Diverse – Caves – A Compilation Of Silences (Other People)
Mit einer Compilation auf seinem Label Other People erneuert Produzent Nicolas Jaar die John-Cage-Idee der Silence, also „Stille”, „Ruhe”, vielleicht auch des „Schweigens” im Kontext von Musik. Anders als Cage mit seiner Komposition 4’33’’ geht es hier nicht um die Stille als Musik. Sondern um Klänge, die in die Stille führen und auch wieder aus diesem Zustand heraus begleiten sollen. Für ihr „Ten Minute Cave” arrangiert etwa Ana Quiroga Glasrand-Schwingungen und asiatische Saiteninstrumente zu einer Struktur ohne Zentrum, es folgen zehn Minuten Stille. Im Anschluss ertönen die Klänge erneut, angereichert durch Vogelzwitschern. Ähnlich wie dieser Track der Londoner Komponistin ist auch Laarajis „Twenty Five Minute Cave” geeignet für all die gängigen Meditations-Apps.
Der US-amerikanische Multiinstrumentalist singt sanft und lässt seine Stimme umfließen mit Tröpfchen und Bachblubbern. Doch wie im Zen gibt es auch auf dieser Zusammenstellung die Zen-Punks: Nicolas Jaar selbst verdichtet die Synthesizer-Flächen zu abstürzenden Terrassenhängen, während die Berlinerin Lucrecia Dalt die Spannung und Hektik des Alltagslebens aufgreift und erst langsam den Eingang findet in ihre siebenminütige Ruhe-Höhle. Einen Zwischenweg findet schließlich Marzio Zorio, der u.a. für Jaar Instrumente baut: in seiner „Three Minute Cave” wird der Weg zur Höhle und später aus ihr heraus hörbar, mit Schritten, mit Grillenzirpen. Laut Jaar kam es durch seine eigene Praxis des Meditierens zu dieser Zusammenstellung. Zunächst habe er sich selbst die Klänge für die Hinführung zur Stille und die Rückführung in den Alltag gesucht und diese dann mit Bekannten geteilt. Der Erfolg führte schließlich zu dieser Zusammenstellung: zeitgemäß, ganz konkret. Christoph Braun
Diverse – Chill Pill III (Public Possession)
Wie ihre Vorgänger erscheint Chill Pill III mitten im Hochsommerloch. Als Soundtrack zum Stillstand des Spätsommers überwinterte Chill Pill II im CD-Player der Wahl, nun füllen Public Possession das Vakuum mit der neuen Ausgabe einer der bemerkenswertesten Compilation-Serien der Gegenwart – diesmal gleich im Doppelpack. Während auf der ersten Disc der folkige, tageslichttaugliche Unterton von Leftfield-Electronica-Labels wie Claremont 56 gepflegt wird, wirkt die zweite vergleichsweise nächtlichen Formen der Entspannung gewidmet. Ambient, Balearic und Downbeat konstituieren diesen Nu-Disco-nahen Entwurf maßgeblich, zudem spielt der Bezug zu Dub und Reggae in vielen Tracks eine wesentliche Rolle, ebenso eventuell digital erzeugter Lo-Fi-Produktions-Charme und Akustikgitarren-Sounds.Neben Public-Possession-Regulars wie RIP Swirl (traumhaft: „Laguna Beach”), DJ City (grandioser Yacht-Shoegaze: „Cirrus Clouds”), Popp (ohrenschärfend: „Kith”), Nice Girl, Eden Burns, Vanessa Worm, Andrew Wilson alias Andras, Bell Towers und Obalski laden auch wieder viele Neuzugänge zur Entdeckung ein. 6 Undergrounds Cover von Didos „White Flag” besticht als Badalamenti-meets-Lana-Del-Rey-Hybrid, Paul Brändle und Lurie schaffen das mit Akustikgitarren-Solo-Performances, Aiden Ayers mit gelungenem Indie-Soft-Rock-Songwriting. You’re Me und Mogwaa & Xin Seha steuern New-Age-Tunes mit Asia-Touch bei. Spektakulär: Superpitchers neunminütiges „Sometimes”, das Erinnerungen an die hypnotische Magie des frühen Sylvester weckt. Oder „Watermills”, mit dem der französische Producer Turzi den Norman-Whitfield-Gedächtnispreis abräumt, sowie Sofie & Speckmanns fesselndes „Leave”. Chill Pill III ist erneut ein Anwärter auf die Compilation-Polls des Jahres. Kurzum: anders toll! Harry Schmidt
Diverse – Paloma vs. Virus 005 (Paloma Bar)
Die Berliner Paloma Bar machte aus der Not der Corona-Krise kurzerhand eine Tugend und gründete ein eigenes Label. Dessen fünftes Release ist – wie auch schon Paloma vs Virus 003 – eine umfangreiche Compilation, deren Einnahmen dem Erhalt der Location zugute kommen. Stolze 28 Beiträge umfasst die Zusammenstellung, die in ihrer Vielfalt die farbenfrohe Palette der Paloma wiedergibt.
