From Nursery To Misery – Tree Spirits (Dark Entries)
Es ist 1987, der Siegeszug der CD bahnt sich an, bald wird sie die Kassette verdrängt haben. Die Charts sind voller Namen, die auch heute noch als sogenannte Stars bekannt sind, und die Musikindustrie macht sich auf in das Jahrzehnt, in dem sich auch der letzte Scheiß noch zu Gold pressen lässt. Von dieser Entwicklung unbemerkt treffen sich drei Teenager im Englischen Essex County, um gemeinsam Musik aufzunehmen. Lee Stevens hat gerade ein paar Tracks mit seinem Keyboard und dem neuen 4-Track-Recorder eingespielt und fragt die eineiigen Zwillinge (mit den grandiosen Namen Gina und Tina Fear), ob sie die Vocals dazu aufnehmen wollen.
Die Instrumentals kommen aus der Tradition von New Wave und Synth-Pop und klingen überraschend vielseitig, wenn man bedenkt, dass sie mit den bescheidenen Möglichkeiten eines Kinderzimmer-Studios entstanden. Vangelis ist darin zu hören, aber auch Dead Can Dance oder die Cocteau Twins. Einzigartig wird der Sound aber durch den Gesang der beiden Schwestern. Ihr kindlicher Ausdruck lässt ihn unheimlich wirken, und es bleibt unklar, ob die Töne aus Kalkulation oder Unvermögen nicht getroffen werden.Die Aufnahmen sind unverkennbar Lo-Fi. Nichts kann und möchte verstecken, woher diese Musik kommt, und die Umstände der Entstehung werden zur eigentlichen Message. Das Hören wird somit zur Reise in die Provinz, in die Ängste und Träume dreier Teenager. Über die nächsten vier Jahre entstehen zwei Alben, die die drei selbst auf Kassette veröffentlichen, und einige weitere Songs schaffen es als Beiträge auf verschiedene Compilations. 1991 löst sich die Gruppe auf. Mit Tree Spirits erscheint jetzt nach Pixies In The Woods (2017) zum zweiten Mal eine Zusammenstellung auf Vinyl. Schön, dass From Nursery to Miserys Musik nach dieser Zeit eine Plattform gegeben wird, denn in ihr lebt ein Gefühl. Philipp Gschwendtner
Moritz von Oswald Trio – Dissent (Modern)
Neue Besetzung, neuer Stil, neues Glück? Das sei hiermit allen vergönnt, die elektronisch durchströmtem Jazz nicht abgeneigt sind: Für eine weitere diskografische Ausgabe seines Trios bat Moritz von Oswald nun nämlich die US-amerikanische Visionärin dystopischer Pop-Entwürfe Laurel Halo und den Jazzdrummer Heinrich Köbberling um Mitwirkung. Bei den Vorgängeralben waren ja schon einige Profis unerschrockener Eklektizismen am Start – Vladislav Delay, Max Loderbauer oder Ricardo Villalobos, um nur ein paar zu nennen. Auf Dissent funktioniert der experimentelle Ansatz von Oswalds, der nun schon seit über einem Jahrzehnt Brücken zwischen verqualmter Jazzspelunke und verschwitztem Nachtclub zu schlagen weiß, aber wahrscheinlich so gut wie noch nie. Destilliert aus abendfüllenden Impro-Jams, verschweißte der Chain-Reaction-Mitgründer am Mischpult die delikaten Modulationen von Laurel Halos Setup mit den minimalistischen Schlagwerkmustern Köbberlings, der seinem Vorgänger Tony Allen (Rest in Peace.) tatsächlich in nichts nachsteht. Die gebrochenen Beats repetieren ihre eigene Zartheit wieder und