Nach dem 10. Dezember erscheinen so gut wie keine Techno-Maxis mehr. Deshalb nehmen wir uns bei den Platten der Woche in dieser Zeit Musik vor, die sonst in der GROOVE kaum vorkommt. In der letzten Woche haben wir in einem Roundtable essenzielle Indie-Alben des vergangenen Jahres abgehandelt, nun sind Hip Hop, R’n’B und Trap an der Reihe. GROOVE-Veteran Andreas Hahn stellt euch fünf Tracks vor, die in den letzten zwölf Monaten Autoradios und TikTok-Trends dominiert haben. 

Dabei hat sich Hahn einen Twist ausgedacht: Er erzählt die Geschichte der Gassenhauer des vergangenen Jahres anhand ihrer Samples. Diese Samples halten nicht nur das Erbe der afroamerikanischen Musik lebendig, sie berichten auch vom Rassismus, den die betreffenden Musiker*innen zu erleiden hatten. Ebenso erzählen sie von den ökonomischen, kulturellen und nicht zuletzt technischen Bedingungen, die die Songs geprägt haben. 

Jay Electronica feat. Jay-Z & The Dream – „Shiny Suit Theory”

Wer heute noch musikalische Abenteuer erleben will, muss sich ins Archiv begeben. Mitte der 1990er war Hip Hop das große Abenteuer, das Gold schien auf der Straße zu liegen. Die Maschinen waren neu, wohlfeil und fett, und klangen auch so. Jay-Z hatte gerade damit begonnen, die Welt zu erobern (sein Debütalbum erschien 1996 und war ein gewaltiger Hit, dennoch stand er nicht mal sofort in der ersten Reihe). Heute wirkt er wie ein Überbleibsel jener Epoche. Sein Schützling Jay Electronica verspricht schon seit einem Jahrzehnt, ein ebenso leuchtender Stern zu werden, spielte aber stattdessen lieber den tibetanischen Mönch, den Prediger der reinen Lehre und ähnliche Nebenrollen.

Höchste Zeit also, etwas fürs Selbstbewusstsein wie auch fürs Bankkonto zu tun. „Shiny Suit Theory” ist nun eine Art zusammengedampfte Psychotherapie-Session. „I’m sailing on a cloud, they trailing below/ My shrink told me/ It’s a feeling they’ll never know/ I pack up all my sins and I wear ’em to the show”, rappt er da. Diese Session führt direkt zurück in die rauschenden Lo-Fi-Neunziger. Die Rhymes klingen, als würden sie durch ein Telefon gespuckt, das schon Sigmund Freud hätte benutzt haben können, und der Beat besteht lediglich aus einem abgehackten Loop. Das Sample ist so kurz wie euphorisierend. Und es ist legendär. Es sind ersten Takte des Intros für „Ain’t Got The Love Of One Girl” von The Ambassadors. Dieses Stück erschien 1969 und markiert so etwas wie die Anfänge des Philly Funk. Die Single war mal rar und teuer. Noch wichtiger aber: Pete Rock benutzte es 1994 in elaborierterer Form für den Beat von „I Got A Love”, eine der großen Hymnen dieser Zeit. Damals klang das Sample weitläufig und luxuriös. Nun klingt es, als käme es aus einem Kellerloch, als hätten die Neunziger über eine überbelegte Leitung angerufen. Multimillionäre melden sich noch oder wieder aus dem Kellerloch. Wie Dostojewski, wie Ralph Ellison. Es macht sie fast verrückt. „Quack said I crossed the line between real life and fantasy”, rappt Jay-Z sozusagen als Ergebnis der Therapiesession. Es ist die paradoxe Position der „Shiny Suit Theory” selbst – zwischen Kellerloch und Grammy Awards. Am Ende des Tracks kommentiert eine Stimme aus der Tiefe des Archivs, die verdächtig nach der von Barbara Mason klingt. „You have no idea of how I got this way”, klagt sie. Barbara Mason hatte 1969 das Stück für die Ambassadors schließlich geschrieben. So schließt sich der Kreis.

