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Juli 2021: Die einschlägigen Compilations

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and felt like… (Knekelhuis) 

Die Knekelhuis-Compilation and felt like… macht mit neun Beiträgen von Acts aus verschiedenen Teilen der Welt zum Thema, wie in Zeiten der Krise Gemeinschaft und kollaborative Kunst entstehen können. Sie gleicht einer Zeremonie, die Freundschaft zelebriert und die vielfältigen kulturellen Hintergründe in eine gemeinsame Sprache überführen möchte. Die ästhetische Richtschnur wird durch die Klangwelten von Brian Eno und dem kürzlich verstorbenen Jon Hassell gespannt. Diesen Spirit haben die beteiligten Künstler*innen offensichtlich gut absorbiert, denn das Ergebnis ist ein erstaunlich homogenes Album, das zwischen Ambient, Experimental und Spoken Word changiert.

Im ersten Track „L’Abete Al Contrario” enzündet Zeremonienmeister XIII die Räucherstäbchen und heizt das Chillum an. Betörende Saitenklänge, Holzblasinstrumente und pointierte Perkussion laden dazu ein, sich dieser Meditation voll und ganz hinzugeben.

Ike Zwannikens „Bianca” greift die Stimmung auf, ersetzt die organischen Instrumente aber durch eine synthetisch surrende Urwaldkulisse. Eine repetitive Melodie zieht sich durch den Track und webt mit einem leicht synkopischen Pattern das Netz für die sanften Vocals, die dem Track das Flair eines David-Lynch-Films verleihen. Die Klangkünstlerin Avsluta taucht auf „Mono No Aware” mit stark Echo-überladenen Vocals hinab in die Tiefe, bevor ein langsam einsetzender Beat sie wieder emporhebt. Das hat Seltenheitswert, denn die Rhythmus-Sektion kommt auf dieser Compilation nur ganz spärlich zum Einsatz. Etwa bei „Ayaz” von Yuma, wo sich der Groove fast zum einzigen Mal in den Vordergrund stellt. Von „T7KINI” von Bashar Suleiman feat. Olan Monk & Lil Asaf gibt es dann noch Mumble Rap aus Ägypten, allerdings ohne die Genre-typischen gestressten Hi-Hat-Patterns.

Der eigentümlichste und schönste Beitrag kommt vom niederländischen Ambient-Guru Michel Banabila: Der Track names „E.T.” entspannt wie ein Wiegenlied und betört wie der Gesang der Sirenen. Apropos Gesang: Das Album hat zwar viele gesungene respektive gesprochene Anteile, deren Inhalte eröffnen sich aber nicht unmittelbar. Entweder sind sie vom Hall zersetzt, kaum verständlich gemurmelt oder halt auf Schwedisch. Es lohnt sich aber vermutlich, genauer hinzuhören, da es vermutlich die ein oder andere wertvolle Message zu entdecken gibt.

Mark van de Maat hat es mit dieser Compilation geschafft, den ohnehin schon vielseitigen Katalog seines Knekelhuis-Labels um eine weitere Facette zu bereichern. Sie ist sowohl Hommage an die erwähnten Vorbilder Eno und Hassell als auch ein eigenständiges Kunstwerk, das einen gleichermaßen diversen und konsistenten Sound schafft. Philipp Gschwendtner

Cold Wave 1&2 (Soul Jazz) 

Es gibt doch noch ein paar universell gültige Gegebenheiten, an denen – komme was wolle – einfach nicht zu rütteln ist. Eine ist sicherlich die, dass niemand in dieser Regelmäßigkeit so exquisite Compilations hervorzaubern kann wie Soul Jazz aus London. Ganz egal, ob die Lupe auf obskuren Discoperlen, Oldschool-Funk, tanzbarem Tribal oder erlesenen Krautrock-Raritäten liegt, das Label aus der Broadwick Street in Soho besticht wieder und wieder mit dem perfekten Mix. Grundsolide Eckpfeilerstücke bekannterer Artists bilden hierbei ein einfach nicht zu erschütterndes Fundament. Stücke, die denjenigen, die in den jeweiligen Genres ein wenig bewandert sind, zumindest entfernt bekannt vorkommen dürften. Hinzu kommen dann weniger geläufige Artists, die mit Sicherheit jedoch immer eines sind: höchst hörenswert. Sollte man besser gleich allesamt in die Favoritenliste ziehen.