Von Mandel Turner und LeCiel kommt loungiger Soul, „Poiz” von Premis ist atmosphärischer UK Garage House, Ady Toledano liefert saftig wummernde Bässe und Hans Nieswandt mit „The Ricecake Track” eine ekstatische Disco-Dampfmaschine für den Moment, wenn morgens die Sonne wieder aufgeht.
SVN lädt mit „TRACK77” zum Kopfnicken ein, Route 8 schiebt mit schönen Acid-Synths ordentlich an, ebenso der blitzsaubere Techno von Berni und catchy Deep House von Phonk D. Ebenfalls am Start ist Erobique, der mit „Stracciatella” mal wieder Lust auf Italien-Urlaub macht. Ganz am Ende gibt es mit „The One Shot (feat. Dr. Needles)” von Eva Be eine Hymne für die Impfzentren, die für viele aus der Clubszene im letzten Jahr nicht nur zur Einnahmequelle wurden, sondern auch zum Ort des Austauschs, des Treffens und der gemeinsamen Arbeit. Das spendete vielen Kraft und Zuversicht in schwierigen Zeiten.
Normalerweise sind es aber Orte wie die Paloma Bar, die in uns dieses Gemeinschaftsgefühl entzünden. Es bleibt zu hoffen, dass sie über die Krise hinweg erhalten bleiben. Chapeau für die Solidarität der Künstler*innen, die Arbeit der Organisator*innen und alle anderen, die einen aktiven Beitrag dazu leisten. Philipp Gschwendtner
Diverse – Peach Pals, Vol. 2 (Peach Discs)
Packt die Badehose ein, Peach Discs hat den zweiten Labelsampler veröffentlicht. Shanti Celeste und Gramrcy pflücken auf Peach Pals, Vol. 2 wieder Pfirsiche vom Baum der guten Techno-Hoffnung und machen Schnaps draus. Pfi-Pfi-Pfirsich-Party mit elf Friends, die Bock auf eine Gartenparty haben, dort aber nicht wie alte Fürze den Weber-Grill angaffen, sondern an zwei Technics-Plattenspielern rumeiern. Das Schöne daran: Alle dürfen mal ran, buen clima schiebt vegane Rippchen bei 150 Grad für neuneinhalb Minuten in den Kreisverkehr, Gramrcy glasiert den Dub mit einer Bassline, die angezuckerter rüberkommt als Oma Beimer nach dem dritten Likörchen und ISAbella zeigt 744 Handyfotos vom letzten Urlaub auf den Balearen her. Weil man nach der privaten Diashow zwei Kurze nachgießt, steigt die Stimmung – Jackson Ryland klopft mit „Hypnotherapy” den Bänger des Grillsaison raus. Mit Knopha zockt man Donkey Kong am emulierten Gameboy Color und überlegt, ob man sich die Zehennägel bei Vollmond schneiden oder mit tondiue doch warten sollte, bis Ninja Turtles mit Cowabunga-Vibes zur Schildkröten-Action aufrufen. Wie auch immer man sich entscheidet – wer mit diesem Sampler Sambuca sippt, verlängert die Sommersaison um sechs Wochen unterm Pfirsichstrauch. Christoph Benkeser
Diverse – Summer Sampler ’21 (Nous’klaer Audio)
Rotterdams Nous’klaer Audio veröffentlicht Musik seit 2013 und hat sich in den letzten Jahren zu einem der interessantesten Labels im weiten Feld von Post-Dubstep und Bass-Music aufgeschwungen. Mit dem Summer Sampler ’21 feiern die Niederländer*innen nun die 50. Veröffentlichung und gönnen sich zu diesem Anlass eine Doppel-Vinyl-Compilation mit acht Stücken. Neben wichtigen Labelacts wie Konduku, Oceanic und Pugilist feiern Djoser, Panda Lassow und Raff ihren Einstand auf Nous’klaer. Und die beiden Tracks von Kia und Floid sind sogar Veröffentlichungs-Debüts.