Drakeo the Ruler (Prod. by JoogSzn) – „Backflip Or Sumn

Einer Telefonleitung verdanken sich auch die Rhymes von Drakeo The Ruler auf seinem eben darum Thank You For Using GTL getauften Album. Drakeo sitzt unter Mordverdacht im LA County Jail und ist als Mitglied in einer kriminellen Organisation angeklagt. GTL ist das Telekommunikationsunternehmen, das in Kalifornien unter fragwürdigen Bedingungen und (mutmaßlich absichtsvoller) technischer Mangelhaftigkeit auf dem lukrativen Knasttelefonmarkt ein Quasi-Monopol hat. Thank You for Using GTL ist das corporate soundbite, das nun wie zum Hohn die Beats von Produzent JooSzn begleitet, während sich Drakeos Stimme dahinschleppt, als käme sie von einem anderen Planeten. Im Knast träumt er von den akrobatischen Verrenkungen der Tänzerinnen in einem imaginären Stripclub. Ein gelooptes italo-folkloristisches Mafiafilm-Gitarrenlick evoziert die guten alten Zeiten der kalabrischen Ndrangheta, aber die Bassdrum wummert aus neuen ungeahnten Tiefen. Moderne Maschinen kämpfen gegen alte an, während eine größere, mächtigere Maschine Wache über alle und alles Wache hält.

21 Savage & Metro Boomin – „RIP Luv”

Das E-Piano, das klingt, als stünde es in einem Spukschloss auf dem Saturn, stammt in Wirklichkeit aus dem Intro eines sanft gespenstischen Spätsiebziger-Soul-Songs – „Mixed Up Moods and Attitudes” von den Fantastic Four, eine der vielen Vokalgruppen aus Detroit, die nicht auf dem Motown-Label waren und entsprechend nur lokal begrenzten Erfolg hatten.

Produzent Metro Boomin moduliert das Sample fast bis zur Unkenntlichkeit. Aber nur fast. 21 Savage kann die 70er-Melancholie als dunkle Spur des Archivs für seinen Grabgesang auf „die Liebe” (eine bestimmte oder die ganz große allgemeine) schließlich gut gebrauchen. Sie bekommt nur einen unheimlichen eiskalten Ton verpasst. Der Ton, aus dem die noch nicht ganz zugeschaufelten Gräber gemacht sind, aus denen vielleicht bald die Gespenster neuer Lieben steigen werden.

Cardi B feat. Megan Thee Stallion – „WAP”

Der programmatische Chant – „There’s some whores in this house” – stammt noch aus einer der notorischen Miami-Bass-Stripclub-Hymnen aus den frühen 1990ern, die als ebensolche so gigantische popkulturelle Relevanz haben wie etwa das Gegröle im Fußballstadion (das es noch bis zum vergangenen Frühjahr gab). Pure Clubmusik einerseits, Volkes Stimme andererseits. Pop im emphatischen Sinne. Miami Bass war eine krude Sache. Eingängig, formelhaft und brutal.

Und nun klingt die Bassdrum so tief und beunruhigend, wie der schlimmste Absturz in Miami es sich nicht einmal abbilden könnte. Wer anders als Cardi B sollte darüber thronen dürfen. In einer majestätischen Aneignung dessen, was wahrscheinlich einmal der Soundtrack der Prostitution war.

KeiyaA – „Rectifiya”

Was ist Soul? Eine Stimme mit einer Roland 404? Live spielt KeiyaA mit ihrer 404 wie mit einem Orchester im Reagenzglas. Nostalgiker*innen bekommen feuchte Augen. Chicago Soul wie aus neuen Kellerlöchern. Etwas schwirrt und scheppert, verschleppt und unterbricht sich, und treibt dennoch unablässig die Euphorie einer Stimme voran, die zwar die Tradition gut, vielleicht zu abgeklärt gut kennt, aber zugleich unverschämt jung klingt. So unverschämt, als hätte es so etwas nie gegeben. Es ist die Sparsamkeit des Schepperns, das dem unverschämt Jungen so gut bekommt. Die Sparsamkeit der Maschinen, die an die Stelle der Orchester getreten sind, die früher die Stimme beispielsweise einer Barbara Mason begleitet hatten. Orchester passen schwerlich in Kellerlöcher, aber die Kellerlöcher beherbergen die Sterne. Heute wie damals.

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