Auch Cold Wave Part 1 & 2 verlässt sich auf diese erfolgsbewährte Bauweise. Der Niederländer De Ambassade, der eigentlich Pascal Pinkert heißt und sich durch seine melancholischen DIY-Herzschmerz-Hymnen auf Knekelhuis große Bekanntheit erspielen konnte, ist genauso Teil dieser Bewegung – die, wie es der Name schon verrät, auf eiskalten Wave kontemporärer Artists ausgerichtet ist – wie beispielsweise das Duo Carcass Identity aus Belgien, bestehend aus Bear Bones, Lay Low und Matthieu Levet. Diese erschaffen mit ihren holprigen Maschinenbeats, Tape-Loops und Synthesizern einen hochkomplexen hypnotischen Sound, an dem sie schon über Jahre feilen und der vor kurzem erst in ihrem Debütalbum gipfelte. Schön ist auch, dass mit Lena Willikens und Tolouse Low Trax gleich zwei namhafte Vertreter*innen des Düsseldorfer Outsider-Establishments schlechthin, nämlich des Salon des Amateurs, mit an Bord geholt wurden. Beide gelten nicht ohne guten Grund als stilprägende DJ-Experten, wenn es um Wave geht. Und mindestens ebenso profund sind ihre eigenen Produktionen, die diese Compilation veredeln. Andreas Cevatli

Driving Blind Volume 2 (Les Yeux Orange)

Les Yeux Orange ist den Pariser*innen heilig. Mindestens so heilig wie Notre Dame. Oder die Zigarette zum Croissant. Das Label aus der französischen Hauptstadt wuchs vom YouTube-Kanal zum Dancefloor-Killer. Seit sechs Jahren spürt man Banger zwischen Disco, Electro und Glitzer-Flitzer-Tralala auf. Und backt Baguettes mit Starkstrom. Live. Auf der Tanzfläche. Mit Driving Blind Volume 2 schmeißt man sich zum zweiten Mal vom Eiffelturm, im Blindflug kreiselt man über die Seine und flatscht 23 Korkenzieher-Tracks auf die Champs-Élysées. Anatolian Weapons räumt unter dem Triumphbogen mit Acid auf, Rambal Cochet crusht Pillen in der Herrensauna, während Mogwaa anschließend runterspült. Tagliabue bleibt leider nur One night in Paris, Ali Renault knattert härter, als sein Nachname vermuten lässt und Binary Digit sieht die Sonne überm Louvre aufgehen. Egal, welchen Track man pickt. Es knallt. Und sorgt für Fun, Fun, Fun auf der Datenautobahn. Im Ernst. Wer nach der perfekten Summer-Compilation für zerstreute Nächte und verpeilte Tage am Badestrand sucht, findet in dem Label-Sampler von Les Yeux Orange nicht nur einen Heiland, sondern 23. Merci, merci! Christoph Benkeser

It Was Always There Volume 1 (3024) 

Martyns Label 3024 absolviert gerade das 15. Jahr seines Bestehens, hat also schon ein ordentliches Päckchen Erfahrung auf dem Buckel, aber natürlich toppen Covid-19 und alle damit zusammenhängenden Konsequenzen auch hier alles bisher Erlebte. Um nicht vor der Lähmung so vieler Kultur-Instanzen zu kapitulieren und in Apathie zu verfallen, entwickelte Martyn das 3024 Mentoring Programm zur Förderung von Musiker*innen aller Erfahrungsstufen, also nicht nur des produzierenden Nachwuchses, sondern auch bereits etablierter Künstler. Aus dieser Gemeinschaft entstand dann das Projekt It Was Always There, eine 28 Tracks umfassende Compilation, die diesen Sommer in drei Teilen veröffentlicht wird. Die musikalische Klammer bilden Breakbeats verschiedener Couleur, die Stimmung geht von zurückhaltenden Summertunes bis zu dem recht krachigen „Sibi” von ADG, das zu den Höhepunkten der neun Stücke auf Volume 1 gehört. Das folgende „Headrest” von Laurence Kapinga verbindet wunderbar selbstverständlich einen fordernden, punktierten Beat und Marimba-artige Sounds mit schwebenden Synth-Chords zu einer erstaunlichen Stimmungs-Mélange zwischen Chillout- und Primetime-Track. Spacig-softer Drum’n’Bass mit vertrauten Drumloops und morphenden Bässen kommt von White Transit Van, detailverliebt produzierter, dubbiger Breakbeat von Talik. Und Sobolik liefert mit „Like Like” die bleepig-positive Durchhalteparole. Mathias Schaffhäuser

James Bernard – Unreleased Works 1994-1999
(A Strangely Isolated Place)

Chill out. Der Begriff schuf eigene Club-Architekturen in genau jener Zeit, in der diese bislang unveröffentlichten Stücke des New Yorker Produzenten James Bernard entstanden sind. Nach den hart durchtanzten Wochenend-Nächten entstanden Räume zum willenlosen Abhängen. Dazu schwappte eine ebenso Ich-lose Musik über die Speaker, runtergedrosselte Breakbeats, raumgleiterhaftes Sirren. Bernard tummelte sich in den Clubs seiner Stadt, und auch er sah die Notwendigkeit des Liegens für die Tanzenden. Mit Athmospherics schuf er einen Ambient-Klassiker in jenem Jahr, ab dem die Stücke dieser Sammlung entstanden. Die bleepigen Tracks sind zusammengefasst unter „Acid Dreams”, alle anderen unter „Elemental Dreams”. Alle diese Träume sind sanft.

