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konkrit: Das Ende ist jetzt – wir brauchen neuen Noise!

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Das Ende ist jetzt, techno is over. (Illustration: Kristoffer Cornils, konkrit-Logo: Nicoletta Dalfino)

Die Dancefloors stehen weltweit weiterhin überwiegend leer und die Stille ist ohrenbetäubend. Doch wird dabei nur ein bereits andauernder musikalischer Stillstand verstärkt. Techno war einst Noise, ästhetisch wie politisch unbequem und zukunftsgerichtet. Jetzt allerdings zeigt sich die Überflüssigkeit eines Genres, dessen Futurismus schon vor langem in einer permanenten Gegenwart aufgegangen und der darüber zum bloßen Verkaufsargument geworden ist. Höchste Zeit für eine Neuerfindung – Zeit für Noise, schreibt konkrit-Kolumnist Kristoffer Cornils.


Als Jeff Mills im Jahr 1992 sein Debütalbum Waveform Transmissions Vol. 1 veröffentlichte, presste er es absichtlich auf dünnem Vinyl. „Die konnte man nur ein paar Mal spielen, bis irgendwann nur noch white noise zu hören war”, sagte er im Jahr 2015 gegenüber Bjørn Schaeffner im Magazin Das Filter über die defizitären Schallplatten. „Da ging es um die Erinnerung. Ich wollte zeigen, wie wertvoll sie sind. Wer sich an nichts erinnert, hat kein richtiges Leben!” Das ist angesichts eines aktuell grassierenden Reissue-Wahns, der das Halfspeed-Mastering und 180g-Pressungen fetischisiert, um das vermeintlich Vergessene möglichst hochqualitativ erlebbar zu machen, von einer merkwürdigen Poesie. Es war auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine komplett bescheuerte Entscheidung. Das macht es umso schöner.

Mills ließ die Materialität des Trägermediums das musikalische Material überschreiben und tätigte damit die wohl radikalste künstlerische Aussage seiner Karriere. Sie stand ganz im Zeichen einer noch weiter reichenden Radikalisierung von Detroit Techno. Als Waveform Transmission Vol. 1 erscheint, wird die Rave-Bewegung gerade von der Massenkultur absorbiert und lässt das – insbesondere mit Blick auf den zentraleuropäischen Raum gesprochen – freimütig geschehen. 

Mills und andere Produzent*innen der sogenannten zweiten Detroiter Welle, vor allem das eng mit ihm verbandelte Kollektiv Underground Resistance, waren aber weder an der Anerkennung durch ein breites Publikum noch an der Verwertbarkeit ihrer künstlerischen Ideen interessiert. Ihr Techno sollte faceless, unkommerziell und dezidiert politisch sein. Es ging darum, neue Zukünfte entwerfen. Auch in diesem Sinne ist der von Mills in sein Debütalbum eingebaute Selbstzerstörungsmechanismus zu verstehen: Die Musik von heute sollte morgen nicht mehr als eine Erinnerung sein. Eine schöne vielleicht, aber eben nicht mehr als das. Denn es musste weitergehen.

Gut drei Jahrzehnte später allerdings wirkt der damalige Futurismus schal, weil Techno in seiner Vorwärtsbewegung zur Salzsäule erstarrt ist. Mills selbst wirkt etwas altbacken, wenn er hyperfokussiert am Instrument seiner Wahl zu jammen beginnt – die Roland TR-909 feiert schließlich auch bald ihren 40. Geburtstag. Wie viel Zukunft lässt sich aus diesem Kasten noch herauspressen? Mehr noch aber sind die Formen und Formeln der formativen Techno-Zeit zur Konvention geronnen. Was früher als radikaler Schock auf das Publikum einprasselte, außerirdischem Krach und Lärm gleich, das scheint heute zahnlos – ein Baustein in einer Musikgeschichte, die selbst die krassesten Klänge komplett normalisiert und schließlich domestiziert hat. Immer noch klingt sehr, sehr viel Techno genauso wie im Jahr 1992 und damit wie die Musik also, die Mills im white noise ertränken und der Vergangenheit anheim geben wollte.

