tapes. Und eine gute Sache. Wer eine Kassette ordert, unterstützt das indigene Volk. All proceeds go to the Shipibo. Fair!