Bézier – Coto de Caza (MIV)
Seit rund zehn Jahren tritt Robert Yang unter seinem Künstlernamen Bézier in Erscheinung. Als frühes Mitglied der Honey-Soundsystem-Crew hat der taiwanesisch-amerikanische Producer sich mit Veröffentlichungen auf HNYTRX, Dark Entries, Public Release, Jacktone, Break-Up und Cin Cin ein bemerkenswertes Standing erworben. Nach mehr als einer Dekade in der Bay Area pendelt Yang seit 2018 zwischen San Francisco und Berlin. Auf eine Split-EP mit Vin Sol folgt nun der erste komplette Bézier-Release auf seinem noch jungen Label miv, kurz für „mémoire involontaire” (unfreiwillige Erinnerung). Tatsächlich knüpfen die vier Tracks auf Continuum direkt an seine zwischen Leftfield Techno, Electro und Dark Disco oszillierenden Produktionen der vergangenen Jahre an, wobei Yang hier die dunkleren Facetten seines Soundentwurfs betont. Dass IDM-Acts wie Autechre, Plaid oder Squarepusher ihm die Tür zum Kosmos der elektronischen Musik geöffnet haben, scheint in Form einer dezidierten Affinität zu Industrial- und EBM-Klängen hier besonders deutlich durch. Halb Detroit, halb Miami, empfiehlt sich der von gleißenden Synthesizer-Stabs getriebene Titeltrack als Anwärter auf die John-Carpenter-Gedächtnis-Medaille. Harry Schmidt
Paris Brightledge – Deep In My Soul (Clone Club Series)
Manche Leute werden mit nur wenigen Songs für ein paar Dekaden lang praktisch unsterblich. Paris Brightledge, eine der prägenden House-Stimmen der frühen Chicago-House-Jahre, ist ein gutes Beispiel dafür. Sein Conscious-House-Song „It’s All Right”, produziert von Sterling Void, war erst ein weltweiter Clubhit. Nachdem die Pet Shop Boys den Titel coverten und als Single veröffentlichten, eroberte er die internationalen Charts. In den späten Achtzigern erschien mit „Learn to Love” noch eine weitere wichtige Single von ihm auf DJ International, dann verschwand Brightledge für 20 Jahre. Zuletzt war der Sänger aus Chicago vermehrt als Kollabo-Künstler zu hören. Seine neue Single Deep in My Soul klingt nach den frühen Deep-House-Tagen, die Paris Brightledge vor mehr als 30 Jahren mitprägte. Erschienen ist sie auf dem Rotterdamer Label Clone, das seine Sache mal wieder gut gemacht hat.
Zunächst könnte man meinen, wir wären in der Golden-Era-Revival-Welt von Defected, ein Remix von Marshall Jefferson ist nämlich auch vertreten. Jener war einst der Produzent, für den irgendjemand den Terminus Deep House erfunden hatte. Mit „Open Your Eyes”, „Dancing Flutes” oder Ten City erklomm er damals ein Level, das über die Schlichtheit früher Chicago-House-Produktionen weit hinausging. Doch schon in den Neunzigern war sein Zauber verflogen, allenfalls trat er noch auf von Tabakkonzernen gesponserten DJ-Tourneen in Erscheinung. Auf dieser Platte, die im Jahr 2021 erscheint, ist ein wirklich guter Remix von ihm zu hören – eben auch, weil der Song von Paris Brightledge durchaus magisch ist. Und wem da noch nicht reicht: Einen Remix der Def-Mix-Legende Eric Kupper gibt’s hier noch als Bonus. Holger Klein
Two Shell – SoulCity EP (Livity Sound)
Mit gerade einmal vier EPs und einer Mix-CD ist das britische Duo Two Shell schon einigermaßen weit gekommen. Hatte etwa ihr Track „N35” aus dem vergangenen Jahr gefangenenfreien Dubstep-Hymnen-Charakter, bewegen sich die zwei Londoner Produzenten auf ihrer aktuellen SoulCity EP inzwischen stärker auf der Tangente von Dubstep und Techno. Die Klänge digital abstrakter, die Strukturen rhythmisch noch etwas unauffälliger mit ihren Synkopen ineinander verwoben, hat sich ihr Ansatz in erster Linie verfeinert. Auch mit den Stimmen-Samples gehen sie diesmal zurückhaltender um, mit gleichwohl großem Erfolg wie im abschließenden, mehrere Steigerungsphasen zündenden „Speedrun”. Wie sie überhaupt bei laufendem Betrieb gern die Richtung wechseln. Vier Tracks, die entschieden fordern, dass man sich zu ihnen bewegt. Tim Caspar Boehme