Techno löst weder in ästhetischer noch politischer Hinsicht Schocks, erst recht keine „future shocks” mehr aus. Von denen hatte einst der Futurologe Alvin Toffler gesprochen, der maßgebliche Stichwortgeber für die erste Generation von Detroit Techno, die sich nach einer von ihm geprägten Phrase als „techno rebels” bezeichnete. Doch die Techno-Rebellion ist seit langem vorbei. Und das nicht nur, weil die künstlerische Herausforderung ans Publikum verschwunden ist. Sondern auch, weil die Musik absolute Warenform angenommen hat, völlig von einer Gesellschaft aufgesogen wurde, die sie eigentlich verändern wollte, von einer Ökonomie durchdrungen, der sie sich mit allen Mitteln – und sei es weißes Rauschen – entziehen wollte. 

Ein ganzes Genre ist bei 130 bis 140 bpm im rasenden Stillstand gefangen – eine historisch einmalige Situation, die alles aus den Fugen schleudert.

Wie Jacques Attali schon im Jahr 1977 in seinem Buch Bruits – dessen englischer Titel übrigens lautet Noise – festhielt, produziert Musik in erster Linie eine Nachfrage, nicht aber ein Angebot im klassischen Sinne der Ökonomie: Niemand brauchte jemals notwendiger Weise eine neue Beatles-LP mit der derselben Dringlichkeit wie der Kauf von Essen oder alle paar Jahre eines neuen Kopftopfs vonnöten ist. Was die Musikindustrie aber schon zu Attalis Zeiten perfektioniert hatte, war eine Form von Illusionsbildung, die dem Publikum weismachte, es sei für die eigene Identität unabdinglich, sich über Kulturprodukte zu definieren – Musik ist eine Ware, über die sich sowohl Punks wie House-Heads oder Jazz-Nerds vom Rest der Welt abgrenzen oder sich in ihr positionieren wollen. Dazu bräuchte es Musik eigentlich nicht, aber die Werbe- und Wirkmacht der Musikindustrie setzt genau darauf, dem Publikum vorzugaukeln, dass dies eben doch der Fall sei: Das Angebot reagiert nicht auf eine real bestehende Nachfrage, es produziert eine fiktionale, die wiederum in sehr reellen Kaufentscheidungen mündet.

So eben geschah es auch, als der harte Zweite-Welle-Techno zum neuen Maßstab wurde. Das heißt, dass Mills’ früherer Futurismus, der Gedanke von den kommenden unerhörten Sounds, unter den Händen seiner Adept*innen zu einem bloßen Wettbewerb um den nächstbesten, bisher ungehörten Tune verkommen ist. Der Crowd wurde das Gefühl vermittelt, sie müsste immer auf dem neuesten Stand sein, Clubnacht für Clubnacht die jüngste Veröffentlichung kennen. Musik war lediglich das Trägermedium, mit dem ein Lifestyle propagiert, verpackt und feilgeboten wurde. Doch resultierte diese (Über-)Produktion einer kurzfristigen Nachfrage in einer permanenten Gegenwart, welche sich vor die von Mills und seinen Zeitgenoss*innen erträumte Zukunft schob. Techno wurde in jeder Hinsicht zum unveränderlichen, das heißt letztlich toten Stil.

Und dennoch ist Dance Music im vergangenen Jahr angesichts kaum bespielbarer Dancefloors zum ultimativen Ladenhüter avanciert. Nicht, als wäre für die Produzent*innen in den letzten zwanzig Jahren viel dabei herumgekommen, das Geld daran verdienen paradoxer Weise schließlich andere. Ein ganzes Genre ist dennoch bei 130 bis 140 bpm im rasenden Stillstand gefangen – eine historisch einmalige Situation, die alles aus den Fugen schleudert. Umso hilfloser klingen die weiterhin den Markt überschwemmenden Techno-Tracks angesichts einer Gesamtsituation, in der von ihnen nicht einmal wirklich Gebrauch gemacht werden kann. Denn es gibt global betrachtet keinen nennenswerten Markt, auf dem sich Nachfrage produzieren ließe. 