wieder, Instrumentierung und Synthesen üben sich in Zurückhaltung. Über und hinter allem schwebt die delikat verschränkte Produktion des Trio-Gründers, der unübliche Klangfarben in noch unüblichere Muster eingliedert und wieder zerfasern lässt. Als Resultat sind die zehn Kapitel von Dissent, umrahmt von „Preface” und „Epilogue”, ein ebenso kühler wie stromlinienförmiger Vorstoß in wenig erforschtes Terrain irgendwo im Zwielicht modalen Technos und rhythmisch atmender Jazzkapaden. Also Jazz Techno? Vielleicht. Wer derlei Begriffe albern findet, hat hier jedenfalls nicht aufmerksam genug hingehört. Nils Schlechtriemen
Nøkken – Nøkken (Polymath)
Das Londoner Label Polymath, auf dem dieses Album erscheint, erwähnt im obligatorisch sogenannten Presse-Exemplaren beiliegenden Infotext den griechischen Keyboarder und Prog-Rock-Veteranen Vangelis. Eine der Assoziationen, die der Autor dieser Zeilen beim Hören des ersten Stücks hatte, war wiederum Genesis. Genauer gesagt: die Klangästhetik, die deren Keyboarder Tony Banks gerne benutzte während der Prog-Phase der Band in den 70er Jahren. So richtig diese Bezüge sind, so irreführend sind sie allerdings auch. Nøkken bewegt sich weit jenseits dieses Genres klar im erweiterten Feld technoider Elektronika. Konkreter lässt sich die Musik von Matt Meler alias Nøkken aber wiederum nicht klassifizieren, auf seinem Debütalbum finden sich Ambient-, Trip-Hop-, Techno- und Electro-Einflüsse, gerade und gebrochene Beats, clubbige Stücke und eindeutig für den Hausgebrauch gedachte Tracks. Eine derartige stilistische Vielfalt ist nun schon seit längerem nichts Ungewöhnliches mehr, und Covid-19 hat zusätzlich dazu geführt, Musiker*innen tiefer in ihre Wurzeln und musikalischen Sozialisationen abtauchen zu lassen und stilistisch breitbandiger zu arbeiten. Was Nøkken von vielen Kolleg*innen unterscheidet, sind seine produktionstechnische Sorgfalt, seine Detailverliebtheit und sein Ideenreichtum. Die Tracks überraschen immer wieder mit kleinen, gut platzierten Elementen, neuen Ebenen und ausgefuchsten Sounds, ohne dabei überladen zu wirken – alles bleibt luftig, angenehm unaufdringlich und smooth, wobei die Easy-Listening-Schublade wiederum immer fest verschlossen bleibt. Das Album erscheint übrigens neben der Online-Version auch auf Kassette. Mathias Schaffhäuser
Rosaceae – DNA (Pudel Produkte)
Nachrichten aus einer für viele von uns ganz anderen Lebenswirklichkeit: Unter dem Künstlerinnennamen Rosaceae arbeitet sich die Hamburger Produzentin Leyla Yenirce an einem Krieg und dessen Verbrechen ab. Und dies gibt dem politischen Aktivismus eine enorme Kraft. Es geht nicht einfach gegen Krieg: es geht um die Kriegsverbrechen der Daesh, also jener fundamental-islamistischen Armee, die sich selbst als „Islamischer Staat” bezeichnet. Noch genauer geht es um die Verbrechen jener Armee gegen die jesidischen Frauen im Irak. Seit 2014 kämpfen die Daesh brutal gegen die Jesid*innen, da diese entweder ihrer eigenen Religion anhängen oder auch keiner, was sie für die Daesh zu Ungläubigen macht.