Floids „Pjee” gehört auch jenseits der Jubiläums- und Einstandsfeierei zu den Höhenpunkten der Compilation, das Stück fasst über gute sechs Minuten komprimiert zusammen, wo das Label, aber auch ein sehr großer Teil der Post-Post-Szene heute stehen (sollten): Jenseits von Vergangenheitsglorifizierung, jenseits von Glaubenskämpfen, jenseits von Genre-Grenzen. „Pjee” bollert wie ein Techno-infizierter Housetrack der zweiten Chicagoer Schule, bedient sich aber nicht am House-Baukasten für ausgebrannte Produzent*innen und strahlt stattdessen spätestens ab dem Breakdown zusätzlich ein unerwartet trippiges Krautrock-Feeling aus. Die erkennbarsten Drum’n’Bass-Gene trägt Kondukus „Extrakt” in sich, aber auch er verfällt nicht ins Abfeiern von bekannten Club-Stimuli, sondern erzielt den Effekt seines Tracks durch Reduktion im Arrangement und wohlüberlegte Selektion der einzelnen Elemente. Als Highlight der diesjährigen Nous’klaer-Sommer-Kollektion schält sich am Ende Raffs „Yeye” heraus: Ein energetisch pulsierender Breakbeat-Techno-Hybrid aus den dunklen Höhlen der seelischen Nacht. Dazu sollte nichts weiter als Stroboskop und eine Extraportion Nebel gereicht werden. Mathias Schaffhäuser
Tolouse Low Trax – Kiosque Of Arrows 2 (Bureau B)
Seit den frühen 1990ern ist der ehedem in Düsseldorf, heute in Paris ansässige Künstler Detlef Weinrich alias Tolouse Low Trax musikalisch aktiv. Zunächst als Mitglied der Band Kreidler, der er der Legende nach einst beitreten durfte, weil seine Plattensammlung so kurios war. Unter dem Pseudonym Tolouse Low Trax wurde er dann ab 2000 als Solokünstler bekannt. Dabei ist seine Plattensammlung noch delikater geworden. Das Hamburger Label Bureau B hat das erkannt und bat ihn, seinen außergewöhnlichen Musikgeschmack, der wesentlich das musikalische Profil der einst von ihm mitgeführten Düsseldorfer Club-Bar Salon Des Amateurs bestimmte, erstmalig mit einer Compilation zu dokumentieren.
Als großer Fan der belgischen Labels Les Disques Du Crépuscule und Made To Measure, dem seit 1984 auf Avantgardekomponist*innen spezialisierten Sublabel von Crammed Discs, ist Tolouse Low Trax immer noch verliebt in legendäre, jüngst erst neu veröffentlichte 1980er-Compilations wie From Brussels With Love oder Made To Measure Vol. 1. Zwei Sampler, die Genregrenzen überwinden, das Experiment schätzen und trotzdem stets raffiniert Pop verbreiten. So nun auch Kiosque Of Arrows 2 – ein mit elf Stücken versehener Sampler, der einer der stimmigsten des Jahres 2021 werden könnte.
Die Musik stammt größtenteils von Künstler*innen aus den 1980ern, wie dem in Barcelona beheimateten Experimentalprojekt Macromassa, der italienischen Minimal-Synth-Band The Stupid Set, japanischen Popsängerinnen wie Viola Renea oder Kaoru Hirose, DsorDNE aus Turin, Venus In Furs aus England oder der US-Amerikanerin Lydia Tomkiw, auch bekannt als ein Teil des legendären Minimal-Wave-Spoken-Word-Duos Algebra Suicide. Dazu zwei verwunschene Arrangements aus der französischen Gegenwart vom mysteriösen Project Bassæ und des Duos Iueke & Lippie. Dass die neuen Stücke exklusiv und die alten als B-Seiten oder One-Off-Samplerbeiträge schwer zu finden sind, versteht sich von selbst. Soviel zu den Fakten. Der Geniestreich liegt aber klar in der Atmosphäre, im Handlungsbogen, der einem nie in Hysterie verfallenden Tolouse-Low-Trax-DJ-Set sehr nahekommt. Ein stilvolles Schweben zwischen vernebeltem Jazz, droniger Dub-Elektronik, dramatischem Sprechgesang-Chanson, Italo-Liebeskummer, japanischer Pop-Avantgarde, waviger Pianoklassik und freier französischer Journey Music in der Tradition von Philippe Doray, Barney Wilen oder Théâtre du Chêne Noir. Tolouse Low Trax bringt all das ungeniert zusammen und webt nebenbei einen anziehend bunten Faden, der experimentelle Schwingungen charmant in Pop verwandelt. Michael Leuffen