In Vietnam, in Thailand, in China, in Australien oder Neuseeland und anderswo könn(t)en derzeit zwar Raves stattfinden, werden vermutlich auch hier und dort in illegalen Settings die neuesten Tools am lebenden Objekt ausprobiert. Oder sie werden in mal mehr, mal weniger professionell aufgestellten Live-Streams in diesem leerstehenden Club oder vor jener imposanten Bergkulisse der Crowd auf die Laptop-Boxen geschickt. Doch wie sich das Gros der internationalen Szene darüber einig scheint, dass ein Facebook-Stream das Cluberlebnis nicht ersetzen kann, so zeigt sich vielleicht auch, dass Techno womöglich ersetzt, das heißt der Erinnerung anheim gegeben, von white noise ausgelöscht werden sollte.

Nur wie? Und wie könnte dieser Noise denn klingen in einer Zeit wie der unseren? Und was ist das eigentlich: Noise?

Noise als Widerstand, Noise als Waffe

Die Diskussion um Noise verdankt sich einer semantischen Besonderheit des englischen Begriffs, die in anderen Sprachen nicht ohne Weiteres gegeben ist. Während im Deutschen von „Lärm” und „Krach” oder, ungenügender, „Geräusch” die Rede sein muss und sich white noise schlicht als „weißes Rauschen” übersetzen lässt, hat das Wort in der englischen Sprache eine Mehrfachbedeutung, auf der mittlerweile ein ganzer Wissenschaftszweig eine Forschung hat aufbauen können. Parallel zu den Sound Studies hat sich eine Art Noise Studies etabliert. Deren bisherige Forschungsergebnisse hat David Wallraf in Grenzen des Hörens. Noise und die Akustik des Politischen konzise zusammengetragen.

Der Hamburger Noise-Künstler fasst in seiner kürzlich erschienenen Dissertationsschrift jedoch nicht nur den Debattenstand zusammen, sondern problematisiert genauso, was Noise in ästhetischer wie eben auch politischer Hinsicht bedeuten kann. Dazu schreibt er genauso über  Noise-als-Genre und dessen logische und letzte Konsequenz – Harsh Noise Wall, also undynamischer, blockartiger Krach, im Grunde wie eine tausendfach abgespielte Waveform Transmissions Vol. 1 klingen würde – wie auch über physikalische und soziale Fragen: Wie Frauenstimmen als lärmend stigmatisiert werden, wenn sie sich erheben, oder wie untere Klassen und als fremd markierte Mitglieder einer Gesellschaft als krachmachende Störenfriede deklassifiziert werden beispielsweise.

Damit entfaltet Wallraf ein politisches Panorama von Noise. Dessen widerständiges Potenzial liegt auch mit Blick auf die Geschichte der Dance Music auf der Hand. So wie die zweite Welle von Detroit Techno mit ihrem Noise gegen die Aneignung vom “Good Life”-Techno durch den Mainstream mit einem noch krasseren Sound und einem schlechter kommerziell verwertbaren Auftreten demonstrierte, so wurde genauso der queere Disco-Sound der sechziger und siebziger Jahre hin bis zum sogenannten Disco Demolition Night als fremdartig und oberflächlich, als unmusikalisch und also lärmend verworfen. Disco war, so paradox das in musikalischer Hinsicht klingen mag, aus sozialen und politischen Gründen Noise.

Lo-Fi-House wurde ein Seller und verglühte als kurzzeitiger Hype, EBM-inspirierter Techno, Gabber und Jungle suhlten sich gleichermaßen in ihrer Vorgestrigkeit, wie sie als Sound der Stunde gefeiert wurden.