Die „Acid Dreams” hüpfen über leicht verhallte Downbeats dahin wie lächelnde Delfine. In ihren Funksignalen hallt noch das Raven nach, der ermattete Körper verlangt noch diese Rest-Energie. In den „Elemental Dreams” legt Bernard Kurzhörspiele an, die auch etwas anderes untermalen könnten als eine Szenerie am Fuße des Club-Eingangs. Diese Tracks sind daher auch zum Zuhause-Hören besser gemacht, sie evozieren Bilder, während die „Acid Dreams” besser vor Ort geträumt werden. Hörenswertes Dokument aus den Archiven. Christoph Braun

Now Thing 2 (Chrome)

Seit 2016 setzt der Londoner DJ Felix Hall als Resident bei NTS Radio einmal im Monat frische Akzente in Stilen wie Dancehall, Dub, Lovers Rock und anderen Spielarten des Reggae. Im selben Jahr kompilierte er für das vom britischen Grafikdesigner, Fotografen und DJ Will Bankhead betriebene Label The Trilogy Tapes Warning – ein Mixtape, das sein umfangreiches Wissen über die unendliche Welt der Riddims eindrucksvoll dokumentiert. Nach der Veröffentlichung eines weiteren Kassetten-Mixes für das japanische Label Cav Empt im Mai 2021 erschien nun auf seinem jungen Label Chrome Now Thing 2 – eine Compilation mit instrumentalen Dancehall-Spezialitäten aus den Jahren 1997 bis 2020, die sich als Nachfolger der Mo-Wax-Compilation Now Thing aus dem Jahre 2001 versteht. Die New Yorker Acid-House-Legende Bobby Konders steuert mit „Lickshot Rewind” einen trocken rollenden Dancehall-Stampfer bei und das extrem produktive, von 1988 bis 2009 aktive Produzentenduo Steely & Clevie zeigt mit „Bitter Blood”, wie Dancehall schon 1999 zeitgenössische Genres wie Footwork andeutete.

Neben führenden jamaikanischen Produzenten der betrachteten Zeitspanne wie Byron Murray, Dave Kelly oder Ward 21, die Dancehall-Stars wie Beenie Man, Capleton, Sizzla oder Vybz Kartel mit waghalsigen Riddims versorgten, bekommen auch unbekannte Künstler, Madd Spider etwa oder Crown Star Productions, ein Forum für Bassmusik, die mit minimalen Zutaten maximale Wirkung erzeugt. Der ebenfalls seit 1978 äußerst produktive jamaikanische Produzent Donovan Germain, kreativer Kopf hinter legendären Dancehall- und Reggae-Labels wie Revolutionary Sounds, Rub-A-Dub oder Penthouse Records, enthüllt mit seiner 140-BPM-Version des Aaliyah-Klassikers „Are You That Somebody”, im Original 1998 von Timbaland produziert, wie erhitzend eine einfallsreiche Fusion von Dancehall und Mainstream-Pop klingt. Eine bewegende Compilation, die abgerundet durch die Liner Notes des britischen Autors Lloyd Bradley, Verfasser des Reggae-Standwerks Bass Culture, einen knappen, mitnehmend angelegten Einblick in die jüngste Dancehall-Geschichte und ihre kompetitive Sound-System-Kultur gestattet. Michael Leuffen 

Splint (Noods Radio) 

Schwarz-weißes Cover, schwarz-weiße Musik: die zweite, limitiert auf 150 Kassetten und unlimitiert digital erhältliche Compilation des in Bristol beheimateten Radiosenders Noods präsentiert elf zwischen digitalem Synthwave und experimenteller Elektronik angesiedelte Tracks ihrer lokalen und internationalen Residents. Seit 2015 sendet Noods stilübergreifende Signale, die auch stets das aktuelle musikalische Geschehen aus Bristol spiegeln. Die erste Kompilation hieß Hypha und dokumentierte 2020 zeitgenössische Sounds aus dem Downtempo-, Dub- und Bassmusic-Kosmos des Senders. Nun dunkle Elektronik ohne viel Licht. Der mit ansteckenden Claps und wabernden Synthlines versehene Eröffnungstrack von Deep Nalström leuchtet zwar noch mit Neon-Sounds, doch schon im Anschluss trumpft das aus Barcelona stammende Duo Dame Area auf „Azione Reazione” mit düster-perkussivem Tribal auf. Dann verdreht die aus Bristol stammende Produzentin EBU mittels elektronisch verzerrtem Post-Punk die Sinne und der in Berlin ansässige Produzent Barking verteilt mit „Spinne” schattige Acid-Wave-Psychedelic. Künstler wie die Marokkanerin Sukitoa o Namau, deren „Uno” eher nach Musique concrète als nach Clubmusik klingt, oder Balouu, dessen „Crypto 3000” wie ein digitaler Soundtrack zu einem futuristischen John-Carpenter-Film wirkt, erweitern das musikalische Spektrum durch herausfordernde Experimente und verzerrten Italo-Pop-Kitsch. Dazwischen Musik von Salaċ oder ThisIsDA aus Bristol, die den Trademark-Sound eines Tolouse Low Trax fiebrig in digitalen Darknet-Electro verwandelt. Für trockenen Industrial-Funk sorgt dann noch Yokel aus Norwich, dessen „Sorgasm” dezenten kosmischen Glimmer aus der fesselnden Dark-Wave-Zone von Noods Radio sendet. Michael Leuffen

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