So ist der Sound Rosaceaes denn ein Dröhnen des Widerstandes: Auf das spannungsgeladene Intro folgt mit „They Are So Afraid They Begin To Shake” ein Gabba-Stück mitten aus der Kriegswirklichkeit der aufständischen YPJ, also der Fraueneinheiten „Yekîneyên Parastina Jin” im jesidischen Territorium. Das wirkt wie ein Schlachtruf. Die unbefriedete, ja viel mehr noch die kriegerische, die gewalterfahrene Geschichte der Jesid*innen zieht sich durch dieses zweite Album. Ein paar mollige Ambient-Stimmungen machen die Haupterzählung nur noch schwerer auszuhalten. Es gibt immer wieder Sprachsamples kämpfender Frauen, Maschinengewehr-Salven, schrille Harmonien, stampfende Beats. „Nicht Realismus, sondern Realität”, forderte der Theaterregisseur Frank Castorf einst in einem gleichnamigen Essay von der Kunst. Das kriegt Yenirce hin, und diese Lebenswirklichkeit ist schwer auszuhalten. Christoph Braun
Stigma – Too Long LP (Pessimist Productions)
Kristian Jabs aus Bristol veröffentlicht auf seinem Label Pessimist Productions unter den Künstlernamen Pessimist, Boreal Massif, Soft Boi und neuerdings auch als Stigma. Das neue Album Too Long thematisiert laut Pressetext die Beziehungen zwischen Armut und Geisteskrankheiten in England. Dementsprechend hören sich die Lyrics der Tracks an. Die Einnahmen des Albums gehen an den Charity-Verein Second Step Bristol, der Menschen mit psychischen Problemen hilft. Mit „Listening Now” – eine Kooperation mit Justin K. Broadrick – gelingt ihm trotz des Themas jedoch unheimlich schöner, sirenenartiger Ambient-Trip-Hop kurz vor Massive Attack, Morcheeba oder Portishead. Anleihen dieser 90s-Bands sind auch „Madureira” zu hören. „Acid Rain” beruhigt dagegen mit Ambient-Schichten. „Advertised Ft. Taylor E Burch” startet als Industrial-Ambient-Nummer durch und knallt ab der Mitte englisch-breakig, aber trotzdem langsam nach vorne. Genau da macht „Believe In Me” weiter. Während „Society Ft. Karim Maas” gut düster in Richtung Gitarren-Doom-Heavy-Metal-Stadionrock zündet. Mirko Hecktor
SW. – My Definition (Kalahari Oyster Cult)
Nachdem er Ende Mai mit BlewLIPs einen Nachfolger seines Albums TRUElipS auf Avenue 66 veröffentlichte, erscheint mit My Definition bereits der zweite SW.-Longplayer in diesem Jahr. Obwohl Groove auf fünf der sechs Tracks durchaus eine Rolle spielt oder wie in „mASsLESS” zumindest als Puls spürbar bleibt, stellt der Dancefloor hier kein vorrangiges Ziel dar. Ob Downtempo (famos: der Opener „ariaJA”), Breakbeat („moonNEWsoon”), Deep House („justMUST4y”) oder Ambient mit „VFXpeaksTWIN” zum Ausklang, Sued-Mastermind Stefan Wust hält die Genres in einer distinkten Handschrift eng beisammen. Field Recordings von Wellenrauschen und Vogelgezwitscher fließen organisch in die Arrangements ein. Spezifisch ist Wusts Soundästhetik als Grammatik gleitender Übergänge und Veränderungsprozesse sowie der wendungsreiche, geradezu narrative Charakter seiner Tracks. Selten geht es in der elektronischen Musik so eloquent zu wie auf dem angenehm unaufgeregten fünften Album von Stefan Wust. Harry Schmidt
The Bug – Fire (Ninja Tune)
Nach sieben Jahren wird die Trilogie also vervollständigt. Nach einem Jahr, das ferne, bisher nur imaginierte Dystopien schmerzlich fühlbar gemacht hat, beschenkt uns der Brite Kevin Richard Martin mit seinem lange vermissten Alias The Bug mit einer neuen Soundraserei. Das neue Projekt Fire fusioniert nach London Zoo und dem verspulteren Angels & Devils seine verschiedenen Stilvorstellungen. Aber trotz allem klanglichen Gemenge entsteht daraus das konsistente Bild einer urbanen Landschaft der Bedrohung – mit allen dazugehörigen Eskapaden versteht sich. Durch die gekonnte Verflechtung von Grime-, Dubstep- und Dancehall-Elementen entwickeln sich roughe, antreibende Gerüste, auf denen sich dann diverse MCs austoben dürfen. Mit von der Partie sind alte Weggefährten wie Flowdan oder Manga Saint Hilaire, aber auch neue Featuregäste, wie der technisch extrem versierte Logan. Thematisch bewegt sich das Ganze zwischen Weltfluchtfantasien und martialisch-apokalyptischen Horrorszenarien. Uralte, wenn auch vermehrt tagesaktuelle Ängste werden dabei zwar geschürt, aber nur um sie im Anschluss mit Brachialität in tausend Stücke zu zerreißen. Wer einen Zugang zur entsprechend bratzigen Soundästhetik findet, wird sich hier über alle Maßen wohl fühlen. Lucas Hösel