Wie sich an diesem Tag in Chicago nämlich zeigte, packten die überwiegend weißen Teilnehmer*innen der „Disco Sucks”-Bewegung die Gelegenheit beim Schopfe, um genauso Blues-, Jazz- oder Soul-Platten zu verbrennen – schwarze Musik, im Großen und Ganzen, war die eigentliche Zielscheibe der Ablehnung, wie es zuvor schon bei den Nazis der Fall gewesen war, die Swing und Jazz gemeinsam mit Dadaismus und den Werken jüdischer Schriftsteller*innen als „entartete Kunst” deklarierten. Dass diese Kunstformen und die dahinterstehenden kulturellen Strukturen und sozialen Mobilitätsansprüche als Gefahr auf einen bestimmten hegemonialen way of life – die heterosexuelle weiße Leitkultur – gesehen wurden, untermauert im Rückblick ihr Noise-Potenzial.

Doch ist Wallrafs von poststrukturalistischen Theorien geleitete Analyse der sich an der Schnittstelle beziehungsweise dem Mit- und Gegeneinander von Musik und Noise bewegenden politischen Machtverhältnisse keineswegs einseitig. Auch geht es darum, wie mit Noise bestehende Machtstrukturen und Hierarchien zementiert und verteidigt, wenn nicht sogar ausgebaut werden können. So schreibt er genauso über den Einsatz von Noise als Waffe, von krachiger Musik als Folterinstrument und darüber, wie etwa am Hamburger Hauptbahnhof klassische Musik eingesetzt wurde, um Junkies zu vertreiben – in der Annahme, die würden sich an dieser Art von Noise so sehr stören, dass sie den Platz räumen. Geklappt hat das nicht, wie auch die gesamte Geschichte von Noise, selbst in seiner widerständigen Form, immer eine des Scheiterns ist.

Womit wir wieder beim Thema wären: Selbst der Radikalismus von Mills wurde schnell kommodifiziert und damit sinnentleert, sogar zum neuen Standard erhoben. „Wenn Musik im weitesten Sinne als eine Ware im Marktsegment der Unterhaltung oder der Kulturindustrie angesehen wird […], dann ist die effektivste Abgrenzung eine ästhetische Praxis des Auditiven, die nicht nach ihren Regeln funktioniert – sowohl ästhetisch als auch ökonomisch”, notiert Wallraf. „Dabei ist nicht zu ignorieren, dass Noise sich aus einer Logik des Musikalischen selbst, aus seiner Geschichte, seiner Praxis und seinen sozioökonomischen Zusammenhängen entwickelt hat.” Kurzum: Wer sich einst eine Waveform Transmissions Vol. 1 gekauft hat, tat das der Musik wegen, auch wenn sich diese selbst auslöscht. Das heißt letzten Endes, dass Noise der Musik und denen in ihr enthaltenen und von ihr widergespiegelten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen nicht entfliehen kann, sondern sich angesichts ihrer immer wieder neu positionieren muss.

Es braucht also in der Geschichte eines jedes Genres den white noise, der alles Ständische und Stehende verrauschen lässt – ein Tabula Rasa. Offenbar ist genau jetzt ein passender Augenblick gekommen. Doch wie lässt sich ein neuer Noise in der zeitgenössischen elektronischen Musik denken und, wichtiger noch, realisieren?