Vein Melter – When You Feel It / Pump The Bass (La Bella di Notte)
Viel haben Harald Blüchel alias Cosmic Baby und Jürgen Stöckemann alias Jonzon nicht gerade zustande gebracht, als sie von ihrem gemeinsamen Projekt mit Christian Graupner, Futurhythm, abtrünnig wurden und sich als Vein Melter neu aufstellten. Zu mehr als zwei EPs in den Jahren 1992 und 1993 reichte es nicht. Nachdem Hypnotized sich noch recht originalgetreu an den Chicagoer Blaupausen von Acid House orientierte, gaben für die beiden Tracks „When You Feel It” und „Pump the Bass” schon eher Frankfurt und Berlin die Ästhetik vor: hart, schnell, maximal säurehaltig. Das vom italienischen Label La Bella di Notte verantwortlichte Reissue der bei Discogs hoch gehandelten Single mag von einem Auftritt des verträumten „When-You-Feel-It”-Remixes bei einer Ausgabe des Electronic Beats Blind Test angestoßen worden sein. Auch wenn von Alan Oldham hin zu Tanith und Ellen Allien niemand der Name des Tracks oder des Projekts einfiel: Allein das Grinsen einer Monika Kruse bewies, dass die Erinnerungen an die Musik nicht geschwunden sind.
Tatsächlich schlagen die zwei wie im Original jeweils durch einen Remix flankierten Tracks genau in die Kerbe, die in den Prä-Pandemiejahren äußerst beliebt war. Das Original von „Pump the Bass” schließlich bordert an Gabber, und auch der zum Rhythm-Track umgemodelte Remix wäre zwar nicht bei der Herrensauna, wohl aber bei Ghetto-House-Revival-Partys bestens aufgehoben gewesen. Und während es sich bei „When You Feel It” um einen noch recht klassischen Acid-Track mit dezent hochgeregeltem Tempo handelt, so ist der fast schon balearische, auf einem Backbeat balancierende Remix einer dieser zeitlosen Klassiker, der eine halbe Stunde vor Putzlicht nochmal den Serotoninpegel anhebt und die milchsaure Wadenmuskulatur reaktiviert. Nein, viel haben Vein Melter nicht zustande gebracht, es reichte aber für die gerechtfertigte Legendenbildung völlig aus. When You Feel It / Pump The Bass ist ein essentieller Baustein der hiesigen Rave-Geschichte. Kristoffer Cornils
ZULI – ALL CAPS (UIQ)
Tabula Rasa, leeres Blatt, alles auf Anfang – der heißeste ägyptische Soundexport seit jemand sein Mikro in die Sahara gehängt hat, musste für ALL CAPS nochmal von vorne beginnen. 2018 fladerte irgendein piece of shit ZULIs komplettes Equipment. Der Schaden wurde crowdgefundet, die Tracks waren gone. Ziemlich beste Scheiße für einen Producer, der gerade auf Lee Gambles Label UIQ krachte und für dessen Album Terminal sich die Silberrücken-Gang in den Musikredaktionen den Schritt prophylaktisch mit Vaseline auskleisterte.
Beduinen-Sounds, elektronische Musik, Distinktionsgefahr in den Feuilleton-Spalten! ZULIs Mukke schepperte bald in Sets von Aphex Twin und Machine Woman. Der Hype war real. Und dann: Nix, nada, futschikato! Für ALL CAPS hat sich der Mann aus Kairo neu positioniert. Die Geschütze in Position zu bringen, braucht Kraft. Die Amen Breaks so lange zurecht zu schnippeln, bis sie den Gear-Dieb mit großkalibrigen Bassboxen zerfetzen, eben auch. Die Beats stolpern zwischen Jungle und Footwork herum, schmieden Pläne für den Überfall und greifen an. Mich. Dich. Alle, die jemals gedacht haben, dass ZULI mit ein paar Körnern Sand im Maschinenraum aufzuhalten wäre. Christoph Benkeser