Die vermeintliche Peripherie verschafft sich im angeblichen Zentrum Gehör

In den vergangenen Jahren gab es neben sehr vielen Retro-Bewegungen in der Welt der Dance Music auch das eine oder andere widerspenstige Phänomen zu beobachten. Cristina Plett leitete im Jahr 2016 in ihrer Analyse des damaligen Lo-Fi-House-Trends dessen Ursprünge aus einer Anti-Haltung gegenüber der Deep-House-Dominanz der frühen Zehnerjahre ab. Die verrauschte und also noisige Musik positionierte sich ästhetisch gegen den überslicken Sound, der zu dieser Zeit die Beatport-Charts anführte und persiflierte mit ihren Referenzen auf Memes und Internetkultur zumindest implizit die nach außen getragene Ernsthaftigkeit der dahinterstehenden Attitüde. Ähnliches lässt sich mit Blick auf die vielen roughen, von EBM und Industrial beeinflussten Techno-Produktionen sagen, die ungefähr zur selben Zeit gegen die hochglänzende Farbenfrohheit von EDM ein neues (aber im Grunde sehr altes) Verständnis von Techno als Underground-Kultur behaupteten. Oder von den Comebacks von Gabber und Jungle Mitte bis Ende der Zehnerjahre, die jeweils diesem Trend wiederum etwas noch Härteres oder rhythmisch Komplexeres entgegenzustellen schienen.

Doch wie jeder Noise sich aus der Geschichte und den musikalischen Codes der Vergangenheit herschreibt, so fielen auch diese rebellischen Gesten weitgehend in eine Nostalgiefalle, die auf ästhetischer Ebene alle (szene-)politischen Ansprüche nivellierte. Lo-Fi-House wurde ein Seller und verglühte als kurzzeitiger Hype, EBM-inspirierter Techno, Gabber und Jungle suhlten sich gleichermaßen in ihrer Vorgestrigkeit, wie sie als Sound der Stunde gefeiert wurden. Was indes heutzutage Noise sein soll, muss die Vergangenheit viel radikaler überschreiben. So wie es Mills‘ Schallplatten es taten, um von dort aus weiterzumachen.

Als im Januar dieses Jahres SOPHIE überraschend verstarb, kam kaum ein Nachruf drum herum, auf den visionären künstlerischen Ansatz zu pochen, der SOPHIEs Musik eingeschrieben war. Von den Strukturen der Tracks hin zu den einzelnen Sounds, die darin Verwendung fanden: Alles an dieser Musik brach bestehende Konventionen auf. SOPHIE arbeitete zwar in the box, dachte aber außerhalb von dieser Pop- und Clubmusik grundlegend neu. 

Doch reicht das schon aus, um diese Musik zu widerständigem Noise zu adeln, SOPHIE das Prädikat „techno rebel” zu verleihen? Einer Person, die ihre Musik immer schon – und sei es auch als vapourware in Form eines Doppeldildos – immer explizit in Warenformen konzipierte? Die zwar reihenweise mit Underground-Artists zusammengearbeitet hat, im selben Zug aber genauso Mainstream-Stars dazu verhalf, ihren Sound kosmetisch aufzuhübschen? Wohl eher nicht. Alle Lesarten, die darin eine eigentlich kritisch motivierte Hyperaffirmation von Kommerz-Pop sehen wollen, müssen sich schon sehr anstrengen. Auch wenn dieser Anspruch zweifellos zu viel von einer Figur verlangt, die durch ihre bloße Identität wie auch ihre Kunst Gender-Normen genauso auseinanderlegte wie Viervierteltakte: Die Rebellion gegen die festgefahrenen Strukturen der Musikindustrie blieb in jedem Fall aus.

Die vermeintliche Peripherie der Dance-Music-Welt verschafft sich zunehmend in dessen angeblichem Zentrum Gehör. Die Konsequenzen könnten ein kulturelles wie gesellschaftliches, das heißt zwingend auch politisches Umdenken mit sich bringen.

Womöglich weist der bloße Blick auf die Popstars und Top-Produzent*innen dieser Welt sowieso einen blinden Fleck auf. Denn wenn von Dance Music im Allgemeinen gesprochen wird, dann ist im Speziellen immer nur das gemeint, was im Austausch von Nordamerika und Europa passiert – spätestens seit dem Aufkommen  von Acid House in Chicago und seiner Kommodifizierung als Lifestyle auf Ibiza und in Großbritannien besteht diese Achse. Sie hat sich erst in den vergangenen Jahren etwas aufgeweicht, als Genres wie Gqom aus Südafrika mit Umwegen über Großbritannien ihren Weg auf nordamerikanische und europäische Dancefloors fanden, als chinesische Labels wie Svbkvlt und Absurd Trax oder afrikanische Kollektive wie Nyege Nyege sich plötzlich dank verbreiterter und manchmal gar alternativer Distributionswege – vulgo: des Internets – auch über die eigenen sozialen und geografischen Kreise hinaus Gehör verschaffen konnten.

Darin liegt nun mehr denn je eine Chance. „Noise kann ‚das Andere der Musik‘ nur in dem Sinne sein, dass es einer bestimmten Auffassung von Musik zuwiderläuft”, schreibt Wallraf, und das lässt sich genauso auf ein verhärtetes Verständnis von dem übertragen, was Dance Music im Kern sein soll: Irgendwo bei 90 bis 160 bpm angesiedelt, meistens im Viervierteltakt, ein Miteinander von Kick, Snare, Hi-Hats, Melodie und Harmonie. Musik, die sich allerdings aus anderen Verständnissen als dieser westlich verorteten Auffassung herschreibt, wird quasi automatisch als Noise rezipiert und dementsprechend politisch aufgeladen. Singeli schließlich klingt nicht nur deswegen krasser als Gabber, Dabke nicht deswegen aufgekratzter als Acid House, weil mehr Beats pro Minute und Töne pro Sekunde zu hören sind – sondern weil es sich um ein kulturell anders kodiertes Verständnis von Musik handelt. So wie einst Disco den Popsong dadurch zerstörte, indem es ihm die Dynamiken nahm und den Fokus auf den stampfenden Beat legte – und damit nebenbei auch neue soziale und politische Strukturen ankündigte.

Die vermeintliche Peripherie der Dance-Music-Welt verschafft sich also zunehmend in dessen angeblichem Zentrum Gehör. Die Konsequenzen könnten ein kulturelles wie gesellschaftliches, das heißt zwingend auch politisches Umdenken mit sich bringen: Dance Music begriff sich immer schon als international, doch ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem sie das über Chicago, Detroit, Berlin und London hinaus beweisen sollte.

Schocktherapie im Stillstand

Es ist insofern spannend, dass – mit Ausnahme von Australien und Neuseeland – die Dancefloors vor allem im Westen stillstehen und Techno, also Dance Music in einem sehr speziellen Verständnis allgemein, nicht nur künstlerisch, sondern auch wirtschaftlich am Ende ihrer Verwertbarkeit angekommen ist. Klang beispielsweise die neue Clubmusik aus China schon vorher über Gebühr futuristisch, tut sie dies nun umso mehr, weil sie dort in der Gegenwart nicht nur als Soundtrack eines bestimmten Lifestyles verkauft, sondern auch aktiv gelebt werden kann. Das verleiht ihr automatisch ein Noise-Potenzial, weil sie im Kontrast zum hiesigen Status Quo steht und die althergebrachte Dominanz westlicher Dance-Music-Auffassungen auf den Kopf zu stellen droht.

Auch das würde freilich nicht von Dauer sein, wie auch Wallraf argumentiert. „Noise als ein umfassendes Konzept von ästhetischer Praxis, Lärm, Rauschen, Überschreitung etc. lässt sich niemals total realisieren”, schreibt er. „[E]s kann höchstens für die Dauer eines schockierenden und ekstatischen Moments Gestalt annehmen.” Im Moment eines kulturellen und wirtschaftlichen Stillstands in den alten Epizentren von Techno allerdings ist genau die Zeit gekommen, sich diesen Schocks und dieser Ekstase – woher sie auch kommen – zu öffnen. Und die Vergangenheit mit weißem Rauschen zu überfluten, als schöne, manchmal aber auch schmerzhafte Erinnerung in den Hinterkopf zu verbannen.

Das Ende ist jetzt, techno is over. Schade auch. Aber immerhin: Die neuen Schocks, sie können kommen. Und selbst danach wird es weitergehen müssen. 

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